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Regierungserklärung von Bundesaußenminister Steinmeier zu Afghanistan
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf die Botschafterin Afghanistans begrüßen, die diese Debatte von der Tribüne verfolgt.
Vor einigen Wochen bekam der zivile Leiter unseres Wiederaufbauteams in Faizabad Besuch von den Dorfältesten und dem Mullah aus einem Gebirgsdorf in Badakhshan, dem nordöstlichsten Teil Afghanistans. Drei Tage waren die Männer unterwegs: zu Fuß, mit Eseln und das letzte Stück im Sammeltaxi.
Sie fragen sich sicherlich: Wofür drei Tage? Diese Abordnung aus dem Dorf kam bei unserem Wiederaufbauteam an und bat um Unterstützung beim Bau einer Jungen- und Mädchenschule. Der Leiter des Wiederaufbauteams wunderte sich, dass die Delegation für die knapp 120 Kilometer Wegstrecke drei Tage brauchte. Die Dorfältesten erwiderten darauf, dass vor zwei Jahren die gleiche Reise noch weit über eine Woche gedauert hätte. Mittlerweile gebe es allerdings auf der Hälfte der Strecke eine neue Straße. Bald werde die Straße wohl auch das Dorf erreichen. Dann öffne sich für das Dorf die Welt. Das sei auch der Grund ihres Kommens. Das Dorf brauche die Hilfe beim Bau der Schule, so der Mullah, „weil wir jetzt endlich eine Zukunft haben, und darauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten“.
Meine Damen und Herren, das ist in der Tat nur eine Dorfgeschichte aus dem Pamir-Gebirge, aber sie führt uns schnurstracks ins Zentrum dieser Debatte, die wir heute führen. Viel zu oft verlieren wir uns bei unseren leidenschaftlichen Diskussionen um Mandate und Obergrenzen. Zu oft verlieren wir dabei den Blick, worum es im Kern in Afghanistan geht. Es geht im Kern um zwei Dinge: erstens um die Zukunft dieses Landes und zweitens und immer noch um unsere eigene Sicherheit.
Die Menschen in diesem Dorf glauben an eine bessere Zukunft. Das Entscheidende ist: Sie wissen, dass diese Zukunft am Ende von ihnen selbst gestaltet werden muss. Sie kämpfen für ihre Schule. Sie kämpfen für ein besseres Leben ihrer Kinder. Wir reichen ihnen dabei im Grunde genommen nur die helfende Hand.
Öffnung zur Welt, Zukunft für Kinder ‑ davon jedenfalls träumen die afghanischen Dorfleute, von denen ich berichtet habe, und sie drücken damit aus; was die Hoffnung der übergroßen Mehrheit der Menschen in Afghanistan ist. Solange diese Hoffnung lebendig ist, werden, so bin ich sicher, die Taliban keine Chance haben. Jeder Brunnen, jede Schule, jeder Kilometer Straße ist ein kleiner Sieg.
Die Afghanen ‑ viele von Ihnen, meine Damen und Herren, waren inzwischen dort ‑ sind ganz ohne Zweifel ein stolzes, freiheitsliebendes Volk. Das kann jeder spüren, der mit ihnen spricht. Aber es sind auch Menschen, die nicht vergessen haben, in welches Elend sie von den Taliban gestürzt worden sind. Diese Art Steinzeit-Islam ist für die Menschen in ihrer ganz übergroßen Mehrheit keine Zukunftsverheißung.
Deshalb ist ziviler Wiederaufbau nicht nur irgendein Randaspekt unseres Engagements in Afghanistan, sondern er steht im Mittelpunkt. Hier entscheidet sich, ob die Hoffnung die Oberhand behält oder ob die Angst zurückkehrt.
Meine Damen und Herren, was ich hier von dem Gebirgsdorf in Badakhshan schildere, das ist schon lange kein Einzelfall mehr. Kai Eide, der neue Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen in Afghanistan, hat im Rahmen der kürzlich in Paris stattgefundenen Konferenz berichtet, dass mittlerweile in 32 000 Dörfern in Afghanistan Entwicklungsprojekte erfolgreich umgesetzt worden sind. Nach dem Sturz der Taliban ‑ ich habe hierüber bereits berichtet, aber ich möchte daran erinnern ‑ gab es so gut wie keine Gesundheitsversorgung in Afghanistan. Mittlerweile haben 80 Prozent der Bevölkerung Zugang zu basismedizinischer Versorgung.
Das Schulsystem ‑ Sie wissen es ‑ war damals faktisch zusammengebrochen. Heute gehen 6 Millionen Kinder in Afghanistan zur Schule, 30 000 Lehrer wurden ausgebildet, 3 500 Schulen aufgebaut oder wiederaufgebaut. 8 Millionen Minen wurden geräumt, 13 000 Kilometer Straßen gebaut oder repariert. Die Menschen gründen inzwischen wieder Unternehmen. Die Wirtschaft entwickelt sich auf niedrigstem Niveau ‑ zugegeben ‑, aber sie entwickelt sich in den Teilen des Landes, in denen die Sicherheitslage besser ist, auf niedrigem Niveau stetig fort ‑ und das alles in sieben Jahren. Ich finde, das ist trotz aller Schwierigkeiten, die wir vor uns haben ‑ diese Schwierigkeiten sind gewaltig ‑, eine Leistung, auf die wir miteinander ein bisschen stolz sein dürfen.
Aber wir sollten, wie ich finde, nicht nur auf uns stolz sein. Das, was vorangekommen ist, ist entscheidend denjenigen Menschen in Afghanistan zu verdanken, die von diesem Wiederaufbauwillen geprägt sind. Sie brauchen weiterhin die Unterstützung unserer Soldaten, Polizisten, Diplomaten und zivilen Wiederaufbauhelfer. Ich will diese Gelegenheit gerne nutzen, um all denen zu danken, die sich für eine friedliche Zukunft Afghanistans engagieren. Ich danke ihnen für den Mut, mit dem sie sich leidenschaftlich und ‑ ich weiß, auch viele von Ihnen haben es gesehen ‑ manchmal unter Entbehrungen dafür einsetzen, dass die Kinder in Afghanistan eine Zukunft haben.
Ich will an dieser Stelle auch meinen Kabinettskollegen Heidemarie Wieczorek-Zeul, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Jung für die gute Zusammenarbeit danken, ohne die all das, was ich hier berichten konnte, nicht möglich gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, trotz dieser eindrucksvollen Fortschritte sehen viele Bürgerinnen und Bürger den Afghanistan-Einsatz ‑ ich weiß das ‑ mit großer Skepsis. Sie selber sehen sich in Ihren Wahlkreisen auch kritischen Fragen ausgesetzt. Die Politik steht nicht nur unter Begründungs-, sondern manchmal sogar unter Rechtfertigungszwang. Ich glaube, wir dürfen uns diesem auch nicht entziehen, weil die Bürger einen Anspruch darauf haben, dass wir unseren Afghanistan-Einsatz ‑ und zwar das gesamte Engagement ‑ immer wieder auf Erfolg, auf Wirksamkeit und auf Effizienz hin hinterfragen. Wir brauchen klare Ziele, und wir brauchen beständige Erfolgskontrolle. Wir müssen uns kritisch selbst prüfen, welche Erwartungen im kulturellen und politischen Kontext Afghanistans realistisch sind. Darauf haben viele von Ihnen und darauf habe ich in meinen Reden in den vergangenen Monaten immer wieder hingewiesen.
Gerade wenn es um die Gesundheit und um das Leben von Soldaten und zivilen Wiederaufbauhelfern geht, dann kann es kein einfaches „Weiter so“ geben. Deshalb hat sich auch die Bundesregierung seit der letzten Mandatsdebatte im vergangenen Herbst intensiv bemüht, und zwar gemeinsam mit ihren Partnern, kritisch Bilanz zu ziehen. Die Afghanistan-Konferenz in Paris vor wenigen Tagen war aus meiner Sicht bei diesem Bemühen eine wichtige Zwischenetappe. Ich darf Ihnen sagen, dass der Vertreter von UNAMA, der Vereinten Nationen in Afghanistan, in dieser Pariser Konferenz eine Bestandsaufnahme zur Umsetzung des Afghanistan-Compact von London erstellt hat. Diese Analyse, diese Bestandsaufnahme haben wir in die Schlussfolgerungen im Abschlusskommuniqué der Pariser Konferenz übernommen.
Was heißt das? 85 Staaten und internationale Organisationen waren vertreten, 20 Milliarden Dollar Wiederaufbauhilfe ‑ eine wahrlich stolze Summe ‑ sind zugesagt worden. Wir selbst hatten 140 Millionen Euro zugesagt. Für die Zeit von 2008 bis 2010 stellen wir insgesamt 420 Millionen Euro zur Verfügung.
Die Pariser Konferenz war aber auch deshalb ein Erfolg, weil die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung sich auf einen Kurs verständigt haben, für den wir ‑ Sie wissen das ‑ schon im vergangenen Jahr intensiv geworben haben. Insofern ist der Strategiewechsel, den Claudia Roth ‑ sie ist nicht hier ‑ oder Winfried Nachtwei ‑ er ist hier ‑ fordern, schon lange im Gange. Dazu braucht heute nicht aufgerufen zu werden.
Ich glaube, dass die Richtung in der Afghanistan-Politik, wie wir sie jetzt eingeschlagen haben, richtig ist. Aber alle haben recht, die sagen: Wir dürfen uns dabei nicht verzetteln, sondern wir müssen uns auf die wesentlichen Probleme konzentrieren, das heißt, die Eigenverantwortung der Afghanen stärken. Unser oberstes Ziel muss sein und bleiben, dass Afghanistan sich mittelfristig selbst helfen kann.
Ich will vier zentrale Herausforderungen nennen, die auch Kai Eide in seinem Vortrag in Paris betont hat:
Erstens. Die Reform der afghanischen Sicherheitskräfte, gerade auch der Polizei, muss beschleunigt werden.
Zweitens. Korruption und Schattenwirtschaft müssen mit mehr Nachdruck bekämpft werden. Auch das war eine Forderung von Kai Eide.
Drittens. Die Investitionen beim Wiederaufbau, jetzt ganz besonders in zwei Bereichen, nämlich bei der Stromversorgung und ‑ das ist die neue Priorität bei UNAMA ‑ vor allen Dingen bei der landwirtschaftlichen Entwicklung, reichen bei weitem nicht aus.
Viertens. Die Drogenbekämpfung wird nur dann erfolgreich sein können, wenn die Bauern echte ökonomische Alternativen haben, und genau darum müssen wir uns mehr kümmern als in der Vergangenheit.
Wir wissen ‑ darin sind wir uns vielleicht sogar einig ‑, dass die Fortschritte in diesen vier Bereichen auch ganz wesentlich von der afghanischen Regierung und von der Verwaltung dort abhängen. Immerhin hat die afghanische Regierung mit der Nationalen Afghanischen Entwicklungsstrategie jetzt einen eigenen Plan zum Wiederaufbau des Landes vorgestellt. Das macht nicht nur das größere Maß an Eigenverantwortlichkeit sichtbar, das die afghanische Regierung für sich in Anspruch nimmt, sondern das ist auch Ausdruck von wachsendem Selbstbewusstsein, das Afghanistan braucht. Ich freue mich über beides, weil wir genauso beides erreichen wollen.
Es trifft zu ‑ auch das war Gegenstand der Gespräche auf der Pariser Konferenz zu Afghanistan ‑, dass wir von der afghanischen Regierung mehr Elan bei der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit sowie bei der Beachtung und Wahrung von Menschenrechten erwarten. Die afghanische Regierung hat dazu ‑ das darf ich Ihnen versichern ‑ in Paris eine erfreulich deutliche Selbstverpflichtung abgegeben, eine Selbstverpflichtung, die der afghanische Außenminister, wie ich gesehen habe, in Interviews in deutschen Zeitungen wiederholt hat, eine Selbstverpflichtung, an der wir die Regierung messen werden.
Wer Afghanistan kennt ‑ viele von Ihnen sind da gewesen ‑, der weiß: Der Wiederaufbau wird noch längere Zeit dauern, und er wird auch eine militärische Absicherung auf längere Sicht brauchen. Ohne ein sicheres Umfeld wird der zivile Wiederaufbau nicht vorankommen. Mit anderen Worten: Wo es keine Sicherheit gibt, da wächst die Angst, und wo die Angst wächst, da stirbt die Hoffnung. Aus diesem Grund wird unsere militärische Präsenz weiter notwendig sein, eine Präsenz, die zum Ziel hat ‑ das ist das Entscheidende ‑, sich eines Tages selbst überflüssig zu machen.
Das wird gelingen, wenn wir es schaffen, genügend afghanische Polizisten und Soldaten auszubilden, die dann gut motiviert für die Sicherheit im eigenen Land sorgen können. Das ist der Grund dafür, weshalb wir 2009 über 400 europäische Polizisten im Rahmen der EUPOL-Mission als Ausbilder nach Afghanistan entsenden wollen. Das sind immerhin mehr als doppelt so viele, wie heute der EUPOL-Mission zur Verfügung stehen.
Darüber hinaus wollen wir auch weiterhin EUPOL mit bilateralen Polizeiprojekten unterstützen. Wir arbeiten in der Polizeiausbildung mittlerweile auch mit den USA zusammen. Wir haben mehrere Hundert Polizisten gemeinsam ausgebildet. In Masar-i-Sharif entsteht eine neue Polizeiakademie, die ebenfalls helfen soll, die zivile Polizeiausbildung in Afghanistan voranzubringen.
Es reicht nicht, die Polizei in Afghanistan auszubilden. Wir müssen uns auch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee kümmern. Wir werden die Zahl der Ausbilder- und Mentorenteams, der sogenannten OMLTs, erhöhen; das wissen Sie. Wir werden Ausbildungseinrichtungen wie die Logistikschule in Kabul in Zukunft ebenfalls stärker unterstützen.
In dieser Debatte geht es um den zivilen Wiederaufbau, aber nachdem wir gestern die Obleute informiert haben, möchte ich es hier wiederholen: Wir haben uns darauf verständigt, dass wir die Obergrenze für das ISAF-Mandat von 3 500 auf 4 500 Soldaten erhöhen wollen, zum Ersten deshalb, weil wir, wie gesagt, stärker in Ausbildung investieren wollen, zum Zweiten, um mehr Spielraum beim Kontingentwechsel zu haben, und zum Dritten, weil wir uns auf die Begleitung der Präsidentschaftswahlen, die im Jahre 2009 in Afghanistan stattfinden, vorbereiten wollen,. Das Ganze wird einhergehen mit einer weiteren Absenkung der OEF-Obergrenze auf dann 800 Soldaten. Damit sinkt die Obergrenze bei OEF in zwei Jahren immerhin um 1 000 Soldaten.
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt, was aus meiner Sicht im Mittelpunkt unseres Engagements in Afghanistan steht: die Zukunft dieses Landes und natürlich unsere eigene Sicherheit. Letztlich ist entscheidend, zu berücksichtigen, dass beides zusammenhängt. Wir müssen verhindern, dass Afghanistan wieder zu einem Rückzugsraum international tätiger Terroristen wird. Das wird aber langfristig nur gelingen, wenn dieses Land eine gute Zukunft hat, wenn es Nahrung, Zugang zu Strom und Wasserversorgung gibt und Schulen sowie Radiostationen und vieles andere mehr errichtet werden. Wir müssen Umstände schaffen, unter denen die Menschen zur Wahl gehen können. Schließlich müssen wir Umstände schaffen, in denen sich der Getreideanbau mehr lohnt als der Mohnanbau.
Ich komme zum Schluss: Ich will an einen längeren Afghanistan-Aufsatz im Magazin der Süddeutschen Zeitung von Dietmar Herz, der erst vor wenigen Wochen erschienen ist, erinnern. Er spannt darin ‑ ich sehe, viele haben ihn gelesen ‑ einen weiten Bogen von Alexander dem Großen über den Mongolenherrscher Timur Leng bis hin zur sowjetischen Besatzung Afghanistans und sagt: Jeder hat sich an diesem Land die Zähne ausgebissen. Das ist aber natürlich nicht der Schluss dieses Artikels; vielmehr weist Dietmar Herz darauf hin, was dieses Mal in Afghanistan anders ist. Die deutschen Soldaten kommen eben nicht als Eroberer ins Land, sondern sie haben ein Konzept entwickelt,
das zusammen mit den Afghanen als gleichberechtigten Partnern das Land sichern, stabilisieren und ‑ darum geht es ja in dieser Debatte ‑ aufbauen sollte.
Das ist unser Ansatz; dazu stehen wir.
Die Menschen verbinden mit unserem Einsatz, dass es für sie und ihre Kinder wieder aufwärtsgeht. Hierin liegt eine Chance, die wir nicht verspielen dürfen. Dafür, meine Damen und Herren, tragen wir, wie ich denke, nach wie vor gemeinsam Verantwortung.
Herzlichen Dank.