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Rede von Bundesaußenminister Steinmeier zu Kosovo im Deutschen Bundestag, 20.02.2008
-- Es gilt das gesprochene Wort --
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit Freudenfesten haben die Kosovo-Albaner in diesen Tagen die Geburt ihres Landes als unabhängiger Staat gefeiert. Ich denke, wir müssen die Freude der Menschen nach den Jahrzehnten der Gängelung, der Missachtung und der Unterdrückung verstehen.
Ich sage auch: Die Menschen im Kosovo müssen ihrerseits verstehen, dass wir Europäer mit gemischten Gefühlen, auch mit Sorge auf ihr neues Land blicken. Wir haben die brennenden albanischen Fahnen in Mitrovica gesehen. Wir haben gewaltsame Demonstrationen und Tränengas in Belgrad gesehen. Unsere gemischten Gefühle müssen die Menschen im Kosovo deshalb verstehen, weil aus unserer Perspektive Grenzen in Europa ihre trennende Wirkung eigentlich verlieren sollten.
Ich habe in einem der vielen Leitartikel aus den vergangenen Tagen gelesen: Vielleicht war ein neuer Kleinstaat auf dem westlichen Balkan im Ursprung nicht das Wunschkind der Weltgemeinschaft. - All diejenigen, die das sagen, haben recht. Aber ich erinnere daran: Neun Jahre insgesamt haben wir uns um eine einvernehmliche Lösung bemüht. Eine einvernehmliche Lösung hätten alle lieber gesehen als das Prozedere, das wir jetzt vor uns haben. Sie war aber nicht möglich.
Darum ist jetzt unsere Verantwortung gefordert, in einer Situation, in der wir uns nicht in Enthaltung flüchten können, selbst wenn einige das möchten. Jetzt müssen wir mit aller Kraft gemeinsam versuchen, den Kosovo und seine Menschen zu unterstützen und ‑ das sage ich, obwohl ich weiß, aus welcher Situation wir dort kommen ‑ das Beste daraus zu machen. Das Beste heißt: einen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen, europäische Werte im Kosovo, aber nicht nur dort, sondern auf dem gesamten westlichen Balkan, durchzusetzen. Ich sage noch einmal: Nur das ist am Ende das Fundament für Stabilität und fairen Ausgleich in der gesamten Region und nicht nur im Kosovo.
Das ist der Grund, dass sich die Bundesregierung heute in ihrer Kabinettssitzung entschlossen hat, den Kosovo als unabhängigen Staat anzukennen. Ich sehe darin ‑ das habe ich auch am Montag in Brüssel gesagt ‑ den Schlusspunkt aus dem ‑ teilweise gewaltsamen ‑ Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens und nicht einen Sonderfall. Das sollte für uns alle der Ausgangspunkt europäischer Politik sein. Wir Europäer müssen beweisen, dass wir in der Lage sind, die Konflikte auf unserem Kontinent wirklich dauerhaft und vor allen Dingen wirksam zu lösen.
Wir sind dabei in den letzten 15 Jahren weiter gekommen, als manche meinen. Es gab damals nur wenige, die gesagt haben: Was sich auf dem Balkan ereignet, ist eigentlich keine Angelegenheit von Außenpolitik, sondern ist europäische Innenpolitik. - Das war eine Position, die vor 15 Jahren noch allerhöchstes Erstaunen ausgelöst hat, heute aber ‑ ich finde, darüber sollte man nicht unglücklich sein ‑ sehr viel selbstverständlicher geworden ist.
Seit 13 Jahren ‑ daran ist zu erinnern ‑ leisten deutsche Soldaten in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo jeden Tag Dienst am Frieden. Das heißt auch: Seit neun Jahren schweigen dort die Waffen. Ich vergesse nicht ‑ viele von Ihnen auch nicht ‑ die Greueltaten, die Menschen dort einander angetan haben. Ich bin froh darüber, dass auch auf dem westlichen Balkan ‑ das haben meine vielen Gespräche in der Region in den vergangenen Jahren gezeigt ‑ immer mehr Menschen nach vorn schauen, darauf hoffen, irgendwann als gleichberechtigte Mitglieder am Tisch der europäischen Nationen zu sitzen und damit eine konkrete Perspektive für Frieden, Prosperität und vor allen Dingen besseres Leben zu haben.
Sie haben die Bemühungen der europäischen Außenminister am vergangenen Montag und insbesondere die Berichterstattung darüber zur Kenntnis genommen. Es ist gelungen, eine gemeinsame europäische Plattform zu finden, trotz der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte der 27 Mitgliedstaaten. Es ist gelungen, in dieser gemeinsamen Plattform die gemeinsame europäische Verantwortung auf dem westlichen Balkan zum Ausdruck zu bringen.
Mit Blick darauf, dass viele geschrieben haben: „Das ist der kleinste gemeinsame Nenner“, sage ich: Ja, das ist der kleinste gemeinsame Nenner. Nur bestand leider nicht die Auswahl zwischen dem größten und dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern nur die Auswahl zwischen dem kleinsten gemeinsamen Nenner und nichts, und was das für die europäische Außenpolitik und ihre Zukunft bedeutet hätte, meine Damen und Herren, muss ich Ihnen nicht sagen. Deshalb bitte ich wertzuschätzen, dass sich die 27 Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Position zusammengefunden haben, die natürlich nicht das bilaterale Anerkennungsverfahren ersetzen kann, das aber auch nie wollte.
Besonnenheit und Vernunft sind jetzt das Gebot der Stunde. Ich habe der Führung der Kosovo-Albaner ausgerichtet und ich sage auch den Verantwortlichen in Serbien: Lassen Sie uns in diesen Tagen und in der kommenden Zeit die Gespenster der Vergangenheit ruhen! Gehen Sie mit uns den friedlichen Weg nach Europa! Arbeiten Sie mit uns gemeinsam an einer Region der Kooperation und der Zusammenarbeit, in der nicht mehr wie in der Vergangenheit das Blutvergießen das Leben der Kinder und zukünftiger Generationen bestimmt! Ich glaube, das ist die Hauptsache.
Ich richte mich hier in diesem Hause auch an die Adresse Russlands. Obwohl wir am Ende trotz vieler gemeinsamer Bemühungen die Meinungsverschiedenheiten nicht haben ausräumen können, appelliere ich an die Führung in Russland, in dieser Situation besonnen zu bleiben. Wir alle hätten ‑ lassen Sie mich das noch einmal sagen ‑ uns lieber eine Lösung gewünscht, in die die Positionen Russlands stärker einbezogen gewesen wären. Am Ende waren wir aber in einer Situation, in der eine Güterabwägung zwischen Frieden und Stabilität in der jetzigen Situation vorzunehmen war. Es ging um Frieden und Stabilität jetzt und nicht irgendwann in ferner Zukunft. Nach dieser Güterabwägung durften wir den Lauf der Geschichte jetzt nicht länger aufhalten; denn die Risiken sind Ihnen allen, meine Damen und Herren, bekannt.
Ich erinnere hier und auch gegenüber Russland an die vorangegangenen mehrjährigen Beratungen über den zukünftigen Status des Kosovos innerhalb der internationalen Kontaktgruppe. Gemeinsam mit Russland wurde Ahtisaari als Chefverhandler für die Vereinten Nationen ausgewählt. Ich erinnere an unseren Vorschlag, nachdem die Verhandlungen nicht zu einem glücklichen Ende geführt werden konnten, direkte Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo ein weiteres Mal zu ermöglichen. Wir haben für 120 Tage intensiver Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo geworben und sie ermöglicht, und zwar mit Vorschlägen, die wir teilweise unserer eigenen Geschichte entnommen haben, mit Verweis auf einen Grundlagenvertrag, der nach unserer Ansicht die Grundlage für eine Partnerschaft in der Region hätte bieten können. Alle diese Vorschläge haben wir engagiert über Botschafter Ischinger in die Verhandlungen eingebracht. Sie kennen das Ergebnis: Es ist uns am Ende nicht gelungen.
Jetzt müssen wir ehrlich sein. Es gibt Situationen, in denen man anerkennen muss: Es geht nicht weiter. Ich sage all denjenigen, die immer noch die Vorstellung haben, durch noch längeres Verhandeln wäre man zu einem Ergebnis gekommen: Leider ist das nicht der Fall.
Der Präsident des Kosovo hat uns in jenem Schreiben, in dem er uns zur Anerkennung seines Landes auffordert, ausdrücklich zugesichert, dass der neue Staat sich an die Klauseln des Plans der Vereinten Nationen halten wird, also an demokratische Prinzipien, an die Einhaltung der Menschenrechte und an den Schutz der Minderheitenrechte für die Serben. Er hat zugesichert, dass der Kosovo einer internationalen Supervision, einer breit angelegten EU-Mission zur Förderung des demokratischen Rechtsstaats nach europäischen Werten, zustimmt. In beiden Punkten werden wir ‑ das versichere ich Ihnen -den neuen Staat und seine Führung beim Wort nehmen.
Das bedeutet aber auch, dass wir Europäer uns jetzt an unsere eigene Verantwortung gegenüber Kosovo-Albanern und Serben erinnern und sie ernst nehmen. Dabei sehe ich auch Deutschland neben den anderen europäischen Staaten in der Pflicht. Wir werden uns deshalb in Zukunft nicht nur mit Tausenden von Bundeswehrsoldaten im Kosovo engagieren, sondern uns mit Polizisten, Richtern, Staatsanwälten und Regierungsberatern auch zu einem beträchtlichen Teil an der zivilen EU-Mission beteiligen müssen.
Dies alles, meine Damen und Herren, halte ich für unsere Verpflichtung, damit Frieden auf dem westlichen Balkan wirklich gelingt. Es liegt darüber hinaus auch in unserem ureigensten Interesse an Frieden in Deutschland und in ganz Europa. Deshalb hoffe ich auf breite Unterstützung hier im Hause. Ich bin fest davon überzeugt: Wir dürfen uns jetzt nicht in die Büsche schlagen, sondern wir müssen wie die 17 anderen europäischen Staaten, die unmittelbar nach den Beschlüssen vom vergangenen Montag das Anerkennungsverfahren eingeleitet haben, Unterstützung in einer schwierigen Situation leisten. Diese müssen wir wirklich leisten.
Herzlichen Dank.