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Eröffnungsrede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Konferenz der Außenministerinnen und Außenminister des Berlin Prozesses
Vor knapp einem Jahr sagte mir ein Mitglied einer Delegation aus einem der westlichen Balkanstaaten hier in diesem Raum:
„In meinem Land sitzt fast eine ganze Generation im Wartezimmer der EU.“
Das war bei der Europakonferenz, bei der Vertreterinnen und Vertreter der EU‑Mitgliedstaaten und der EU‑Beitrittskandidaten hier im Auswärtigen Amt zusammenkamen.
Und es stimmt – es ist über 20 Jahre her, dass die EU den westlichen Balkanstaaten in Thessaloniki ein Versprechen gegeben hat: Die Tür zur EU steht euch offen, wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt.
Letztes Jahr, wie auch heute, mussten wir einräumen, dass diese Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Und ich kann verstehen, dass davon viele Menschen enttäuscht sind.
Was ich in diesem Raum vor einem Jahr aber auch ganz deutlich gespürt habe, das ist, dass wir jetzt eine historische Chance haben, eine einmalige Gelegenheit, um das zu ändern und das Versprechen zu erneuern – indem wir handeln.
Denn seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind sich die EU‑Mitgliedstaaten einig, dass wir in Europa keine „Grauzonen“ wollen, wie Putin sie gerne hätte. Gebiete, die er als seinen Einflussbereich betrachtet.
Wir sind der Ansicht, dass der Beitritt der westlichen Balkanstaaten – genauso wie der Beitritt der Ukraine und Georgiens – eine geopolitische Notwendigkeit sind.
Für uns sind Ihre Länder keine „Grauzonen“. Für uns sind Sie Partner – Europäerinnen und Europäer wie wir. Und wir wollen, dass Sie so bald wie möglich der EU beitreten.
Es gab darüber in der EU noch nie so viel Einigkeit wie heute. Diese Chance sollten wir ergreifen.
Denn wir haben hier eine großartige Gelegenheit. Die Aussicht auf mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit in den westlichen Balkanstaaten.
Und das ist entscheidend. Denn wir haben aus der Geschichte der Europäischen Union gelernt, dass die wirtschaftliche Gemeinschaft die Grundlage war, auf der unsere politische Gemeinschaft wachsen konnte.
Deshalb möchten wir darauf hinarbeiten, dass die Weichen für eine Umsetzung des Mitteleuropäischen Freihandelsübereinkommens (CEFTA) vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs am 14. Oktober gestellt sind.
Wir Außenministerinnen und Außenminister arbeiten seit fast zwei Jahren hart daran, hierfür die Grundlage zu schaffen. Jetzt stehen wir dank Ihres Engagements, dank aller heute hier anwesenden Ministerinnen und Minister und dank ihrer Teams, die mit ihnen daran arbeiten, kurz davor, uns innerhalb der nächsten zwei Wochen auf einen neuen Aktionsplan für den Gemeinsamen Regionalen Markt zu einigen.
Ein solcher Plan kann bislang ungenutztes wirtschaftliches Potenzial freisetzen und wird Ihre Volkswirtschaften dem europäischen Binnenmarkt näherbringen.
Darauf wird sich unsere Arbeit bei der heutigen Konferenz konzentrieren.
Und wir wissen, dass es dabei nicht nur um wirtschaftliche Zusammenarbeit geht.
Auch das lehrt uns die Geschichte der Europäischen Union.
Was einst als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, also als Wirtschaftsorganisation, begann, hat sich nicht nur zum größten Binnenmarkt der Welt entwickelt.
Es ist heute auch eine Union der Freiheit, des Friedens und der Sicherheit.
Wir sollten unsere Zusammenarbeit deshalb nicht auf wirtschaftliche Themen begrenzen.
Wir nehmen auch die Aspekte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zukunftsperspektiven für die Jugend in den Blick.
Deshalb bin ich froh, dass die sechs Westbalkanstaaten auch eine neue Mobilitätsvereinbarung geschlossen haben, sodass Studierende nun leichter Hochschulen in Nachbarländern besuchen können. Die Vereinbarung baut auf den Erfolgen des im letzten Jahr angenommenen Mobilitätspakets auf.
Und sie wird neue Karriere- und Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen, besonders für die junge Generation.
Sie wird die Menschen in der Region näher zueinander bringen.
Vor acht Jahren haben wir das Regionalbüro für Jugendzusammenarbeit eingerichtet, das jedes Jahr Tausende junge Menschen aus der Region miteinander in Kontakt bringt.
Junge Menschen aus Serbien reisen nach Bosnien und Herzegowina und besuchen die Gedenkstätte in Srebrenica.
Junge Männer und Frauen aus Kosovo reisen nach Serbien und Studierende aus Tirana reisen nach Skopje, um sich über ihre gemeinsamen Erfahrungen und die Wunden der Vergangenheit auszutauschen.
Denn diese Wunden gibt es heute noch, wie wir alle wissen. Deshalb müssen wir Wege finden, sie zu heilen, damit wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen können.
Eine Zukunft, die auf den Werten der Europäischen Union gründet – auf Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Es ist schwer für uns, den Beitrittsprozess weiterzuführen, wenn wir sehen, dass Politikerinnen und Politiker sich gegen diese Werte wenden.
Wenn sie sich gegen Rechtsstaatlichkeit wenden.
Wenn Mitglieder NATO‑geführter Missionen in der Region angegriffen werden.
Oder wenn hochrangige Regierungsvertreter enge Verbindungen zu Wladimir Putin aufrechterhalten.
Statt zu spalten, sollten wir uns auf das konzentrieren, was uns als Nachbarn, als Europäerinnen und Europäer verbindet.
Auf die Möglichkeit, mehr Sicherheit und mehr Wohlstand in allen unseren Ländern zu schaffen.
Meine Damen und Herren,
wir haben eine historische Chance.
Die Chance auf eine gemeinsame Zukunft in der Europäischen Union.
Ein zentrales Element für die Verwirklichung dieser Chance ist eine engere Zusammenarbeit und Integration innerhalb der Westbalkanstaaten – als gleichberechtigte Partner im Berlin Prozess.
Lassen Sie uns diese Chance ergreifen.
Und lassen Sie uns das heutige Treffen nutzen, um uns auf das zu konzentrieren, was wir noch überwinden müssen, um diese Chance in zwei Wochen auch wirklich wahrzunehmen.
Indem wir das in den Mittelpunkt stellen, was uns eint: eine gemeinsame Zukunft in Frieden, eine gemeinsame europäische Zukunft.
Damit kommende Generationen nicht weitere 20 Jahre warten müssen, um Mitglied der Europäischen Union zu werden.