Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Rede von Außenministerin Baerbock anlässlich der Veranstaltung „Voices of Strength and Resilience

03.07.2024 - Rede

„Was mir am meisten Angst macht, ist, dass man das, was passiert ist, vergisst. Dass man die Menschen im Irak vergisst.“

So haben Sie, liebe Jihan Alomar, es einmal gesagt. Sie waren 10 Jahre alt, als die IS-Schergen Ihr Dorf überfallen haben. Als die IS-Männer nach Mädchen und Frauen suchten, sie verschleppten, vergewaltigten. Als sie plünderten, mordeten.

Sie haben berichtet, wie Ihre Mutter Ihnen in der Gefangenschaft das Haar abschnitt, um Sie zu schützen, damit Sie als Junge durchgehen, und die IS-Männer Sie sich nicht „aussuchen“ würden, um – so Ihre Worte - „mit den Mädchen zu machen, was sie wollten.“

Der Schmerz, den Sie und Ihre Familie erlebt haben, ist kaum vorstellbar. Ihre Schwester Sawsan kam nach 8 Jahren aus der Gefangenschaft frei.

Wir sind unglaublich dankbar, dass Sie beide heute hier sind - zusammen mit Layla Mirza und vielen anderen, die dem IS-Terror entkommen konnten.

Was die Terroristen wollten, war, Sie alle verstummen zu lassen, Ihr Licht auszulöschen. Sie aber zeigen, dass das nicht geschehen wird. Weil Sie so viel stärker sind als der Terror. Mutig. Leuchtend. So wie es ebenfalls die Jesidin Shirin in ihrem Buch beschreibt, mit dem Titel: „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“.

Ich habe dieses Buch gelesen, als ich zum ersten Mal in den Nordirak gereist bin. Und ich muss immer wieder daran denken, inmitten all der Krisen in der Welt – daran, wie stark Sie alle sind. Wie Sie leuchten. Sie waren, Sie sind, Sie bleiben Töchter des Lichts.

Es ist für uns nicht nur Mahnung, wie Sie es nach den dunkelsten Stunden, nach dem Schlimmsten, was Menschen einander antun konnten, geschafft haben, selber zu leuchten, und damit auch so vielen anderen in Erinnerung zu rufen: Dass es unsere Kraft gemeinsam braucht. Uns - wenn wir manchmal verzweifeln, verzagen und glauben, unsere Probleme wären groß, daran zu erinnern, was wirkliche Herausforderungen und Probleme sind.

Sie helfen uns, dass wir nicht vergessen. Und Sie helfen uns, das Licht weiter zu tragen. Dass wir Verantwortung dafür tragen, dass sich so eine Barbarei nie wieder wiederholt.

Ich möchte noch einmal aus dem Buch zitieren. Lieber Jan Kizilhan, als Psychologe hast Du nicht nur an diesem schwierigen Buch mitgewirkt, dort von diesen Schicksalen berichtet und uns – auch das Auswärtige Amt und das Land Baden- Württemberg - dabei unterstützt, uns deutlich zu machen, was es heißt, Verantwortung zu tragen, dabei zu helfen, dass andere leuchten können.

Du berichtest in dem Buch von einer Mutter, die von einem IS-Terroristen dazu gezwungen wurde, jeden Tag den Koran zu lesen. Und weil sie Fehler beim Lesen machte, steckte der Terrorist ihre zweijährige Tochter in eine Blechbox – stundenlang, bei Temperaturen von 50 Grad. Bis heute sieht diese Mutter die Leiche ihrer kleinen Tochter vor sich.

Das Trauma der Überlebenden. Die Narben der Vergangenheit, sie werden nie verheilen. Aber du hilfst mit deiner Arbeit dabei, dass sich dieses Trauma nicht über Generationen vererbt, nicht nur mit Deiner Arbeit hier in Deutschland, sondern gerade auch vor Ort, indem Du Menschen als Traumatherapeuten ausbildest, dabei, uns unserer Verantwortung gemeinsam zu stellen.

Was das für die Menschen bedeutet, das haben wir gerade bei einer Reise in den Irak gesehen, in dem Ort Kocho, am Fuße des Sinjar-Gebirges. In einem Gebäude, das mal eine Schule war, haben die Menschen ein kleines Museum eingerichtet. Dort zeigen Fotos das Leben vor dem August 2014. Den Alltag von rund 1800 Menschen - Lehrerinnen, Bauern, Schafzüchter. Mütter, Töchter, Söhne, Enkel.

Als die IS-Schergen das Dorf überfielen, enthaupteten sie mehrere hundert jesidische Männer. Frauen und Mädchen wurden verschleppt, versklavt.

Bis heute bleibt mir ein Satz immer in Erinnerung. Er heißt: „Ihr wusstet doch, wo wir waren. Es wurden GPS-Daten verschickt. Warum habt Ihr nichts getan?“.

Das Erinnern ist das eine, aber diese Fragen nicht zu vergessen, ist das andere. Für mich ist es wichtig gewesen, dass wir Fragen wie diese auch in unsere Strategie zur feministischen Außenpolitik haben einfließen lassen. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Die feministische Außenpolitik ist wie vieles andere kein Zauberstab. Aber weil sie nicht sofort alle Probleme lösen kann, heißt das nicht, dass sie nicht gebraucht wird. Diese Frage „Ihr wusstet doch, wo wir waren. Warum habt ihr nichts getan?“ hätte man vor 20 Jahren vielleicht noch nicht so offen gestellt. Ich habe oft darüber nachgedacht: wenn es eine andere Religionsgemeinschaft gewesen wäre, wenn es keine Frauen gewesen wären, sondern vielleicht Männer, wenn sie eine andere Staatsangehörigkeit gehabt hätten, ob wir dann anders gehandelt hätten.

Wir können Fehler der Vergangenheit nicht rückgängig machen. Aber wir können sie als Verpflichtung für heute wahrnehmen.

Wir können dafür Verantwortung tragen, dass die mutigen jesidischen Frauen, die heute hier sind, und die vielen anderen in Deutschland, in Europa, auf der Welt und vor allen Dingen im Nordirak und auch nach wie vor in Syrien, dass wir nicht nur ihnen danken und Respekt zollen, sondern in dieser Verantwortung sagen: Wie können wir es verhindern, dass diese Frage jemals wieder gestellt wird? Und dafür sorgen, dass ihr Licht weitergetragen wird?

Daher ist das, was der Deutsche Bundestag endlich getan hat, die Verbrechen beim Namen zu nennen, gut. Es war wichtig, dass wir im Bundestag gemeinsam beschlossen haben, dass die Menschheitsverbrechen, die der IS an den Menschen im Irak begangen hat, in besonderem Maße an der jesidischen Gemeinschaft, Völkermord waren. Aber damit ist es nicht getan, sondern daraus ergibt sich ein Auftrag, eine Verantwortung. Auf drei Dinge würde ich da gerne intensiver eingehen.

Erstens, dass wir die Erinnerung an diese Verbrechen aufrechterhalten.

Deswegen sind Abende wie dieser, ist der Film, die Fotoausstellung, die wir heute sehen, so wichtig.

Und deswegen ist es so wichtig, dass wir etwa in Irak mit Háwar Help zusammen ein „Community Archive“ aufbauen. Wo das Erinnern immer wachgehalten wird. Wo Jesidinnen und Jesiden selbst ihre Zeugnisse bewahren können.

Das zweite Element, das für mich entscheidend ist, ist, dass wir die Verbrechen nicht nur benennen, sondern dass wir sie strafrechtlich aufarbeiten.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat im November 2021 einen vormaligen IS-Kämpfer für „Völkermord“ an den Jesiden verurteilt. Das war in dieser Form ein weltweit erstmaliges Urteil. Das ist wegweisend und weltweit ein Meilenstein im Kampf gegen Straflosigkeit.

Es ist so wichtig, weil die Täter zur Rechenschaft gezogen worden sind. Und weil das Verbrechen als das benannt worden ist, was es war: ein Völkermord. Und dass gesagt wurde, dass sexuelle Gewalt ganz bewusst gegen Frauen eingesetzt wurde, um Gesellschaften zu brechen.

Es gab im Vorfeld dieser Urteile Diskussionen darüber, ob es nicht reicht, unter Terrorismus anzuklagen. Aber das wäre ein Fehler gewesen: dass man unter Terrorismus andere Verbrechen subsumiert, gerade auch die Verbrechen an Frauen. Es ist ein wichtiger Punkt, dass wir heute viel stärker darüber sprechen, dass sexualisierte Gewalt als Waffe eingesetzt wird, um Frauen und damit Gesellschaften zu brechen. Das ist auch Ihnen und den vielen anderen mutigen Frauen aus dem Nordirak zu verdanken.

Wir benennen heute Gewalt anders, wie zum Beispiel mit Blick auf Boko Haram in Nigeria, wo Frauen verschleppt, vergewaltigt, über Jahre gefangen gehalten werden, um Frauen und Gesellschaften zu brechen. Oder im Ostkongo, wo im letzten Jahr 90,000 Menschen, vor allem Frauen und Mädchen, vergewaltigt worden sind. 246 pro Tag. Wenn wir das nicht benennen, dann wird sich auch nichts ändern.

Das dritte Element, vielleicht das wichtigste, das ist unsere Unterstützung für die Opfer. Aber eben nicht als Opfer, sondern als Akteure der Zukunft. Das bedeutet natürlich auch, dass wir finanzielle Mittel in die Hand nehmen müssen. Das sage ich, wo wir hier in Deutschland gerade intensiv in Haushaltsdiskussionen sind und manche immer wieder fragen: „Warum müssen wir Projekte im Ausland finanzieren?“

Aber was bringt es, den Völkermord beim Namen zu nennen und dann zu sagen: wir können aber die Projekte vor Ort nicht unterstützen, in denen Frauen und Mädchen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wenn man etwa die Energie der „Scoring Girls“ im Flüchtlingscamp Qadiya beim Fußballspielen sieht – weil es ihnen Spaß macht, liebe Tugba, aber auch, damit sie ihre innere Stärke wieder spüren können. Es ist genau diese Arbeit, die aus der Erklärung des Bundestags nicht nur ein Versprechen macht, sondern die vor Ort wirkt.

Wir wissen: Noch immer leben Hunderttausende Menschen, die Opfer des IS wurden, in Flüchtlingslagern in Nordirak.

Und wir wissen, wie wichtig die Arbeit von NGOs wie Better World ist, die jungen Frauen in den Camps hilft, sich etwa im Programmieren weiterzubilden, damit es eine berufliche Zukunft gibt.

Unser Ziel bleibt, dass eine Rückkehr in die Heimat nach Sinjar für Jesidinnen und Jesiden möglich ist. Aber nur, wenn wir dort zu einem wirklichen Wiederaufbau kommen. Das sage ich gerade auch in diesen Zeiten, wo diese Flüchtlingscamps aufgelöst werden sollen. Wohin sollen die Menschen vor Ort gehen?

Als ich mit Frauen im „House of Co-Existence“ in Sinjar gesprochen habe, sagten einige von ihnen: Wem können wir nach allem, was passiert ist, noch vertrauen? Unseren Nachbarn? Den Sicherheitskräften?

Wo ist hier ein Sportplatz? Wo wir Fußball spielen können? Wo ist eine Schule?

Wenn wir darüber reden, dass Rückkehr möglich sein muss, dann geht das nur, wenn wir gemeinsam als internationale Gemeinschaft dazu beitragen. Dass wir nicht nur Community Policing unterstützen, sondern vor allen Dingen auch den Aufbau von Infrastruktur vor Ort.

Es ist unser Auftrag, auch gegenüber der irakischen Regierung deutlich zu machen, dass es ihre Verantwortung und unsere als internationale Gemeinschaft ist, nicht nur Perspektiven zu geben, sondern wirklich am Wiederaufbau zu arbeiten.

Das heißt dann auch, dass - und das ist die Debatte, die wir derzeit hier im Land führen - wenn wir darüber sprechen, dass wir Menschen hier Schutz geben, dieses Schutzversprechen auf ewig gilt.

In den vergangenen Monaten ist viel über die Rückkehr von Geflüchteten nach Irak gesprochen worden, über Rückführung. Dies hat natürlich vor allem in der jesidischen Gemeinschaft für viel Unsicherheit gesorgt.

Wir sprechen hier über Mädchen, über Frauen, die hier bei uns in Deutschland Abitur gemacht haben, die eine Ausbildung begonnen haben, die in Krankenhäusern arbeiten, als Metalltechnikerin, in der Altenpflege.

Und die, wie Shirin in ihrem Buch unterstreicht, erst wieder lernen mussten, was es heißt, sich sicher zu fühlen.

Und daher möchte ich ganz deutlich sagen: Die Anerkennung des Völkermordes ist das Papier nicht wert, wenn in dem Moment, in dem Menschen angekommen sind, sicher sind, eine Debatte darüber beginnt, ob Schutzsuchende wieder zurückkehren müssen. Nein, Sie hier sind Teil dieser Gesellschaft. Und es ist unsere Verpflichtung, dass das Licht, das scheint, hier weitergetragen wird.

Weil Verantwortung heißt, den Schmerz der Opfer zu sehen und sie nicht alleine zu lassen. Weil Verantwortung heißt, hinzuschauen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Für Gerechtigkeit zu arbeiten, für eine Zukunft, in der jesidische Frauen und natürlich auch Männer und Kinder, Töchter des Lichtes bleiben. Stark, mutig und hell.

Und da wir diesen Abend mit der Frage begonnen haben, in welchen Zeiten wir gerade leben, möchte ich zum Abschluss sagen: Ja, wir haben Herausforderungen. Ja, diese Zeiten sind nicht einfach. Aber das, was einigen hier in diesem Saal angetan worden - das Schlimmste, was Menschen einander antun können - das ist uns Verpflichtung. Dass Sie, dass diese Frauen uns immer wieder deutlich machen: Wir können nicht nur unsere Herausforderungen und Probleme lösen, wenn wir die Menschlichkeit in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen, sondern wir können dankbar sein, in einer Demokratie, in Freiheit und in Sicherheit zu leben. Und wenn wir es nicht schaffen, das zu sehen, was uns alle eint - die Menschlichkeit -, sondern uns spalten zu lassen, dann sind wir falsch an diesem Ort.

Schlagworte

nach oben