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Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 05.06.2024

05.06.2024 - Artikel

Nahostkonflikt

Frage

Herr Fischer, nach wie vor steht der Vorwurf im Raum, dass Außenministerin Baerbock beim Demokratiefest am 26. Mai gelogen hat, als sie behauptet hat, sie hätte eine Videosequenz gesehen, auf der man bei laufender Kamera die Vergewaltigung einer Frau durch Hamas-Kämpfer gesehen hat. Sowohl die verantwortliche UN-Stelle als auch israelische Behörden verneinen die Existenz einer solchen visuellen Bestätigung.

Können Sie diesen Vorwurf denn jetzt ausräumen und uns zwecks journalistischer Verifizierung auch sagen, wann, wo und in Begleitung welcher weiteren Vertreter des Auswärtigen Amtes sich Frau Baerbock diese Sequenz angeschaut hat?

Fischer (AA)

Genau diese Fragen haben Sie meinem Kollegen Christian Wagner schon gestellt. Es war auch Gegenstand einer weiteren Bundespressekonferenz. Sie können im Protokoll nachschauen, oder schauen Sie sich einfach Ihr eigenes Video an. Dann haben Sie die Antworten.

Zusatzfrage

Entschuldigen Sie, mittlerweile hat sich das wirklich zu einer internationalen Krise ausgeweitet; internationale Medien berichten darüber. Ein IDF-Sprecher hat erst kürzlich erneut gesagt, er kann das nicht bestätigen. Meine Frage lautete ganz deutlich: Wann, wo und in Begleitung welcher weiteren AA-Repräsentanten wurde dieses Video gesehen? Das hat Herr Wagner in der letzten Woche weder mir noch dem Kollegen Jessen beantwortet. Deswegen erwarte ich nun eine Antwort. Ich glaube, es ist journalistisch völlig legitim zu fragen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Lokalität die Außenministerin dieses Video gesehen hat, das jetzt für so viel Furore sorgt.

Fischer (AA)

Ich sehe keine Krise und verweise auf das, was mein Kollege gesagt hat.

Zusatz

Der hat aber nichts gesagt.

Fischer (AA)

Das ist Ihre Interpretation. Aus meiner Sicht hat er auf Ihre Frage geantwortet.

[…]

Frage

Meine Frage geht an das Auswärtige Amt. Wie sehen die Pläne für die deutsche Beteiligung an einer Gazaschutztruppe im Rahmen des Biden-Plans aus?

Fischer (AA)

Ich denke, zunächst einmal geht es darum, dass wir uns darum bemühen, gemeinsam mit unseren Partnern den Dreistufenplan umzusetzen, den Präsident Biden in seiner Rede vorgestellt hat und der den israelischen Vorschlag für eine Waffenruhe und eine Geiselfreilassung aufgreift. In diesem Zusammenhang stellen sich natürlich viele weitere Fragen, zum Beispiel, wie wir gewährleisten können, dass Israels Sicherheit nicht mehr von der Hamas gefährdet werden kann. In dem Zusammenhang hat die Außenministerin gesagt, dass das auch eine internationale Verantwortung ist, der wir alle uns stellen müssen.

Zusatzfrage

Bedeutet das, dass Sie, was Umfang, Zeitrahmen oder auch die internationale Abstimmung angeht, noch nicht konkreter sind, auch wenn der Plan von Biden jetzt auf dem Tisch liegt?

Fischer (AA)

Ich denke, der erste Schritt ist, dass die Pläne erst einmal angenommen werden und dass es eine Vereinbarung zunächst über eine humanitäre Feuerpause gibt, die dann in einen permanenten Waffenstillstand übergeht.

Einer der Punkte, die dann sicherlich noch zu klären sein werden, ist, wie die Sicherheit im Gazastreifen und die Sicherheit Israels vor der Hamas sichergestellt werden können. Dazu gibt es Gespräche auf internationaler Ebene über Themen wie internationale Schutzpräsenzen. Aber das alles ist derzeit noch auf der Gesprächs- und Diskussionsebene, sodass ich Ihnen keine Details dazu nennen kann.

Frage

Herr Fischer, haben Sie die Kritik am deutschen Begriff „Schutztruppe“ zur Kenntnis genommen und verarbeitet? Er ist, denke ich, eine sozusagen korrekte Übersetzung aus dem Englischen, aber er hat in der deutschen Sprache eine eigene Bedeutung. Der Begriff der Schutztruppe hat eine koloniale Vergangenheit.

Ist es von daher richtig, den Begriff einfach so zu verwenden?

Fischer (AA)

Ich habe ihn gerade nicht verwendet. Aber ich denke, dass es, wie Sie zu Recht sagen, verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten gibt. Er wird in verschiedenen Kontexten verschieden aufgefasst. Dabei würde ich es belassen.

Zusatz

Ich meine, die Ministerin hatte ihn verwendet. Deswegen die Frage an Sie als Sprecher.

Fischer (AA)

Das mag sein.

Frage

Frau Baerbock hat ebenfalls am 26. Mai erklärt, dass Deutschland keinerlei Waffen an die israelische Armee liefere, mit denen Kinder in Gaza getötet würden. Deutschland hat allein 2023 um die 3000 Stück Panzerabwehrwaffen geliefert. Ein Großteil davon ist vom Typ Matador. Die Hamas besitzt bekannterweise keine Panzer. Es gibt wirklich unzähliges verifiziertes Videomaterial, das zeigt, wie israelische Soldaten mit dem Matador auf zivile Infrastruktur zielen und diese zerstören.

Vor dem Hintergrund der Aussage von Frau Baerbock wüsste ich gern: Auf welcher Informationsgrundlage kann Frau Baerbock ausschließen, dass bei dem verifizierten Einsatz von Matador gegen zivile Infrastruktur im Gazastreifen Kinder getötet wurden?

Fischer (AA)

Ich denke, die Äußerungen der Außenministerin stehen erst einmal für sich. Im Übrigen haben wir die Lieferungen gegenüber dem Internationalen Gerichtshof offengelegt. Darüber kann sich jeder informieren.

Zusatzfrage

Die Außenministerin sagt sehr grundsätzlich: Wir liefern keine Waffen, mit denen Kinder getötet werden können. ‑ Jetzt gibt es, wie ich dargelegt habe, den massiv belegten Einsatz der Matador-Waffe. Der Name spricht schon für sich. Ihre Antwort hat sich mir, ehrlich gesagt, nicht erschlossen. Können Sie mir bitte sagen, auf welcher Informationsgrundlage die Außenministerin so absolut ausschließen kann, dass dabei auch Kinder getötet werden?

Fischer (AA)

Ich müsste die Zitate sehen. Aber ich denke, es geht um das, was wir jetzt liefern. Momentan gibt es in diesem Zusammenhang keine Lieferungen, die Sie erwähnt haben.

(Zuruf)

Das haben wir hier öfter besprochen. Es geht auch aus den IGH-Beschlüssen hervor. Es gab eine Steigerung der deutschen Lieferungen direkt nach dem 7. Oktober. Sie sind dann zurückgegangen. Seit Beginn dieses Jahres hat es praktisch keine Waffenlieferungen mehr gegeben.

Ich versuche gerade, mich daran zu erinnern, was sie gesagt hat. Sie hat in etwa gesagt, sie könne nichts stoppen, was wir nicht lieferten.

Frage

Das US-Repräsentantenhaus hat einem Gesetzentwurf zugestimmt, der wegen des Antrags des Staatsanwalts Sanktionen gegen Mitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs vorsieht. Das liest sich so, als wolle man auf den Internationalen Strafgerichtshof Druck ausüben und drohe ihm. Sieht die Bundesregierung das anders?

Wie bewertet die Bundesregierung die Entscheidung des US-Repräsentantenhauses?

Fischer (AA)

Der Internationale Strafgerichtshof ist eine unabhängige Behörde. Sie wissen, dass wir der zweitgrößte finanzielle Unterstützer des Internationalen Strafgerichtshofs sind, was auch, denke ich, ein guter Maßstab dafür ist, wie wir zu dem Internationalen Strafgerichtshof stehen.

Wir haben die Entscheidung des US-Repräsentantenhauses gesehen. Sie muss aber noch durch den Senat. Ich denke, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir wie viele andere davon ausgehen, dass sie den Senat nicht passieren wird.

Frage

Herr Fischer, die UN-Welternährungsorganisation FAO hat heute davor gewarnt, dass bis Mitte Juli mehr als eine Millionen Menschen in Gaza dem Hungertod ausgesetzt sind. Dazu hätte ich gern eine Reaktion.

Fischer (AA)

Ich habe diese Warnung noch nicht gesehen. Aber was Sie ja wissen und was wir hier immer wieder gesagt haben, ist, dass die humanitäre Situation im Gazastreifen katastrophal ist und dass wir deshalb mit ganzer Kraft daran arbeiten, neue Zugangswege nach Gaza zu öffnen und die Bevölkerung dort mit humanitärer Hilfe zu versorgen. Diesbezüglich hat es Rückschritte gegeben. Der Grenzübergang Rafah ist geschlossen. Kerem Schalom scheint wieder offen zu sein. Dafür gibt es neue Möglichkeiten im Norden für die Versorgung über die beiden Grenzübergänge Erez.

Ich denke, es ist unbestritten, dass die Lage für die Zivilbevölkerung extremst schwierig ist. Deshalb arbeiten wir mit den Partnern weiterhin daran, mehr Hilfe hineinzubekommen. Unser Appell auch an die israelische Regierung ist, den Gazastreifen mit Hilfsgütern zu fluten.

Frage

Zwei Aspekte:

Zum einen: Die Bundesregierung geht ja immer gegen staatliche Desinformation vor. Es gibt Berichte der israelischen Tageszeitung Haaretz, wonach das Ministerium für Diaspora in den letzten Monaten eine Propaganda- und Desinformationskampagne gegenüber dem amerikanischen Gesetzgeber, also Mitgliedern des Kongresses, gestartet und dabei alle möglichen Mittel verwendet habe. Kennen Sie die Berichte, und wissen Sie, ob es Desinformationskampagnen seitens Israels auch in Deutschland beim Bundestag gibt?

Danach habe ich noch eine andere Frage.

Fischer (AA)

Ich kenne diese Berichte nicht und kann Ihnen deshalb Ihre Frage nicht beantworten. Mir ist keine solche Desinformationskampagne gegenüber dem Bundestag, wie Sie sie beschrieben haben, bekannt. Aber das müssten Sie im Zweifelsfall die Vertreterinnen und Vertreter des Bundestags fragen.

Zusatzfrage

Oder das Innenministerium.

Herr Hebestreit, Sie haben bekannt gegeben, dass Herr Scholz mit Herrn Netanjahu telefoniert hat, damit er dieses “proposal” annimmt. US-Präsident Biden hat diese Woche ein Interview gegeben, in dem er sagte, dass er es verstehe, wenn Menschen glaubten, dass der israelische Premierminister den Krieg im Gazastreifen aus eigenen politischen Gründen hinauszögere, und dass Menschen allen Grund hätten, diese Schlussfolgerung zu ziehen.

Sieht der Kanzler das auch so, oder widerspricht er dem US-Präsidenten?

Hebestreit (BReg)

Die Äußerungen des US-Präsidenten stehen für sich. Wir kommentieren Äußerungen anderer Staats- und Regierungschefs grundsätzlich nicht. Ich wollte nur sagen, dass ich eine solche Äußerung des Bundeskanzlers bislang nicht gehört habe. Das ist vielleicht auch Teil Ihrer Antwort.

Zusatzfrage

Herr Fischer, wie sieht das die Außenministerin? Wird aus Ihrer Sicht der Krieg aus eigenen politischen Gründen Herrn Netanjahus hinausgezögert?

Fischer (AA)

Für mich gilt dasselbe wie für den Regierungssprecher. Ich würde diese Äußerungen nicht kommentieren. Aber klar ist doch für uns alle, dass das Leid der Menschen in Gaza so schnell wie möglich enden muss und dass es so schnell wie möglich einen humanitären Waffenstillstand braucht, damit ‑ wir haben gerade darüber gesprochen ‑ ausreichend humanitäre Hilfe in den Gazastreifen kommt und damit die Geiseln freikommen. Daran arbeiten wir seit Monaten.

Frage

Herr Hebestreit, am 15. Mai hat Ihr Stellvertreter Herr Büchner hier noch erklärt, dass der Kanzler vollumfänglich davon ausgehe, dass sich Israel bei seinem Vorgehen in Gaza an das Völkerrecht halte. Inzwischen ist fast ein Monat vergangen. Bleibt der Kanzler nach wie vor bei der Aussage, dass er vollumfänglich daran glaubt, dass sich Israel in Gaza an das Völkerrecht hält?

Hebestreit (BReg)

Der Bundeskanzler ist davon überzeugt, dass Israel alles tut, um sich an das Völkerrecht zu halten. Es gibt Vorfälle, die kritisierbar sind. Sie werden auch in Israel gerade untersucht, unter anderem durch eine Untersuchung, die auch uns hier in der vergangenen Woche beschäftigt hat. Die Ergebnisse muss man abwarten.

In Ihrer Frage geht es, denke ich, um die grundsätzliche Haltung. Das sehen wir weiterhin so, ja.

Frage

Herr Fischer, Sie erwähnten eben den Appell an die israelische Regierung, Hilfslieferungen zu ermöglichen. Vor wenigen Tagen wurde in einem „preliminary reading“ in der Knesset ein Gesetzentwurf diskutiert, wonach die UNRWA als terroristische Vereinigung klassifiziert werden soll und der auch jegliche UNRWA-Aktivitäten auf dem von Israel besetzten Gebiet verbieten würde.

Was bedeutet das für Ihren Appell oder für die Perspektive umfänglicher humanitärer Hilfe?

Fischer (AA)

Erstens kennen Sie unsere Position zu UNRWA. Sie ist ganz sicher keine terroristische Vereinigung, sondern eine von den UN eingesetzte internationale Organisation, deren wichtige Arbeit die internationale Gemeinschaft unterstützt. Sie ist derzeit eine der wenigen Organisationen überhaupt, die über die logistischen Voraussetzungen dafür verfügen, die Menschen in Gaza weiterhin mit Hilfe zu versorgen.

Wir haben es gerade schon einmal gesagt. Die israelische Regierung ist in der Pflicht, die Versorgung der Menschen in Gaza zu ermöglichen. Das wird nicht ohne UNRWA funktionieren. Deshalb sehen wir dieses Gesetzesvorhaben, das die Arbeit der UNRWA gefährdet, mit größter Sorge.

Zusatzfrage

Haben Sie diese Sorge bezüglich des Gesetzentwurfs auch der israelischen Regierung so konkret kommuniziert?

Fischer (AA)

Sie können davon ausgehen, dass wir mit der israelischen Regierung zu allen relevanten Themen in Kontakt stehen. Dieses Thema gehört sicherlich dazu.

Frage

Slowenien hat Palästina gestern Abend als Staat anerkannt, wie mehrere Länder zuvor. Sie alle sagen, dass sie die Hamas damit nicht legitimierten. Wie steht die Bundesregierung zu der jüngsten Anerkennung?

Hebestreit (BReg)

Auch dieses Thema hatten wir hier unlängst schon, als drei andere europäische Länder diesen Schritt gegangen sind. Wir gehen diesen Schritt nicht. Wir sehen eine Zweistaatenlösung als die Lösung für den Nahostkonflikt an. Das ist eine Langfristperspektive. Am Ende muss es eine verhandelte Lösung geben, die von allen Seiten akzeptiert ist, sonst wird es nicht funktionieren. Ich habe, meine ich, auch gesagt, dass es keine Abkürzung bei diesem Weg geben wird. Wir nehmen aber zur Kenntnis, dass es eine Reihe von Ländern gibt, die das anders beurteilen. Aber die Bundesrepublik bleibt bei ihrer Haltung, und die ist klar, dass wir eine Zweistaatenlösung anstreben, an deren Ende der unabhängige palästinensische Staat stehen soll.

Diskussion um eine mögliche Erleichterung von Abschiebungen nach Afghanistan

Frage

Das Thema meiner Frage ist die Diskussion um Abschiebungen nach Afghanistan. Sie geht an Herrn Kall, ergänzend auch an Herrn Fischer.

Wie lange wird die Prüfung, von der seit gestern die Rede ist, ungefähr dauern? Nimmt allein das Innenministerium diese Prüfung vor, oder beteiligt man daran wie auch in der Vergangenheit das Auswärtige Amt, und zwar nicht nur für die Frage nach der Lage im Land, sondern auch, was die praktische Umsetzung angeht?

Zusätzlich noch eine Wissensfrage, wenn ich darf: Über wie viele Leute redet man? Wie viele ausreisepflichtige Afghaninnen und Afghanen leben in Deutschland, und wie viele davon sind verurteilte Straftäter?

Kall (BMI)

Ich fange gern an und will das gern auch etwas in den Kontext setzen. Die Bundesinnenministerin hat sich gestern hier in der Bundespressekonferenz auf Nachfragen dazu geäußert. Ich will aber vielleicht einmal vorab sagen: Die Abschiebung von Gefährdern und schweren Straftätern ‑ ‑ ‑ Es geht ja ausschließlich um diese Gruppen von Personen, um Gefährder und schwere Straftäter im Bereich von Islamismus, islamistischer Gewalt, Extremismus, Terrorismus. Über diese Personen reden wir. Wir prüfen seit geraumer Zeit, mindestens seit der furchtbaren Tat in Brokstedt ‑ auch damals schon hat sich die Bundesinnenministerin dazu geäußert ‑ und seit mehreren Innenministerkonferenzen, wie Abschiebungen solcher Gefährder, von denen Anschläge in Deutschland drohen, und schwerer Straftäter ‑ das heißt, Gewalttäter ‑ wieder möglich sind, und zwar sowohl nach Afghanistan als auch nach Syrien, mit all den Schwierigkeiten, mit denen das verbunden ist und die wir auch immer betont haben. Aber trotzdem ist es aus Sicht der Bundesinnenministerin zwingend, diese Möglichkeiten zu prüfen, um Personen, von denen eine erhebliche Gefahr für Menschen in Deutschland und für die öffentliche Sicherheit ausgehen, auch aus Deutschland abschieben zu können. Insofern ist das kein neues Thema, sondern eines, das wir schon seit einiger Zeit prüfen und wozu wir natürlich immer im guten Kontakt mit dem Auswärtigen Amt sind. Das ist völlig klar. Herr Fischer kann das gleich ergänzen.

Ich habe schon gesagt, um welche Gruppen es geht. Uns geht es darum, Gefährder abzuschieben, von denen möglicherweise Anschläge in Deutschland drohen. Sie wissen, dass es im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum hier in Berlin eine Gruppe gibt, die AG Status, die sich nur darum kümmert, Gefährder aus Deutschland möglichst abzuschieben. Dabei geht es natürlich längst nicht nur um Afghanen.

Die aktuelle Gefährderzahl beläuft sich auf etwa 480 ‑ das kennen Sie ‑, ungefähr die Hälfte davon in Haft oder im Ausland. Dann bleibt ein beträchtliches Personenspektrum. Darunter sind auch deutsche Staatsangehörige, aber eben auch andere. Näher äußern wir uns zu den Hintergründen derer, die als Gefährder eingestuft sind, nicht.

Was Straftäter angeht, müssen Sie die genauen Zahlen bei den Ländern abfragen, weil das wirklich Sache der Länder ist. Sie sind immer noch für Rückführungen, für Abschiebungen zuständig.

Bei der Frage nach Afghanistan geht es darum, wann die Bundespolizei die Unterstützung für die Länder wieder aufnehmen kann, die der damalige Bundesinnenminister Herr Seehofer nach dem Sturz der damaligen Regierung durch die Taliban im August 2021 einstellen musste. Für uns ist also die Frage: Wann kann die Bundespolizei wieder Menschen in die Region und auch nach Afghanistan bringen, sozusagen als Unterstützung für die Länder, um diese Abschiebungen vorzunehmen?

Vielleicht noch eine Klarstellung, die uns sehr wichtig ist: Es gibt keineswegs ein Entweder-oder hinsichtlich der Frage, ob jemand in Deutschland bestraft oder ob er abgeschoben wird. Bei einem Mörder in Deutschland ist eine Abschiebung frühestens nach einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren rechtlich möglich. Das heißt, wenn jemand wegen Mordes in Haft kommt, dann ist das frühestens nach zehn Jahren möglich, das heißt, nach zwei Dritteln der 15 Jahre, die in Deutschland als Mindestmaß für lebenslang gelten. Bei anderen Straftaten, bei Gewalttaten, müssen in der Regel zwei Drittel der Haftstrafe verbüßt sein, bevor eine Abschiebung in Betracht kommt. Das ist immer eine Einzelfallabwägung. Wie schwer ist die Straftat? Wie sind die Hintergründe des Täters? Aber die Haftstrafe muss jedenfalls in großen Teilen in Deutschland verbüßt werden.

Dann ist die Frage, was mit so jemandem, der eine schwerste Gewalttat, eine islamistische Gewalttat, was die angeht, von denen wir hier reden, begangen hat, nach Verbüßung der Haft passiert. Wir wollen, dass es dann eine schnelle Abschiebung gibt, bei Gefährdern genauso. Da geht es nicht um Haft, sondern das sind ja Personen, von denen wir befürchten, dass sie islamistische Anschläge verüben, seien es Einzeltäter oder seien es Personen, die dem ISPK oder anderen Terrororganisationen angehören. Wenn wir das befürchten müssen, dann wollen wir natürlich alles tun, um das Risiko von Anschlägen in Deutschland zu verringern.

Wenn noch keine Tat begangen wurde, kann man diese Menschen schwierig einsperren oder für etwas bestrafen, was sie noch nicht begangen, sondern nur geplant haben. Natürlich werden auch sie als Mitglieder terroristischer Vereinigungen oder wegen Unterstützung solcher und wegen Anschlagsplänen verfolgt. Auch in letzter Zeit hat es diverse Festnahmen gegeben, insbesondere auch von ISPK-Mitgliedern und Unterstützern, um Anschläge zu verhindern. Das ist den Sicherheitsbehörden auch gelungen. Die mögliche Abschiebung von Gefährdern ist ein Instrument. Neben der nachrichtendienstlichen Beobachtung, die sehr intensiv erfolgt, neben der Strafverfolgung und neben anderen Maßnahmen ist das ein Baustein.

Fischer (AA)

Ich kann vielleicht etwas zu dem einen Punkt ergänzen, den Kollege Kall gerade hervorgehoben hat, und der ist auch der Ministerin sehr wichtig, nämlich dass wir es den Opfern schulden, dass die Täter ihre Strafe im Gefängnis verbüßen und nicht beispielsweise in Afghanistan auf freien Fuß gesetzt werden oder möglicherweise, wenn es sich um islamistische Straftäter handelt, dort gar noch als Helden gefeiert werden. Es geht darum, dass diese Menschen ihre Strafe hier in Deutschland verbüßen. Alles andere wäre auch nicht vorstellbar.

Was Abschiebungen angeht, so ist das, was Herr Kall zu den Zuständigkeiten gesagt hat, ja vollständig richtig: Das ist eine Länderzuständigkeit. Die Länder sind für Abschiebungen zuständig. Das BMI prüft gerade, welche Möglichkeiten bestehen. Ich meine, allein dass die Prüfung länger andauert, zeigt ja schon, dass das keine ganz triviale Frage ist. Auch darauf hat die Ministerin ja gestern hingewiesen. Es sind Fragen rechtlicher Natur zu klären, es sind Fragen sicherheitlicher Natur zu klären, und es sind auch logistische Fragen wie zum Beispiel die Sicherheit des Begleitpersonals zu klären. Es geht natürlich auch darum, dass wir die Kooperation des Herkunftsstaates brauchen, zum Beispiel bei dem Nachweis, dass eine bestimmte Person auch die Staatsangehörigkeit hat, die sie zu haben angibt, für die Identifizierung oder auch für so banale Dinge oder scheinbar banale Dinge wie die Ausstellung von Passersatzpapieren oder Pässen und die technische Abwicklung von Rückführungsmaßnahmen. Das sind Dinge, die die Kolleginnen und Kollegen vom Bundesinnenministerium derzeit prüfen, und wir schauen, wie es da vorangeht.

Zusatzfrage

Darf ich meine Frage, wie lange die Prüfung dauert ‑ Sie haben jetzt gesagt, die dauere schon sehr lange ‑, wiederholen? Ich frage mich, ehrlich gesagt, ein bisschen, auf welches Ergebnis der Prüfung man wartet. Wenn Sie selbst, Herr Kall, sagen, für die Bundespolizei sei das im Moment nicht möglich, ist die Frage, wann es für die Bundespolizei wieder möglich sein wird, diese Abschiebungen zu begleiten. Ist nicht irgendwie ein Ergebnis der Prüfung, dass man sagen muss, dass es nicht geht, oder prüft man jetzt einfach so lange, bis es geht?

Kall (BMI)

Das hängt ja nicht von uns ab. Das hängt ja von den Gegebenheiten ab, von den Gegebenheiten vor Ort, von der Sicherheitslage, von der Frage, ob man Menschen in bestimmte Regionen bringen kann, wo ihnen eben keine schweren Menschenrechtsverletzungen drohen, wo sie so sicher sind, dass man sie rechtskonform dahin abschieben kann. Das hängt ja davon ab, wie sich die Lage konkret verändert und welche Möglichkeiten es gibt, gegebenenfalls eben in Kooperation mit den Nachbarstaaten solche Abschiebungen auch wieder vorzunehmen. Das hängt ja nicht von uns ab. Insofern wird diese Prüfung sicherlich so lange andauern, bis sich die Gegebenheiten so geändert haben, dass man sagen kann, dass das wieder möglich ist und die Bundespolizei die Länder an der Stelle wieder unterstützen kann. So lange wird das auch ganz sicher ein Thema bleiben.

Wir forcieren das, weil wir diese Gefahr durch islamistische Täter und Gefährder in Deutschland sehen und verringern wollen und dafür alle Maßnahmen treffen. Das ist, wie gesagt, nur ein Baustein. Die ganz wesentlichen Bausteine sind natürlich die nachrichtendienstliche Beobachtung, alle Fäden, die im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum zusammenlaufen. Wir haben diverse Anschläge verhindert; ich will das noch einmal sagen. Die Abschiebung ist eben ein weiterer Baustein. Dabei geht es auch nicht nur um Afghanistan, sondern selbstverständlich auch um andere Staaten. Es sind auch schon viele Gefährder abgeschoben worden.

Sie hatten mich noch nach den Ausreisepflichtigen gefragt. Zuletzt gab es laut Ausländerzentralregister 13 396 ausreisepflichtige Afghanen, davon 11 666 geduldete. Ich kann Ihnen die Differenzsumme jetzt leider nicht aus dem Kopf bilden, aber damit haben Sie die aktuellen Zahlen.

Frage

Herr Kall, Sie meinten gerade, es könnte möglich sein, Islamisten nach Afghanistan abzuschieben. Gleichzeitig wird Afghanistan ja von einer islamistischen Terrortruppe geführt. Sehen Sie darin keinen Widerspruch?

Herr Fischer, die Ministerin hatte vor einem Jahr noch gesagt, dass die Taliban eine Schreckensherrschaft über Afghanistan ausübten und Afghanistan in die Steinzeit zurückgefallen sei. Ist das immer noch die Einschätzung Ihres Hauses? Können wir also vielleicht versuchen, Menschen in die Steinzeit zurückzuschieben?

Kall (BMI)

Zu Ihrer ersten Frage an uns: Uns geht es, noch einmal, um islamistische Gefährder, von denen Anschlagsbedrohungen in Deutschland ausgehen oder ausgehen können, und Gewalttäter, die schwere islamistische Gewalttaten verübt haben. Dabei geht es uns darum, die Gefahr durch diese Personen in Deutschland zu verringern, ja.

Zusatzfrage

Indem man sie zu den Islamisten nach Afghanistan bringt?

Kall (BMI)

Wenn das afghanische Staatsangehörige sind, indem man sie nach Afghanistan abschiebt, wenn das möglich ist.

Fischer (AA)

Zu Ihrer Frage: Auch die Ministerin kann ja kein neues Afghanistan am Reißbrett entwerfen. Also müssen wir mit den Gegebenheiten umgehen, die wir vorfinden. Da ist es so, dass die Taliban 2021 ein menschenverachtendes Regime errichtet haben. Wir alle wissen, dass weiterhin zahlreiche Vertreter der Taliban auf der Taliban-Sanktionsliste der Vereinten Nationen stehen. Es gibt also eine eigene Sanktionsliste nur für Taliban bei den Vereinten Nationen, von der Weltgemeinschaft eingerichtet. Sie wissen auch, dass die EU im letzten Jahr weitere hochrangige Vertreter der Taliban im Rahmen des Menschenrechts­sanktionsregimes gelistet hat. Es geht also um ein wirklich grausames Willkürregime, das auch heute von keinem einzigen anderen Land der Welt als rechtmäßig anerkannt wird, natürlich auch nicht von uns.

Nur, um Schlaglichter auf die Lage zu werfen: Die Taliban haben die Freiräume für die Menschenrechte, die Freiräume für Frauen und die Zivilgesellschaft drastisch eingeschränkt. Frauen und Mädchen werden systematisch diskriminiert. Die Verfassung ist ausgesetzt. Es gibt kein verlässliches Justizwesen. Es gibt eine Art von Willkürjustiz. Es wird keine formale Rechtsstaatlichkeit angewandt. Die Taliban haben alle bisher bestehenden staatlichen und institutionellen Strukturen weitgehend an ihre religiösen und ideologischen Vorstellungen angepasst. Auch ‑ das wissen Sie ‑ die wirtschaftliche und humanitäre Lage bleibt unter der Talibanherrschaft extrem schwierig. Es sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen allein 20 Millionen Menschen in Afghanistan auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Zusatzfrage

Sind das Voraussetzungen für Abschiebungen?

Fischer (AA)

Wie gesagt, prüft das Innenministerium diese Frage.

Kall (BMI)

Weil Sie ja nach den Voraussetzungen für Abschiebungen und auch nach dem Zeitraum dieser Prüfung gefragt hatten, möchte ich noch eine wichtige Ergänzung machen. Diese Bundesregierung hat ja ein sehr umfassendes Rückführungspaket, ein Gesetzespaket für mehr und schnellere Rückführungen, auf den Weg gebracht, das der Deutsche Bundestag beschlossen hat, und all diese gesetzlichen Änderungen sind jetzt in Kraft. Die dienten auch gerade dazu, Straftäter und Gefährder schneller abzuschieben.

Wir haben die Dauer der Abschiebehaft verdoppelt. Wir haben den Ausreisegewahrsam von zehn auf 28 Tage verlängert. Wir haben diverse neue Durchsuchungsbefugnisse auch in Unterkünften geschaffen. Wir haben Möglichkeiten geschaffen, Handys auszulesen. Wir haben Hinweise auf bevorstehende Abschiebungen, die es vorher gab, teilweise gestrichen, damit Menschen sozusagen nicht mehr vor einer Abschiebung vorgewarnt werden. Die Bundesregierung hat also eine Vielzahl wirklich sehr restriktiver Regelungen getroffen, die inzwischen alle im Gesetzblatt stehen und gesetzlich gelten, um mehr Abschiebungen zu ermöglichen.

Nach jetzigem Stand liegen wir in diesem Jahr bei einem Plus von 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Letztes Jahr gab es etwa 20 oder 25 Prozent mehr Abschiebungen und jetzt noch einmal 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Das heißt, die Bundesregierung arbeitet auch insgesamt intensiv daran, Abschiebungen insbesondere von Straftätern zu forcieren, und die Zahlen sind deutlich gestiegen.

Bundesaufnahme­programm Afghanistan

Frage

Ich frage vor dem Hintergrund dessen, wie Sie, Herr Fischer, gerade noch einmal das Talibanregime gekennzeichnet haben. Das Bundesaufnahmeprogramm sah ja vor, dass pro Monat bis zu 1000 Menschen in Deutschland aufgenommen werden, die vom Talibanregime bedroht werden. Nach vorliegenden Berechnungen sind aber seit, glaube ich, Oktober 2022 insgesamt nur 400 Menschen im Rahmen dieses Programms nach Deutschland gekommen. Das wäre eine eklatante Untererfüllung der eigentlich beabsichtigten Quote. Wer von Ihnen kann klarmachen, woran das liegt, wenn die Zahlen korrekt sind?

Fischer (AA)

Ich glaube, erst einmal muss man festhalten, dass seit dem Fall Kabuls mehr als 30 000 Schutzbedürftige, Ortskräfte, verfolgte zivilgesellschaftliche Akteure, Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über die verschiedenen Programme Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland gefunden haben, und das ist, glaube ich, eine sehr beachtliche Zahl.

Was das Bundesaufnahmeprogramm angeht, gibt es unterschiedliche Gründe, warum in Einzelfällen eine Aufnahme länger dauert. Das liegt zum Beispiel daran, dass den Personen Pässe fehlen und es in Afghanistan derzeit keine Passpapiere gibt oder keine Möglichkeit, vernünftige Pässe auszustellen, sodass sich die Ausreise von Afghanistan nach Pakistan verzögert. Bis vor Kurzem konnten zum Beispiel Kinder auch auf dem Pass ihrer Eltern von Afghanistan nach Pakistan einreisen. Diese Möglichkeit besteht nicht mehr. Das heißt, die Kinder brauchen Pässe. Es gibt aber keine oder nicht ausreichend viele Passpapiere in Afghanistan. Das verzögert die Ausreise. Es gibt auch sozusagen Veränderungen weitere Art in Pakistan, die es erschweren. Anfangs ging es auch noch, dass im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms über den Iran ausgereist wurde. Diese Möglichkeit besteht nicht mehr. Das heißt, es gibt eine Reihe von Herausforderungen, die zu bewältigen sind. Aber wir sind dabei, die gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium zu bewältigen und die Leute, die Schutz bedürfen, dann auch im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms nach Deutschland zu bringen.

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