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Gegen eine Weltordnung der Gewalt

11.12.2023 - Namensbeitrag

Beitrag von Außenministerin Annalena Baerbock, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Es ist kalt auf dem U-Bahnsteig der Linie 2 in Charkiw. Doch dort, im Nordosten der Ukraine, etliche Meter unter der Erde und fernab vom Tageslicht, verbringen Schülerinnen und Schüler fast ihren gesamten Tag. Denn der U-Bahnsteig ist der sicherste Ort in einer Stadt, wo russische Raketen und Drohnen weiter zum Alltag gehören, weil keine Luftverteidigung sie aufgrund der unmittelbaren Nähe zur russischen Grenze abfangen kann. Es ist der sicherste Ort für Englischunterricht.

Sorge und Kälte beherrschen die Schultage dieser Kinder, seit fast 22 Monaten. Auch in diesen Tagen, in denen in Europa immer öfter von „Ermüdung“ die Rede ist, und in denen manche fragen, ob es nicht langsam reiche mit unserer Unterstützung für die Ukraine, in denen in diesem Zusammenhang ein „Einfrieren“ des russischen Angriffskrieges an die Wand gemalt wird. „Einfrieren“ klingt technisch, fast steril. Als käme damit winterlicher Frieden, Stille. Tatsächlich aber würde ein „Einfrieren“ des Konflikts das Gegenteil bedeuten.

Hinter der Front, in den besetzten Teilen der Ukraine, wo Menschen gefoltert, wo Kinder verschleppt werden, da gibt es keinen kalten Status Quo, den man künstlich konservieren könnte. Da gibt es nur die heiße Gewaltherrschaft Russlands. Russland begann seinen Krieg im Osten der Ukraine 2014, versteckte sich bis 2022 hinter den Separatisten im Donbas. Etliche Male sollte das Sterben an der Front durch Waffenstillstände gestoppt werden. Deutschland war an diesen Verhandlungen sieben Jahre lang über den damaligen Minsk-Prozess als Vermittler beteiligt. Doch statt um Frieden ging es Russland um die Vorbereitung eines brutalen Angriffskrieges.

Äußerungen aus dieser Zeit machen deutlich, dass es Putin nicht nur um die Gebiete im Osten der Ukraine ging, sondern um eine Unterwerfung des ganzen Landes und seiner Menschen. Ein „Einfrieren“ des Konflikts hieße deswegen für die Ukraine nicht nur, den besetzten Teil ihres Landes und die dort lebenden Menschen aufzugeben, sondern zugleich ihr gesamtes Territorium der fortwährenden Gewalt aus Russland auszuliefern, dem Drohnenbeschuss auf Kiew, Odessa oder Cherson.

Ein „Einfrieren“ hieße, die Ukraine Tag für Tag ihrer Souveränität und Identität zu berauben. Und es hieße, dass die russische Bedrohung für Europas Sicherheit fortbestünde. Es wäre die strategische Gelegenheit für Putin, seine militärische Schlagkraft wiederherzustellen und früher oder später noch härter vorzugehen, im Zweifel auch über die Ukraine hinaus.

Deswegen gilt für uns, was wir direkt nach dem 24. Februar 2022 entschieden haben: Wir unterstützen die Ukraine nicht nur aus Loyalität zu einem Freund. Wir unterstützen sie, damit sie ihre Menschen aus der Hölle befreit. Und weil es in unserem eigenen Sicherheitsinteresse ist. Es waren die mutigen Männer und Frauen in der Ukraine, die verhindert haben, dass der Krieg auf andere europäische Länder wie Moldau übergreift.

Auch wenn wir manchmal verzweifeln wollen, dass dieser Krieg noch immer nicht zu Ende ist: Die Behauptung, dass unsere internationale Unterstützung wirkungslos sei, ist falsch. Die Ukraine hat mehr als die Hälfte der seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebiete befreien können - rund 74,000 Quadratkilometer. Während der Gegenoffensive ist es der Ukraine gelungen, Russlands Flotte im Schwarzen Meer in die Defensive zu treiben. Mehr und mehr Frachtschiffe nutzen wieder den wichtigen Exportweg durch das Schwarze Meer.

Wir dürfen nicht vergessen: Russland - ein Land, das durch seinen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat einen besonderen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten sollte - kämpft in der Ukraine auch für eine „neue Weltordnung“, das betont Putin in seinen Reden immer wieder. Eine Weltordnung der imperialen Gewalt. Eine Weltordnung, in der internationales Recht nichts, die Macht des Stärkeren dagegen alles und die Bereitschaft zum eklatanten Regelbruch ein strategischer Vorteil ist. Wo wären wir, wenn sich dieses Prinzip der absoluten Ruchlosigkeit durchsetzen würde? Wenn sich Autokratien und Gewaltakteure weltweit ein Beispiel an Russland nähmen.

Wir stellen Russlands Vision der Gewalt eine Welt entgegen, die auf dem Völkerrecht, der Charta der Vereinten Nationen und den Menschenrechten basiert. So sehr wir uns alle ein Ende des Kriegs wünschen, ein „Einfrieren“ des Konflikts wäre das Gegenteil: ein „Einfrieren“ des Unrechts. Dazu darf es nicht kommen. Deshalb tun wir alles, um den Menschen in der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen - gegen Gewalt, Krieg und Unrecht. Damit auch die Schulkinder in Charkiw wieder dauerhaft in Frieden leben können.

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