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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Gedenkversammlung anlässlich des 84. Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen
„Wir alle haben das Bedürfnis, ein Mensch zu sein. Ein Mensch, der eine Würde hat.“
Das sagte vor knapp einem Jahr eine 96-jährige Frau zu mir auf dem Friedhof der Aufständischen in Warschau. Wanda Traczyk-Stawska. Eine – ich weiß nicht, ob sie Freundinnen waren – aber eine Mitstreiterin von Anna Świrszczyńska.
Wir standen da, Wanda Traczyk-Stawska und ich auf dem Friedhof der Aufständischen. Und sie erklärte mir, warum sie zur Waffe griff. Warum sie kämpfte. Warum sie Barrikaden baute, wie wir es gerade im Gedicht gehört haben.
Auf dem Friedhof der Aufständischen sind zehntausende Kinder, Frauen und Männer begraben. Menschen, die sich 1944 im Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer erhoben und von Wehrmachtssoldaten und SS-Leuten ermordet wurden.
Wanda Traczyk-Stawska erklärte mir, warum sie zur Waffe griff. Sie, als 17-Jährige. Sie sagte „Ich hatte das noch niemals vorher in der Hand! Aber, wenn ich sterbe, dann möchte ich nicht, dass die Besatzer mir auch noch meine Würde nehmen. Weil wir alle haben das Bedürfnis, ein Mensch zu sein. Ein Mensch, der eine Würde hat.“
Für dieses Menschsein kämpfte sie. Sie überlebte. Ihre Freundinnen nicht.
Wanda Traczyk-Stawska beschrieb mir, was den deutschen Vernichtungskrieg ausmachte. Dieser Krieg, der heute vor 84 Jahren, am 1. September 1939, mit dem Überfall auf Polen eben nicht nur begann, sondern genau dort – und zwar von Tag eins – auf Vernichtung ausgerichtet war.
Und ich bin Ihnen dankbar, Herr Professor Loew, dass Sie das gerade auch so deutlich angesprochen haben, dass wir gerade als Deutsche mit Blick auf Polen das vielleicht nicht immer deutlich genug gesehen haben: Nicht nur ein Angriff. Sondern es ging von Tag eins in Polen um die Vernichtung von einzelnen Menschen.
Deutsche Täter zogen von Polen aus eine Blutspur über das Baltikum, Belarus, die Ukraine und Russland bis nach Griechenland und darüber hinaus. Den deutschen Angreifern ging es in diesem Krieg nicht nur darum, Mittel- und Osteuropa militärisch zu unterwerfen. Sie wollten die Menschen und Länder dort versklaven und vernichten, indem sie Städte verbrannten und zerbombten, Millionen erschossen, verhungern ließen, vergasten.
Dieser Krieg war ein Krieg gegen die Würde von Menschen. Ein Krieg gegen das Menschsein von Millionen von Kindern, Frauen und Männern in den angegriffenen Ländern. Begonnen in Polen und bewusst geführt mit dem Ziel der Vernichtung von polnischen Männern, Frauen und Kindern. Und Mädchen wie der 17-Jährigen Wanda Traczyk-Stawska.
Polen verlor in diesem Krieg ein Fünftel seiner Vorkriegsbevölkerung, also weit mehr als fünf Millionen Menschen. Fünf Millionen Leben, fünf Millionen Geschichten, fünf Millionen mal Zukunft. Fünf Millionen mal nicht nur die Unterwerfung eines Landes, sondern fünf Millionen Mal das Nehmen der menschlichen Würde.
Wanda Traczyk-Stawska führte mich auf dem Friedhof dann vor allem in die neue Gedenkstätte, die jetzt erst, vor einem Jahr, dort eröffnet wurde, als Gedenkstätte an den Warschauer Aufstand.
Dort stand in einem sehr kühlen und nüchternen Raum ein sehr langer Tisch mit einer Karte von Warschau. Und wenn man auf diese Karte schaute, dann sah man erst mal ganz viel Rot. Und wenn man genauer hinschaute, sah man, dass dieses Rot sich zusammensetzte aus vielen kleinen Stecknadeln mit ganz kleinen roten Köpfen. Jede für einen der Menschen, die dort ermordet worden sind. Es waren so viele, dass man sie überhaupt nicht zählen konnte, sondern immer wieder nur die rote Masse sah.
Aber jede einzelne dieser Nadeln stand für ein Menschenleben, für ein Kind, für eine Mutter, für einen Vater, für einen Nachbarn, für einen Bäcker, für einen Freund, die im Warschauer Aufstand getötet wurden. Gezielt ermordet. Gezielt vernichtet.
Wenn wir also heute hier am 1. September an den Überfall auf Polen erinnern, dann sollten wir nicht nur Panzer und Flugzeuge, nicht nur die Invasion einer Armee in eines unserer Nachbarländer im Kopf haben – sondern wir sollten jede einzelne rote Nadel im Kopf haben, jede einzelne Frau, jeden Mann, jede 17-Jährige, die nicht nur ihr Land verteidigen, sondern auch verhindern wollte, dass ihr als Polin ihre Würde, ihr Menschsein genommen wird.
Als ich mit Wanda Traczyk-Stawska auf dem Friedhof stand und sie meine Hand ergriff – zwischen uns mehr als 50 Lebensjahre – da habe ich eine tiefe Dankbarkeit gespürt, dort als Deutsche zu stehen. Weil sie bereit war zur Versöhnung. Aber ich habe auch als Außenministerin noch etwas anderes gespürt: das erneute und tiefe Bewusstsein, dass Versöhnung niemals endet, weil das Nehmen der Würde niemals komplett heilt, sondern über Generationen vererbt wird.
Und so wie jede einzelne dieser roten Nadeln an die Würde eines Menschen erinnert, so ist jede einzelne Nadel auch ein Auftrag für uns Deutsche heute und auf ewig – für unsere ewige Versöhnung mit unseren polnischen Nachbarn und Freunden.
Weil diese Wunden des Nehmens der Menschenwürde in Polen und in Osteuropa immer gegenwärtig sind, auch über Generationen, muss auch unsere Verantwortung, unsere Versöhnung immer gegenwärtig bleiben.
Und daher sind wir heute hier: Um diese Versöhnung über Jahrzehnte weiter zu leben, indem wir nicht nur einmal im Jahr zusammenkommen, sondern indem wir tagtäglich immer wieder über Generationen darüber sprechen, was unseren Nachbarn, den Eltern und Großeltern unserer heutigen Kollegen und Freundinnen im Zweiten Weltkrieg angetan wurde, und wie wir gemeinsam daran arbeiten, dass diese Wunden heilen.
Ich bin sehr dankbar, dass wir heute gemeinsam hier sein können, dass Sie, sehr geehrte Damen und Herren, heute hier sind und wir auch im Namen von Claudia Roth als Staatsministerin die Arbeit für ein Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa weiter gestalten. Und genauso arbeiten wir an einem Deutsch-Polnischen Haus hier in Berlin, einem Gedenkort für die Opfer des deutschen Krieges gegen Polen, der gleichzeitig ein Ort sein soll, wo Menschen aus unseren beiden Ländern zusammenkommen, tagtäglich, als ganz normale Menschen, für Heilung und Versöhnung. Wo Menschen, 96-jährige, 17-jährige gedenken, begegnen, verstehen.
Diese Woche hast Du, liebe Claudia Roth, gemeinsam mit der Staatsministerin Anna Lührmann, mit Ihnen, Herr Neumärker und Herr Professor Loew ein Eckpunktepapier vorgestellt, damit wir dieses einzigartige Projekt, dieses Deutsch-Polnische Haus, jetzt weiter voranbringen. Und ich bin dankbar, Herr Botschafter, dass Sie heute hier sind und dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.
Wir brauchen diese Arbeit des Erinnerns, um eine Welt des Menschseins und der Menschenwürde zu bewahren und zu stärken. Denn das Wissen um die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, das Bewusstsein für das Menschheitsverbrechen des Holocaust, der Völkermord an den Jüdinnen und Juden Europas, sie machen uns deutlich, wie unglaublich dankbar wir sein können, dass wir heute in einem Deutschland, in einem Polen, in einem Europa und in einer Weltordnung leben, in denen das Menschsein und die Menschenwürde geschützt sind – und worauf unsere Versöhnung und Heilung gebaut ist.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So steht es in Artikel 1 unseres deutschen Grundgesetzes.
„Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“ Das sagt Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.
All das – vom Grundgesetz bis zu den Vereinten Nationen – scheint uns heute selbstverständlich, denn wir, meine Generation, kennen es nicht anders. Aber Demokratie und Freiheit, Frieden und europäische Einigung, Völkerrecht und Menschenrechte hat uns kein historischer Automatismus in den Schoss gelegt.
Mutige Menschen haben sie für uns erkämpft. Mutige Menschen fanden die Kraft zur Versöhnung.
Nach 1945, als ehemalige Feinde die Bundesrepublik und die DDR wieder in die Völkergemeinschaft, aufnahmen, in die Europäische Gemeinschaft und die UNO.
Und 1989, als noch vor den mutigen Menschen in Ostdeutschland unsere östlichen Nachbarn, allen voran Polinnen und Polen, die Diktaturen jenseits des Eisernen Vorhangs ins Wanken brachten und uns dann dem wiedervereinigten Deutschland die Hände reichten in einer gemeinsamen Europäischen Union.
Und daher ist für eine deutsche Außenministerin der 1. September auch ein guter Anlass zu betonen: So wie unsere Nachbarn uns nach 1945 die Hand gereicht haben und so wie sie 1989 bei der deutschen Wiedervereinigung für uns da waren, so stehen wir heute an ihrer Seite.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine war für uns Deutsche ein Schock. Viele haben ihn früher gesehen. Er hat uns gelehrt, dass Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa auch heute nicht selbstverständlich sind.
Und auch das gab mir Wanda Traczyk-Stawska auf dem Friedhof mit. Sie meinte: „Ich weiß nicht, als 96-Jährige, wie lange ich noch lebe, aber seit dem 24. Februar weiß ich, dass jeder Tag mein Auftrag ist, Ihnen als junge Generation mitzugeben: Tun Sie alles, um die Menschen in der Ukraine zu unterstützen. Jeden Tag sehe ich dort die 17-Jährigen – so wie ich als 17-Jährige meine Menschenwürde verteidigen wollte.“
Daher betone ich: Deutschland trägt hier eine besondere Verantwortung.
Deswegen stehen wir fest an der Seite der Ukraine, solange sie uns braucht.
Und deswegen sagen wir unseren polnischen Nachbarn heute und an jedem Tag laut und deutlich: Die Sicherheit Osteuropas, die Sicherheit Polens ist Deutschlands Sicherheit.
Ich möchte zum Schluss noch etwas Anderes mit Ihnen teilen von meinem Besuch damals, vor einem Jahr in Warschau. Als wir eigentlich schon gehen wollten und das Protokoll ganz hektisch sagte: Wir müssen jetzt wirklich zu den Autos – da nahm mich Wanda Traczyk-Stawska beim Arm und sagte: „Nein, Sie können nicht gehen, wir müssen noch diesen kleinen Bogen gehen. Ich möchte Ihnen unbedingt etwas zeigen.“
Sie nahm mich beiseite und führte mich zu einer kleinen Statue aus Granit. Vielleicht können sich Einige von Ihnen denken, was für eine Figur. Die Figur einer Frau mit Leichentuch. Diese Statue ist allen Müttern gewidmet, die im Zweiten Weltkrieg ihre Kinder verloren haben.
Und als wir schon weiterwollten meinte sie: „Nein, das Entscheidende haben Sie ja noch gar nicht gesehen. Sie müssen sich hinknien.“ Denn für Versöhnung ist manchmal das Kleine das Wichtigste. Also kniete ich mich hin und schaute auf die eine Seite des Sockels. Dort stand etwas auf Hebräisch. Sie sagte: „Gehen Sie weiter herum.“ Da stand etwas auf Polnisch und auf der nächsten Seite auf Russisch. Da ich alle drei Sprachen leider nicht spreche, wusste ich also immer noch nicht, was dort stand. Dann sagte sie: „Gehen Sie noch um die vierte Ecke herum.“ Und dort stand es, auf Deutsch: das Wort „Mutter“.
Dass es dort auf Deutsch stand, auf dem Friedhof der Aufständischen, wo um die polnischen Mütter getrauert wurde, war eben keine Selbstverständlichkeit, sondern es war der tiefe Ausdruck der Versöhnung.
Und Wanda Traczyk-Stawska sagte zu mir: „Als ich die Bilder aus Dresden gesehen habe, Jahre später, die zerbombten Wohnhäuser deutscher Städte, da wusste ich, wie groß auch der Schmerz deutscher Mütter gewesen ist. Da wusste ich: Wir brauchen Versöhnung, damit niemals wieder in Zukunft Mütter, egal in welchem Land, so trauern und leiden müssen.“
Der Schmerz von Müttern, er ist der Schmerz von Menschen. Und ich glaube, das zu sehen, darum geht es. Immer wieder uns zu vergegenwärtigen, was es am Ende ausmacht, für das Menschsein einzustehen. Und tagtäglich, nicht nur mit Blick auf Gräueltaten, sondern genau an diesen Orten, die wir jetzt bauen – das Deutsch-Polnische Haus – uns das zu vergegenwärtigen, dass wir bei allen Diskussionen und Differenzen, die wir haben, zwischen Menschen, zwischen unseren Ländern, dass wir immer wieder die Menschen sehen.
Genau dafür – und dafür bin ich dankbar – soll das Deutsch-Polnische Haus, an dem wir gemeinsam arbeiten, stehen.
Für einen Ort, an dem man die Menschen sieht.
Für einen Ort, an dem wir uns als Menschen begegnen, als Frauen und Männer, als Kinder, als 17-jährige Deutsche und 96-jährige Polin.
Für einen Ort, für ein Europa, in der das Menschsein und die Menschenwürde aller Kinder, Frauen und Männer sicher ist.