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„Wir müssen die alten Blöcke aufbrechen“ - Außenministerin Baerbock im Interview mit Table.Media
Frage: Frau Baerbock, wir führen dieses Interview kurz nach Ihrer unplanmäßigen Rückkehr, eigentlich sollten Sie gerade in Neuseeland sein. Welcher Schaden ist der deutschen Außen- und Klimapolitik dadurch entstanden, dass Sie Ihre Reise nach Ozeanien abbrechen mussten?
Außenministerin Baerbock: Das schmerzt richtig. Seit 2011 war kein deutscher Außenminister mehr in Australien. Und auf den kleinen pazifischen Inselstaaten waren wir bislang gar nicht mit einer deutschen Botschaft vertreten. Da bringt es dann wenig, unsere Freundschaft in Sonntagsreden zu erklären. Freundschaft zeigt sich in der Diplomatie eben auch dadurch, dass man eine sehr lange Reise von über 20.000 Kilometern antritt. Um den Menschen und den Regierungen dort deutlich zu machen: für uns hat eure Region im 21. Jahrhundert eine große Bedeutung. Sicherheits- und klimapolitisch. Das können wir von Berlin aus an einem regnerischen Donnerstagnachmittag eben nicht so gut wie vor Ort in Neuseeland, Australien oder Fidschi. Deshalb eröffnen wir als Teil unserer Klimaaußenpolitik-Strategie, aber auch als Teil unserer China- und Indopazifik-Politik, endlich eine Botschaft in Fidschi – unsere erste in einem kleinen pazifischen Inselstaat überhaupt.
Frage: Wann werden Sie die Reise nachholen?
Außenministerin Baerbock: Dass ich die Reise abbrechen musste, ist auch deswegen so misslich, weil man 20.000 Kilometer nicht so einfach für einen Abstecher fliegen kann. Wir suchen jetzt nach freien Tagen am Stück in meinem unglaublich vollen Kalender, um die Reise definitiv nachzuholen. Manches kann man aber auch nicht nachholen. Die Botschaft kann ich nun nur virtuell mit eröffnen. Das ist natürlich nicht das Gleiche wie mit der Regierung Fidschis zusammen wie eigentlich geplant.
Frage: Sie wollten im Indopazifik ja auch zeigen, wie Klima-, Außen- und Geopolitik zusammengehen sollen. Wie haben wir uns das vorzustellen?
Außenministerin Baerbock: Geopolitik ist Klimapolitik, und Klimapolitik ist Geopolitik. Das ist Fachleuten seit Jahren bekannt, das hat man schon bei der Klimakonferenz 2015 in Paris gesehen. Warum war es so unglaublich schwierig, überhaupt ein globales Klimaabkommen zu verhandeln? Weil dahinter natürlich große geopolitische Fragen stehen – Technologieführerschaft bei erneuerbaren Energien, alte Reichtümer der fossilen Industrie, wer zahlt für Klimaschäden. Also alles enorme Machtfragen von Finanzpolitik, Einfluss und globaler Gerechtigkeit. Wenn ein kleiner Inselstaat zum x-ten Mal von einem Wirbelsturm getroffen wird, dann kann er irgendwann den Aufbau seiner Schulen, seiner Krankenhäuser nicht mehr bezahlen. Wenn wir bei Fragen, wer diesen Staaten dann unter die Arme greift, nicht da sind, dann bietet natürlich gerne China Hilfe an. Oftmals aber nicht ohne Gegenleistung. Das muss gar nicht so sehr ein Knebelkreditvertrag sein. Sondern im Zweifel auch das Abstimmungsverhalten bei der nächsten internationalen Konferenz.
Frage: Das heißt: Klima-Außenpolitik hat einen neuen Stellenwert?
Außenministerin Baerbock: Es zeigt sich immer mehr, dass die Klimakrise die Sicherheitsgefahr dieses Jahrhunderts ist und damit Klimapolitik auch Sicherheitspolitik ist. Wir haben ja auch im Ahrtal vor zwei Jahren erlebt, dass die Klima- und Sicherheitskrise auch vor unserem eigenen Land nicht Halt macht. Daher spielt die Klimapolitik auch in unserer Nationalen Sicherheitsstrategie eine große Rolle. Und wir haben ein neues Kapitel in der deutschen Außenpolitik aufgeschlagen, indem ich die Klimaaußenpolitik ins Auswärtige Amt geholt habe. Ohne dies wären Gespräche mit einer Vielzahl von Ländern definitiv schwerer. So spüren, sehen, hören gerade die Länder, die am meisten unter der Klimakrise leiden, in unseren Gesprächen, an unseren Botschaften, dass wir ihre vor allem klimabedingten Sicherheitssorgen endlich wirklich ernst nehmen.
Frage: Wie zeigt sich das konkret, etwa in Fidschi?
Außenministerin Baerbock: Die neue Botschaft in Fidschi ist unsere Klimabrücke in einen Hotspot der Geopolitik, der unglaublich weit weg, uns aber gerade geopolitisch so nah verbunden ist. Fidschi wirbt mit uns für stärkere CO₂-Minderungsziele auf den Klimakonferenzen. Fidschi ist das Zuhause des Pacific Islands Forum, zu dem neben Australien und Neuseeland auch ein gutes Dutzend kleine pazifische Inselstaaten gehören. Diese teilen auch unsere Werte in anderen internationalen Fragen. Sie alle haben in der Generalversammlung der UNO gegen den russischen Angriffskrieg gestimmt. Das heißt, die Klimapolitik öffnet gerade auch Türen für geostrategische Fragen. Aber wenn wir nicht klimapolitisch präsent sind, schließen sich diese Türen auch. Die Stimme jedes einzelnen Inselstaates zählt bei den Vereinten Nationen gleich viel wie die Stimme eines großen Industrielandes. Und trotzdem fragen sich diese Länder: Wenn wir so eng kooperieren, warum war dann noch keiner hier? Ich war letztes Jahr im Pazifikstaat Palau als erste deutsche Außenministerin seit 120 Jahren. Das war ein „Game Changer“ für unser Ansehen in der Region. Und auch die Menschen in Deutschland sahen plötzlich über die Fernsehbilder, wie tatsächlich durch den Meeresspiegelanstieg ein Haus droht, ins Meer zu rutschen. Wir bringen auch etwas ganz Konkretes mit in die Pazifik-Region. Zum Beispiel unser Angebot beim Ausbau der erneuerbaren Energien für die Pazifikinseln, die zum Teil noch von Dieselgeneratoren abhängig sind. Oder auch unsere Unterstützung bei wichtigen politischen Fragen wie der finanziellen Bewältigung von Verlusten und Schäden durch die Klimakrise.
Frage: Sie erhoffen sich dadurch also bessere Verhandlungsergebnisse, etwa bei den UN-Klimakonferenzen?
Außenministerin Baerbock: Wir arbeiten etwa mit den Marshallinseln, Vanuatu und auch Fidschi schon sehr eng im Klimabereich zusammen. Natürlich wollen diese Inselstaaten nichts Sehnlicheres als dass wir die globalen CO₂-Emissionen endlich gegen Null bekommen. Da werben wir auf Klimakonferenzen oft gemeinsam für. Aber wenn es dann gerade zwischen alten Industriestaaten und aufstrebenden globalen Kräften wie China, aber auch den Golfstaaten zum Schwur kommt, dann stehen die Inselstaaten nicht automatisch auf der Seite der EU, auch wenn wir klimapolitisch eigentlich ambitionierter sind.
Frage: Bisher sind diese Länder aber Teil der informellen „G77“-Gruppe, der Schwellen- und Entwicklungsländer mit China. Wollen Sie strategisch diese Länder bei Fragen der Klimapolitik auf Ihre Seite ziehen?
Außenministerin Baerbock: Genau diese alten Blöcke müssen wir aufbrechen. Denn die Klimakrise ist längst keine Blockfrage mehr. Wir kriegen die Klimakrise nur als Welt gemeinsam in den Griff oder gar nicht. Daher ist es so wichtig, dass diejenigen, die klimapolitisch wirklich etwas erreichen wollen, sich zusammentun. Egal ob Nord oder Süd. Schwellenland, kleiner Inselstaat oder europäische Industrienation. Und die Länder des Indopazifiks, wo viele der besonders vulnerablen Staaten liegen, spielen dabei eine wichtige Rolle. Daher gehört zu unserer China-Strategie eben nicht nur die Frage, wie wir unsere Beziehungen zu China in diesen geo- und klimapolitisch so heißen Zeiten neu justieren, sondern gerade auch, wie wir unsere Zusammenarbeit im Indopazifik ausbauen.
Frage: Wie soll das aussehen?
Außenministerin Baerbock: Das betrifft nicht nur die kleinen Inselstaaten, sondern auch die sehr großen Länder dort. Angela Merkel war als Bundeskanzlerin 2014 das letzte Mal in Australien, allerdings im Rahmen der G20. Die australischen Zeitungen haben sehr genau darüber berichtet, dass sie in ihrer Amtszeit über zehn Mal in China war. Das sind große, starke, gefestigte Demokratien wie Australien und Neuseeland, die ebenso spüren, dass unser Augenmerk bisher nicht so stark bei ihnen war. Aber eben auch kleine Inselstaaten, die die Charta der Vereinten Nationen und die regelbasierte Ordnung aus vollem Herzen so wie wir unterstützen. Alle diese pazifischen Inselstaaten haben sich gegen den russischen Angriffskrieg gestellt, weil sie als kleine Länder wissen: Ihre Lebensversicherung ist das internationale Recht. Wir müssen also nicht nur danke sagen, sondern klarmachen: Wir sehen auch eure Sicherheitssorgen, wie zum Beispiel die Klimakrise, aber eben auch den Einfluss Chinas. Mit den Salomonen hat China ein geheimes Sicherheitsabkommen geschlossen. Das erfüllt die Australier mit großer Sorge, die bisher eng mit den Salomonen zusammengearbeitet haben.
Frage: Bisher haben aber auch diese kleinen Staaten bei den Klimaverhandlungen immer mit China und gegen die EU gestimmt, wenn es hart auf hart kam.
Außenministerin Baerbock: Das stimmt zum Teil. Keiner dieser Staaten will von einem einzigen Land abhängig sein. Wir versuchen daher, den Inselstaaten konkrete Alternativen zu bieten, denn es geht nicht darum, dass sie sich auf die eine oder andere Seite schlagen. Auch deshalb sind wir dort so willkommen. Diese Reise, diese neue Botschaft – all das ist Teil des Programms. Dafür braucht man Vertrauen über Jahre und Jahrzehnte. Vertrauen bedeutet in der Diplomatie, dass man sich kennt, dass man sich gegenseitig besucht. Für mich war ein Schlüsselerlebnis die COP27 in Ägypten im letzten Jahr: bis zuletzt waren wir uns mit den kleinen Inselstaaten einig, dass wir mehr beim Klimaschutz machen müssen und das gemeinsam mit einem neuen Instrument für Schäden und Verluste verzahnen. Aber bei der entscheidenden Abstimmung haben sie sich in der Gruppe der G77 einsortiert, die da gebremst hat. Denn im Hintergrund machen Länder wie China massiven Druck auf eine Reihe dieser Staaten und sagen: wenn ihr euch jetzt bei der Klimapolitik gegen uns stellt, dann stellen wir uns im Zweifel bei anderen Fragen gegen euch. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir vertrauensvolle Beziehungen zu den kleinen Inselstaaten haben und diese weiter ausbauen. Genau das ist Ziel meiner Klimaaußenpolitik.
Frage: Teil Ihrer China-Strategie ist ja das „De-Risking“ – also weniger strategische Abhängigkeit. Aber bei der Klimapolitik sind alle abhängig von China. Wie funktioniert „De-Rrisking“, wenn Sie einerseits Konfrontation und andererseits Kooperation brauchen?
Außenministerin Baerbock: Sie kennen den Dreiklang aus der China-Strategie: wir sind Wettbewerber, Systemrivale, aber eben auch Partner mit China. Wir wollen mit China zusammenarbeiten. Aber wir wollen faire Zusammenarbeit. Und wenn das nicht möglich ist, müssen wir uns schützen. Etwa wenn China zum eigenen Wettbewerbsvorteil unfair an Technologie-Know-How herankommen möchte. Also: Zusammenarbeit mit China überall dort, wo möglich, insbesondere im Klimabereich. Und „De-Risking“, also strategische Souveränität Europas, wo nötig, weil ansonsten unsere Sicherheitsinteressen gefährdet sind.
Frage: Aber was passiert, wenn sich das überschneidet: Wenn also chinesische Solaranlagen möglicherweise mit Zwangsarbeit hergestellt werden?
Außenministerin Baerbock: Zwangsarbeit ist natürlich ein absolutes No-Go. Unser neues Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verbietet deutschen Unternehmen, in ihrer Wertschöpfungskette Produkte aus Zwangsarbeit zu nutzen. Und ich streite dafür, dass solche Produkte nicht auf den europäischen Markt dürfen. Es wäre ja auch eine absolute Marktverzerrung für europäische Firmen, die sich natürlich an die internationalen Kernarbeitsnormen halten. Dennoch haben wir natürlich unglaubliche Abhängigkeiten von China, gerade auch im Bereich von Solartechnik. Wir können als Europäer die Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien selber gar nicht erreichen, wenn wir hier nicht miteinander kooperieren. Zugleich müssen wir eben verhindern, dass wir da von China ähnlich abhängig werden, wie wir es von Russland bei der Gasversorgung waren, wo der Rohstoff als Waffe eingesetzt wurde. Deshalb nehmen wir ja sehr viel Geld in die Hand, um in Europa und in Deutschland zum Beispiel eine Produktion für Mikrochips und Batterien aufzubauen.
Frage: Chinas Stärke ist ja zum Teil auch die Schwäche des Westens: Gerade bei der Klimafinanzierung wird den Industriestaaten zurecht vorgeworfen, dass sie ihre Versprechen nicht einhalten – die nicht erreichten 100 Milliarden Dollar bis 2020 sind das schlechte Beispiel. Wie soll denn da das Vertrauen der ärmeren Staaten in den Globalen Norden wachsen?
Außenministerin Baerbock: Wenn wir unsere eigenen Versprechen zur Klimafinanzierung nicht erfüllen, machen wir es Ländern wie China natürlich sehr einfach, denen es nicht nur um Klimapolitik, sondern auch um systemische Abhängigkeiten geht. Das Versprechen der jährlichen 100 Milliarden Dollar bei der Klimafinanzierung zu halten, ist deswegen in unserem ureigenen Interesse. Und auch bei der Bewältigung von Verlusten und Schäden durch die Klimakrise voranzukommen, um denen zu helfen, die zu der Krise am wenigsten beigetragen haben. Deswegen hat der „Loss and Damage“-Fonds für mich solche Priorität. Deutschland jedenfalls steht zu seinen finanziellen Zusagen. Wir dürfen aber auch bei der Klimafinanzierung nicht naiv sein. Die klassischen Industriestaaten waren über Jahrzehnte für die Masse der globalen Emissionen verantwortlich. Wir haben unseren wirtschaftlichen Erfolg darauf aufgebaut. Deshalb müssen wir auch die nötige Anpassung, die Bewältigung von Schäden und Verluste finanziell unterstützen. Mit dem Umschwenken auf Erneuerbare haben wir ja zum Glück einen neuen Kurs eingeschlagen. Aber andere betreiben den Kohleausstieg eben nicht so intensiv wie wir. China ist mittlerweile der größte Emittent und hauptverantwortlich für gegenwärtige und kommende Schäden. Das müssen wir auch gegenüber kleineren Staaten deutlich machen: wenn ihr wollt, dass euch geholfen wird, dann stehen wir zu unserem Wort – aber ihr müsst auch Länder wie China oder die Golfstaaten mit in die Verantwortung nehmen.
Frage: Sie fordern, dass China und andere reiche Länder, die keine klassischen Industrieländer sind, sich an der Finanzierung des „Loss and Damage“-Fonds beteiligen, der auf der nächsten COP umgesetzt werden soll?
Außenministerin Baerbock: Ja, darüber habe ich auch auf meiner China-Reise gesprochen. Aber auch mit den Golfstaaten oder Ländern wie Korea. Auch wenn es alles andere als einfach ist. Das Thema „Loss and Damage“ ist die Büchse der Pandora der Klimapolitik. Viele hatten Angst, sie zu öffnen. Die bisherige Haltung von Europa und den USA war ja, darüber sollten wir gar nicht reden. Ich habe das immer für falsch gehalten. Denn als Außenministerin habe ich von Tag eins gespürt: Wir verspielen durch diese Weigerung das Vertrauen von wahnsinnig vielen Ländern auf der Welt, und das sind nicht nur die Inselstaaten, das sind auch viele Staaten in Afrika. Deshalb habe ich vor einem Jahr beim Petersberger Klimadialog gesagt, wir wollen dieses Thema angehen. Das hat mir auch gerade bei Partnern und Freunden nicht nur Applaus eingebracht, aber das war ein Türöffner für ganz viele Länder auf dieser Welt, die uns Industriestaaten sonst eher skeptisch gegenüberstehen. Die gemerkt haben: die Deutschen meinen es wirklich ernst mit ihrer Verantwortung in der Klimapolitik.
Frage: Ist das noch so? Welchen Ruf hat denn Deutschland bei Ihren Gesprächspartnern in der Welt der Klimapolitik? Wir waren mal „Home of the Energiewende“, aber inzwischen sind andere schneller und entschlossener.
Außenministerin Baerbock: Nachdem Deutschland die Energiewende ja sozusagen erfunden hat, hat der gute Ruf in den Jahren danach massiv Schaden genommen. Weil es ja eine Phase der Großen Koalition gab, in der sie dem Ausbau der Erneuerbaren jegliche Steine in den Weg gelegt haben und auch vom Kohleausstieg nichts wissen wollten. Das hat uns leider auch die Solarindustrie gekostet, die nach China abgewandert ist. Und dann hatten wir diese riesige Abhängigkeit vom russischen Gas. Für die damalige Bundesregierung galt eine Gaspipeline ja stets als rein wirtschaftliches Projekt und weder geopolitisch noch klimapolitisch als problematisch. All das hat natürlich an unserem bisherigen guten deutschen Ruf als Klimavorreiter genagt und deswegen war es uns als neuer Bundesregierung so wichtig, deutlich zu machen: Klimapolitik hat jetzt Priorität. Klimaschutz ist keine reine Umweltfrage, sondern Klimaschutz ist Industriepolitik, Klimaschutz ist Sicherheitspolitik, Klimaschutz ist Gesundheitsschutz und damit eine Querschnittsaufgabe einer jeden modernen Regierung.
Frage: Auch Ihre Ampelregierung bekommt vom Expertenrat bescheinigt, dass die Anstrengungen nicht ausreichen. Wie zufrieden sind Sie denn mit der Klima-Innenpolitik?
Außenministerin Baerbock: Wenn man über Jahre, um nicht zu sagen ein Jahrzehnt, Klima- und Energiepolitik verschlafen hat, dann geht der Wandel in einem Industriestaat nicht über Nacht. Und verschlafen ist schon eine Beschönigung, wenn ich an Teile der Union denke, die bewusst die ganzen ersten Erfolge der erneuerbaren Energien kaputt machen wollten. Wir haben daher als Ampel die Grundsatzentscheidung getroffen, bis zur Mitte der 2040er Jahre als Land klimaneutral zu sein und auch Infrastrukturinvestitionen darauf auszurichten. Und auch unser Zwischenziel ist klar definiert: bis 2030 mindestens 80 Prozent Erneuerbare, damit müssen wir die verlorenen Jahre zumindest zum Teil wiedergutmachen. Entsprechend haben wir im Koalitionsvertrag den Kohleausstieg vorgezogen und seit dem russischen Angriff auf die Ukraine noch einmal beschleunigt. Die reaktivierten Kohlereserven sind längst wieder durch Erneuerbare ersetzt. Und nach der Energiewende im Strombereich – im Mai hatten wir übrigens bereits 66,2 Prozent erneuerbar produzierten Strom – gehen wir jetzt endlich auch den Wärmebereich an.
Frage: Im Dezember bei der COP28 in Dubai könnte ein Kompromiss ja sein: Ein globales Ziel für Erneuerbare, mehr Energieeffizienz, eine Reduktion beim Methan und dafür das Versprechen, die 100 Milliarden Klimafinanzen zu schaffen – und einen fossilen Ausstieg zu organisieren mit viel CCS-Technologie, was die Ölländer wünschen. Wäre das ein Erfolg?
Außenministerin Baerbock: Wir brauchen bei der Weltklimakonferenz in Dubai eine Kurskorrektur. Denn wir sind nicht auf dem Pfad, um 1,5-Grad in Reichweite zu halten. Und zugleich wissen wir, solche Konferenzen sind kein „Wünsch Dir was“. Gerade die Einigkeit bei der weiteren, so dringenden CO₂-Reduktion wird schwer. Erst recht, weil einige CCS – also die Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff – als Wunderwaffe für alles sehen. Ich habe daher beim Petersberger Klimadialog dieses Jahres ein neues globales Ziel, nämlich eine Verdreifachung der globalen Kapazität der Erneuerbaren vorgeschlagen. Das müsste begleitet werden von einer Verdopplung der Energieeffizienz, dem Ausstieg aus unverminderten fossilen Energieträgern, Unterstützungsangeboten für Entwicklungsländer. Und wir brauchen internationale Finanzinstitutionen, die in der Lage sind, Investitionen in diese globale Transformation zu unterstützen. Unsere Solidarität mit den besonders vulnerablen Staaten, insbesondere den Inselstaaten, braucht Fortschritte beim „Loss-and-Damage“-Fonds. Wir müssen genau sehen, wie weit wir zu diesem Idealziel kommen und welche Weichen dahin zu stellen sind. Denn die gesamte Welt, auch gerade die Golfstaaten, haben verstanden: technologisch sind die Erneuerbaren die Zukunft. Deshalb fahren Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch Katar oder Saudi-Arabien alle zweigleisig. Die machen natürlich weiter ihr Geschäft mit Öl und Gas, bauen parallel aber die modernsten Solarkraftwerke der Welt und setzen auf den Export von grünem Wasserstoff. Und sie schieben die Verantwortung für die Unterstützung der vulnerablen Entwicklungsländer uns zu.
Frage: Gerade bei Petersberg ist auch der Unterschied deutlich geworden: als der COP-Präsident al Jaber sagte, er wolle einen Ausstieg aus den Emissionen, nicht aus den Brennstoffen – also möglichst viel CCS. Und Sie sagten, man brauche einen fossilen Ausstieg, also Schluss mit den ganzen fossilen Brennstoffen. Wird dann die EU auf den CCS-Kurs der Ölstaaten einschwenken, wie sie es schon angedeutet hat?
Außenministerin Baerbock: Genau das ist ein gutes Beispiel, welche Weichen eben schwerer zu stellen sind. Wir sind da mit den Golfstaaten noch nicht einig. Aber dann darf man nicht die Flinte ins Korn werfen. Sondern wir müssen in die Details der Klimaaußenpolitik gehen: Was ist deren Interesse? Solange es geht, noch Geld aus fossilen Energien zu machen. Wie kann man das vielleicht so gestalten, dass es für das Klima nicht schädlich ist? Es gibt Bereiche, wo wir ohne CCS- und CCU-Technologien nicht auskommen können. Das ist ziemlich unstrittig. Aber wir müssen sehr genau definieren, wofür CCS und CCU gebraucht wird und wie es langfristig sicher eingesetzt werden kann. Es kann kein Ersatz sein für den weiteren Ausbau der Erneuerbaren, die zur Verfügung stehen, günstig sind, und die etwa beim Strom ohne Probleme zu hundert Prozent die fossilen Energieträger ersetzen können.
Frage: Aber wo finden Sie denn dafür Verbündete? Das ist die deutsche Position, aber schon nicht mehr die EU-Position. Und auch die USA sind da nicht an Bord. Mit wem wollen Sie das durchsetzen?
Außenministerin Baerbock: In der EU ist die Positionierung ja noch nicht abgeschlossen. Und Diplomatie heißt gerade auch für seine Position zu werben, Allianzen zu schmieden. Und es ist auch nicht so, dass wir keine Verbündeten hätten. Insbesondere die Staaten, die eben keine großen Einnahmen aus dem Ölgeschäft oder große Industrien haben, aber bereits unter den Klimaauswirkungen leiden und die genau wissen: jedes Zehntelgrad Erderwärmung entscheidet über das Schicksal ihres Landes. Das sind in Summe sehr viele Länder, und zwar in allen Ecken der Welt. Und gerade deswegen müssen wir unsere Beziehungen in diese Ecken weiter ausbauen. Wie im Indopazifik. Womit wir wieder bei der Reise wären. Ob wir bei der nächsten und den folgenden Klimakonferenzen vorankommen, hängt entscheidend davon ab, ob alle wie immer in ihre alten Machtblöcke des letzten Jahrhunderts zurückfallen wie „G77“ und „Industriestaaten“. So kommen wir nicht weiter. Wir brauchen neue Klima-Allianzen. Zwischen Industriestaaten und den von der Klimakrise so heftig Betroffenen. Das wird entscheidend für die Klimapolitik der nächsten Jahre.
Interview: Bernhard Pötter