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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock anlässlich der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der deutschen Vertretungen in den EU-Mitgliedstaaten und der Ständigen Vertretung bei der EU

21.04.2023 - Rede

„Wir wollen, dass unsere Kinder und unser Land in Freiheit leben und nicht im Hinterhof eines mächtigen Nachbarlandes, das uns diktiert, was wir zu tun oder zu lassen haben.“ Mit diesen Worten haben mir georgische Anwältinnen in Tiflis erklärt, warum sie sich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass ihr Land Mitglied der Europäischen Union wird.

Für diese Frauen in Georgien bedeutet die Europäische Union Frieden, Versöhnung und Wohlstand. Aber vor allen Dingen bedeutet sie eines: Freiheit. Und genau das höre ich als Außenministerin in so vielen Gesprächen, wenn ich unterwegs bin, vor allen Dingen von jungen Menschen, von Schülerinnen und Schülern, aber auch von Journalisten und Ministerinnen – auf dem Westbalkan, in Moldau oder in der Ukraine.

Die Menschen dort wünschen sich den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union, weil hier freie Wahlen stattfinden, weil Medien frei berichten und Gerichte unabhängig arbeiten können. Und sie wünschen sich diesen Beitritt, weil Länder in der Europäischen Union frei sind, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Denn auf sich allein gestellt, ohne starke Freunde, wären wir alle, jedes unserer Länder, genau dafür zu schwach.

Die EU ist eine Gemeinschaft von Staaten und Menschen, die gemeinsam frei sein wollen und die nur gemeinsam stark und frei sein können.

Diese Idee von der Europäischen Union als eine Gemeinschaft der Freiheit war uns in Deutschland, besonders im westlichen Teil, lange zu wenig bewusst, weil Freiheit für uns so selbstverständlich schien. Aber diese Idee hat in historischen Momenten immer wieder Menschen geleitet, als sie unser heutiges Europa bauten.

Lieber Jose Manuel, seit den 1970er Jahren zog es Spanierinnen und Portugiesen in die Europäische Gemeinschaft, nachdem sie die Diktatur abschütteln konnten, weil sie frei sein wollten.

Nach 1989 strebten die Menschen nach der friedlichen Revolution in der DDR und den Staaten Mittel- und Osteuropas in die Europäische Union und in die NATO, weil sie frei sein wollten.

Und ich will daran erinnern, dass es die Menschen in Mittel- und Osteuropa waren, die sich zuerst gegen Diktatur und Gewaltherrschaft auflehnten und damit das Fundament legten für die deutsche Wiedervereinigung und für ein freies, gemeinsames Europa.

Deshalb sollte uns immer bewusst sein – und ich habe das am 3. Oktober auch in unserem Nachbarland, in Polen, in Warschau gesagt: Natürlich wäre der Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern in die EU am 1. Mai 2004 nicht ohne die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 denkbar gewesen.

Aber genauso wenig können wir den 3. Oktober 1990 ohne den 1. Mai 2004 denken. Denn ein wiedervereinigtes Deutschland gehört in ein geeintes, freies Europa – gemeinsam mit seinen östlichen Nachbarn. Daran sollten wir denken, wenn wir heute wieder die riesige Anziehungskraft der Europäische Union auf Millionen von Menschen in Europa sehen. Wir erleben wieder so einen historischen Moment, in dem es unsere Generation in der Hand hat, die Europäische Union als unsere Gemeinschaft der Freiheit weiterzubauen.

Denn wir Europäerinnen und Europäer stehen vor einer Welt im Umbruch, in der diese Freiheit offensichtlich nicht vom Himmel fällt. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den europäischen Frieden erschüttert. Autokratische Staaten untergraben das Völkerrecht und nutzen ihre wirtschaftliche Macht, um politische Ziele durchzudrücken.

Unsere Demokratien stehen unter Druck durch Cyberangriffe, Online-Trolle und Desinformationskampagnen, die gesamte Gesellschaften spalten können.

All das zeigt: Wir müssen uns als Europäer leider auf eine dauerhafte systemische Rivalität mit autokratischen Mächten einstellen.

Dabei ist die Europäische Union auch heute unsere Freiheitsversicherung – für unsere Menschen und für unsere Staaten.

Ich freue mich, lieber José Manuel, dass eure spanische Ratspräsidentschaft genau die Themen betont, mit denen wir die Europäische Union als Freiheitsgemeinschaft stärken.

Gemeinsam werden wir den Ukrainern und Ukrainern in ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg weiter beistehen, solange wie nötig. Denn ein echter Frieden in der Ukraine kann nur auf Freiheit und nicht auf Unterwerfung wachsen.

Wir werden an der Seite der Menschen in Moldau und in den Staaten des Westbalkans stehen und ihnen klarmachen, dass wir es ernst meinen mit der europäischen Perspektive ihrer Länder. Und zur Ehrlichkeit gehört: Zu oft wurden sie von uns enttäuscht.

Gleichzeitig wird Spanien seine besondere Expertise einbringen, damit wir über Europa hinaus Partnerschaften stärken in der südlichen Nachbarschaft, in Lateinamerika und insbesondere in den Themenfeldern Klimaschutz und Energiewende.

Lieber José Manuel, wir haben heute auch wieder darüber gesprochen, dass, wenn ihr Unterstützung braucht, ihr euch in den kommenden Monaten auf uns verlassen könnt, dass wir auch da an eurer Seite stehen.

Ich weiß von José Manuel, dass wir uns in drei weiteren Punkten einig sind:

Erstens wird die Europäische Union als Freiheitsgemeinschaft in der Welt nur erfolgreich sein, wenn sie gemeinsam mit den Vereinigten Staaten handelt. Europäische Souveränität und transatlantische Partnerschaft sind zwei Seiten einer Medaille.

Das zeigen uns gerade die NATO-Beitritte unserer Partner Finnland und hoffentlich bald auch Schweden. Sie stärken unsere gemeinsame Freiheit auf beiden Seiten des Atlantiks.

Zweitens werden wir als Europäische Union gegenüber einem Akteur wie China nur handlungsfähig sein, wenn wir als Union geschlossen gegenüber Peking auftreten. Nur gemeinsam können wir Risiken und einseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten abbauen, mit einem “De-Risking”.

Eine solche europäische Geschlossenheit gegenüber China als Partner, Wettbewerber und systemische Rivale wird auch Kern der neuen deutschen China-Strategie sein, an der wir gerade arbeiten.

Drittens sind José Manuel und ich uns einig, dass die Europäische Union in der Welt nur glaubhaft sein kann, wenn sie Freiheit auch zu Hause als kostbares Gut behandelt – und zwar jeden Tag. Deswegen sage ich hier einmal ganz deutlich: Wir werden in Zukunft noch entschiedener auftreten, wenn in unserer Union Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterlaufen werden.

Wir können in der Europäischen Union über Subsidiarität diskutieren, über Richtlinien und Verordnungen, über die Verteilung von Kompetenzen zwischen Brüssel und nationalen Hauptstädten – mit viel Leidenschaft.

Aber worüber wir nicht diskutieren können, ist, dass die DNA unserer Gemeinschaft die freien Gesellschaften sind: die Unabhängigkeit von Richterinnen, die Freiheit von Journalisten und die Würde eines jeden einzelnen Menschen.

Die Europäische Union vereint Demokratien, die zu Recht stolz sind auf ihre so unterschiedlichen Kulturen und Geschichten. Diese Vielfalt macht uns stark. Und deswegen leben wir diese Vielfalt jeden Tag.

Aber der Verweis auf nationale und kulturelle Eigenständigkeit rechtfertigt es nicht, die Grundrechte von Minderheiten, die Grundrechte von Frauen oder LGBTIQ-Personen zu untergraben.

Jeder Mitgliedstaat muss seinen Bürgerinnen und Bürgern diese Grundrechte garantieren. Denn es sind diese Rechte, die unsere Europäische Union ausmachen, als eine Gemeinschaft der Freiheit, auch der individuellen Freiheit.

Für diese Gemeinschaft ist noch etwas entscheidend: Die Erkenntnis, dass der beste Schutz für unsere Freiheit unser Zusammenhalt ist. Nicht die Kommission oder der Gerichtshof bedrohen die Souveränität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern eine zersplitterte Union, in der jeder nur noch auf sich schaut oder auf seine unmittelbare Nachbarschaft.

Um es ganz klar zu sagen: Es ist unsere Solidarität miteinander, die unsere Handlungsfähigkeit sichert – und zwar die gemeinsame Solidarität aller Mitgliedstaaten in Nord und Süd, in West und Ost.

Lieber José Manuel, zwischen Madrid und Tallinn liegen fast 3000 Kilometer. Und trotzdem steht dein Land seinen Partnern in Mittel– und Osteuropa gegen die Bedrohung aus Russland felsenfest bei, in der EU und in der NATO.

Genau diese europäische Solidarität nützt jedem einzelnen Mitgliedstaat. Denn nur mit einer einigen Europäischen Union sind wir auf Dauer stark.

Diese Einigkeit der Europäischen Union wollen wir stärken, auch mit einem Update unserer Entscheidungsprozesse. Gerade in einer zukünftigen Europäischen Union mit über 30 Mitgliedern müssen wir weiter schnell und effektiv entscheiden und handeln können.

Deshalb setzen wir uns gemeinsam – wir beide aber auch mit unseren Auswärtigen Ämtern beziehungsweise Außenministerien und Regierungen – für mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit in der gemeinsamen Außenpolitik ein.

Gemeinsam mit weiteren Partnern werden wir Vorschläge machen, wie wir dabei vorankommen. Pragmatisch, mit Geduld und Schritt für Schritt.

Ich weiß, es wird Mühe kosten, genau in diesen Bereichen Fortschritte zu machen. Mit einigen von Ihnen habe ich das auch schon diskutiert, gerade bei den Ländern, die etwas skeptischer sind.

Aber Mühe kostet es immer, wenn wir Europa voranbringen wollen.

Ich weiß auch, – und das ist das Gute an der Sache – dass wir dabei auf Sie gemeinsam zählen können, die Leiterinnen und Leiter unserer Auslandsvertretung in der Europäischen Union.

Viele von Ihnen haben Monate sehr harter Arbeit hinter sich, um gemeinsam mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, genau solche Projekte, die Mühe kosten, voranzubringen.

Deshalb möchte ich Ihnen persönlich – aber bitte gerne auch an Ihre Mitarbeitenden weitergeben – herzlich Danke sagen, dass wir in diesem Ausnahmejahr der Europäischen Union, das ja jetzt leider schon länger als zwölf Monate dauert, jederzeit auf Sie zählen konnten, auch wenn das immer wieder mächtigen Gegenwind bedeutet hat.

Auf Sie alle wird es ankommen, wenn wir die Europäische Union als unsere Gemeinschaft der Freiheit weiter stärken wollen – als eine Union, die sich die Anwältinnen, die ich in Tiflis getroffen habe, für ihre Kinder wünschen. Eine Union, in der Menschen frei sind und Staaten keine imperialen Hinterhöfe haben. Herzlichen Dank.

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