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Eröffnungsrede von Außenministerin Baerbock auf der Konferenz „Stärkung der Demokratie – Auf dem Weg zu widerstandsfähigen Institutionen und Gesellschaften in den G7 und in Afrika“
Wir finden sie auf den Titelseiten der Tageszeitungen. Abgeordnete sorgen sich darüber in ihren Fraktionssitzungen. Regierungschefs bereiten sie schlaflose Nächte.
Ich spreche nicht von politischen Skandalen. Ich spreche von Meinungsumfragen. Und auch wenn unter Politikerinnen und Politikern manchmal zu viel Aufregung um sie herrscht – je nachdem, wie gut die Umfragewerte gerade sind – helfen sie uns dabei, bessere Demokratien zu bauen. Indem sie Bürgerinnen und Bürger einbeziehen und Informationen darüber liefern, was in einer Gesellschaft gut läuft und was nicht – und damit Regierungen in die Verantwortung nehmen.
Deshalb ist Meinungsforschung auch ein guter Einstieg in diese Konferenz zu Demokratie in Afrika und den G7-Staaten. Natürlich haben unsere Länder, in den G7 und auch in Afrika, unterschiedliche Politikstile und Kulturen, unsere Demokratien sind alle einzigartig und unterscheiden sich stark. Aber Meinungsumfragen zeigen zwei Entwicklungen, die all unsere Nationen gemein haben.
Auf der einen Seite unterstützt jeweils eine große Mehrheit unserer Bevölkerungen die Demokratie. Laut einer Afrobarometer-Umfrage – Professor Gyimah-Boadi wird uns gleich mehr darüber erzählen – sind rund 70 Prozent der Menschen in Afrika der Ansicht, dass die Demokratie jeder anderen Regierungsform vorzuziehen ist. In den G7-Staaten sind die Werte ziemlich ähnlich.
Auf der anderen Seite zeigen Umfragen aber auch, dass Bürgerinnen und Bürger immer weniger zufrieden damit sind, wie Demokratien funktionieren und was sie leisten.
Das zeigt: Der demokratische Fortschritt, der in den letzten Jahrzehnten erzielt wurde, ist echt und erwünscht – in Europa wie in Afrika. Gleichzeitig besteht jedoch kein Zweifel, dass Demokratie unter Druck geraten ist.
In schwierigen Situationen haben Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, dass ihre Regierungen nicht schnell genug liefern. Ich denke, das haben wir in der Pandemie gesehen, und jetzt bei den steigenden Energiepreisen. Und in manchen Ländern ignorieren Staatschefs selbst Wahlergebnisse und verhöhnen so die Legitimität demokratischer Institutionen.
Demokratien sind zudem unter Druck, weil sie auf den ersten Blick scheinbar nicht die Werkzeuge haben, um schnelle Lösungen zu produzieren. Im Gegensatz zu Führern in autokratischen Regimen muss das Führungspersonal in Demokratien – Gott sei Dank – Mehrheiten in Parlamenten und Regierungen erarbeiten. Das dauert Zeit – und vor allem dauert es länger als in einem autokratischen Regime, wo ein sogenannter „starker Führer“ auf den Tisch schlägt und sagt: „So machen wir das jetzt“. Wir brauchen Zeit, um Entscheidungen zu treffen, um Parlamentarier von grundlegenden Reformen zu überzeugen.
Und im Gegensatz zu autokratischen Regimen geben Demokratien Populisten und autokratischen Kräften die Möglichkeit, Fake News, falsche Narrative und Desinformation über ihre Handlungen, aber auch über demokratische Entscheidungen zu verbreiten – das haben wir in der Pandemie gesehen. Mit diesem Instrument zielen sie darauf, das Vertrauen in unsere offenen Gesellschaften zu untergraben.
Die Herausforderungen, vor denen die Demokratie steht, sind also real. Und sie bestehen nicht isoliert voneinander. Sie betreffen uns alle. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir als Demokratien unsere Kräfte bündeln sollten, um zu sehen, wie wir gemeinsam am besten mit diesen Herausforderungen umgehen können – über Länder und Kontinente hinweg.
Doch bevor ich das weiter ausführe, möchte ich einige wichtigen Punkte ansprechen.
Zuallererst: Es gibt nicht die eine perfekte Form von Demokratie. Es gibt vielmehr verschiedene Arten und Varianten, an vielen verschiedenen Orten – einige haben Koalitionsregierungen, andere ein Präsidialsystem. Was uns alle verbindet ist unser Einstehen für Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte und Grundfreiheiten. In Demokratien mag man Wahlen mit populistischen Schritten gewinnen, das haben wir gerade erst gesehen. Aber um als Regierung in einer Demokratie erfolgreich zu sein, muss man verantwortungsvoll regieren.
Zudem sind Demokratien nie „fertig“ – sie sind eher wie ein Prozess. Sie verändern sich und entwickeln sich ständig fort – weil sich eben auch Menschen verändern und fortentwickeln.
Und schließlich weiß ich sehr wohl, dass wir als G7 und insbesondere als Europa uns unserer Position sehr bewusst sein sollten, wenn wir über Demokratie in Afrika sprechen. Dass sich die Demokratie in mehreren afrikanischen Ländern durchgesetzt hat, geschah meist überwältigenden Widrigkeiten zum Trotz. Denn das Erbe des Kolonialismus stellte eine schwere Bürde für die neuen unabhängigen Staaten Afrikas dar. Die Kolonialmächte spalteten Gemeinschaften nach dem Prinzip „teile und herrsche“ und zogen Grenzen so, wie es ihnen passte. Damit hatte es die Demokratie schwer, Fuß zu fassen. Und auch nach der formalen Unabhängigkeit stärkten externe Mächte undemokratische Machthaber in Afrika, um ihre Interessen zu wahren und das zu sichern, was sie als Stabilität erachteten. All dessen sind wir uns bewusst.
Deshalb ist es mir heute bei der Eröffnung dieser Konferenz sehr wichtig, dass unser wichtigstes Ziel hier das Zuhören ist: Nicht zu predigen, sondern zuzuhören, anderen Sichtweisen gegenüber offen zu sein. Und die Wunden der Vergangenheit anzugehen, aber auch die gemeinsamen Herausforderungen, vor denen wir im Hier und Jetzt stehen.
Das ist das Ziel dieser Konferenz: Zuzuhören, Ideen auszutauschen, zu lernen – damit wir Demokratie – und unsere Demokratien – in diesen turbulenten Zeiten verbessern und stärken können.
Und ich möchte vorschlagen, dass wir damit beginnen, indem wir auf drei Bereiche blicken:
Erstens die zunehmende Missachtung wesentlicher demokratischer Regeln und Grundsätze.
Wir alle haben am 6. Januar letzten Jahres ungläubig die Bilder einer gewalttätigen Menschenmenge vor dem Kapitol in Washington gesehen, die versuchte, das Ergebnis einer demokratischen Wahl umzuwerfen. In der Europäischen Union nehmen wir mit Sorge zur Kenntnis, dass einige Regierungen die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechte von Minderheiten untergraben. In Afrika erleben wir, dass Präsidenten sich Verfassungen so zurechtbiegen, dass sie ihre Amtszeiten verlängern können.
Und in Russland war es schon vor dem skrupellosen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine zentrale Strategie Präsident Putins, die Demokratie anzugreifen und sein Land immer autokratischer zu machen – indem er freie und unabhängige Medien unterdrückte, die Opposition ins Gefängnis steckte und die Zivilgesellschaft angriff. Diese Entwicklung sollte ein Warnsignal sein für alle unsere Demokratien.
Unsere Reaktion auf all das muss entschieden ausfallen. Wenn Rechte beschnitten werden, ist dies oft ein erstes Anzeichen dafür, wohin die Reise geht. Die Rechte und Freiheiten von nichtstaatlichen Organisationen, von Journalistinnen und Journalisten, von Frauen und Mädchen sind ein Gradmesser für den Zustand einer Demokratie. Dasselbe gilt für die Unabhängigkeit von Gerichten, Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden.
Auf der anderen Seite sehen wir gute Beispiele dafür, was unabhängige Institutionen erreichen können: In Südafrika bei der juristischen Untersuchung der Periode der sogenannten „State Capture“ – oder auch bei der Annullierung der Wahlen von 2019 in Malawi durch das dortige Verfassungsgericht aufgrund von Unregelmäßigkeiten. Solche positiven Entwicklungen wären ohne den Rückhalt resilienter Gesellschaften und unabhängiger Institutionen nicht möglich.
Auf ähnliche Weise können jenseits der nationalen Ebene regionale Organisationen eine entscheidende Rolle bei der Wahrung demokratischer Grundsätze spielen. Ich denke hierbei an die wichtige Rolle von ECOWAS in den demokratischen Transitionen in Westafrika und an die Arbeit der Europäischen Union zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit auf unserem Kontinent. Zum Beispiel mit dem Rechtstaatsmechanismus, der zu Streichungen von EU-Geldern für Mitgliedsstaaten führen kann, wenn dort Grundfreiheiten unter Druck geraten.
Und auf internationaler Ebene haben wir alle ein Interesse an starken internationalen Gerichtshöfen und einem effektiven Menschenrechtsrat als einem Forum für offene und ehrliche Debatten.
Mein zweiter Punkt ist, dass Demokratien gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern „liefern“ müssen.
Bei meinem Besuch in Mali vor drei Monaten habe ich drei Frauen getroffen, die mir gesagt haben: „Ja, Wahlen sind sehr wichtig. Aber wir brauchen auch dringend Sicherheit. Wir wollen auf den Markt gehen können, ohne Angst haben zu müssen, auf dem Weg dorthin vergewaltigt oder entführt zu werden. Derzeit bleiben wir aus Angst meistens zu Hause – wie sollen wir da zu Wahlen gehen?“
Diese Frauen haben recht: Bei Demokratie geht es um viel mehr als darum, alle vier oder fünf Jahre Wahlen abzuhalten. Bei Demokratie geht es um Regierungen, die ihren Bürgerinnen und Bürgern dienen – und darum, dass alle Mitglieder der Gesellschaft sich beteiligen: Insbesondere auch junge Menschen, Minderheiten, Frauen und Mädchen.
Deshalb freue ich mich, heute hier so viele Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft zu sehen – denn es ist Ihrer Arbeit zu verdanken, dass die Stimme der ganzen Bevölkerung gehört wird – und dass Regierungen für alle Bürgerinnen und Bürger in die Verantwortung genommen werden.
In Deutschland verfolgen wir eine feministische Außenpolitik, die genau darauf abzielt: die gesamte Gesellschaft einzubinden. Denn kein Land, keine Volkswirtschaft, keine Gesellschaft der Welt kann es sich leisten, die Hälfte der Bevölkerung vom öffentlichen Leben auszuschließen. Und wie ich schon gesagt habe: Die Rechte von Frauen sind ein Indikator für den Zustand einer Gesellschaft. Wir sehen das gerade wieder im Iran: Wenn Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher in einem Land.
Und die politische Beteiligung von Frauen führt dazu, dass Demokratien besser werden: Eine Studie des US-Senats hat gezeigt, dass Senatorinnen eher mit der anderen Partei zusammenarbeiten und mehr Gesetze verabschieden als ihre männlichen Kollegen.
Und wo wir schon beim Thema Frauen in Parlamenten sind: Hier können die G7-Staaten viel von ihren afrikanischen Partnern lernen. In einigen Parlamenten afrikanischer Länder ist der Anteil von Frauen höher als in Europa oder Amerika. Rund 44 Prozent der Abgeordneten des neu gewählten Parlaments von Senegal sind Frauen – wenn ich nach Deutschland schaue in mein Parlament, liegt dieser Wert nur bei 34 Prozent im Deutschen Bundestag. Unsere Parlamente sind dafür da, die Bevölkerung zu repräsentieren – deshalb müssen sie die Vielfalt unserer Gesellschaften widerspiegeln.
Doch das allein reicht nicht aus: Unsere Bürgerinnen und Bürger erwarten auch Sicherheit, Gesundheitsversorgung und wirtschaftlichen Fortschritt. Frau Ezekwesili, Sie hatten Recht, als Sie vor einiger Zeit gesagt haben: „Der Ausweg für unsere Jugend lautet Bildung und Jobs, Jobs, Jobs.“
In den letzten Jahrzehnten haben die Demokratien Afrikas viele Fortschritte in Bezug auf solche Forderungen gemacht. Eines der bekanntesten Beispiele ist natürlich Ghana, Frau Ministerin Botchwey. Durch Demokratie und gutes staatliches Handeln hat sich Ihr Land zu einem Land mit mittlerem Einkommen und einem Stabilitätsanker in seiner Region entwickelt.
Doch heute stehen Sie genauso wie viele andere afrikanische Staaten vor einem regelrechten Krisensturm. Die Pandemie und steigende Energie- und Lebensmittelpreise haben Ihre Volkswirtschaften schwer getroffen. Die Klimakrise mit Dürren und sengender Hitze entzieht Bäuerinnen und Bauern ihre Lebensgrundlage, während anderswo Überflutungen alles auslöschen, was Menschen aufgebaut haben. Und einige der gewaltsamsten Konflikte des Kontinents spielen sich gleich hinter der Grenze von vergleichsweise freien und stabilen Gesellschaften ab und drohen auf diese überzugreifen.
Jetzt ist der Moment, in dem wir als Partnerinnen und Partner gemeinsam Lösungen zu diesen verschiedenen Herausforderungen finden müssen. Das bedeutet wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung in akuten Krisensituationen. Das bedeutet, dass die Industrieländer ihren eigenen Verpflichtungen nachkommen – durch Klimafinanzierung, durch Partnerschaften für die Energiewende wie diejenige, die Deutschland und seine Partner derzeit mit Südafrika aufbauen.
Und es bedeutet, im Bereich Sicherheit zusammenzuarbeiten, so wie wir es im Rahmen der G7-Gruppe der Freunde des Golfs von Guinea tun, deren Vorsitz wir dieses Jahr gemeinsam mit Côte d’Ivoire innehaben und in der wir für mehr maritime Sicherheit arbeiten.
Solidarität und die Anerkennung der Position unserer Partner – das ist hier jeweils die Lösung.
Das gilt auch für die dritte Herausforderung der Demokratie, über die ich sprechen möchte: Angriffe von inneren und äußeren Akteuren.
Populisten und Extremisten verbreiten Lügen und Hass, Rassismus und religiösen Radikalismus. Autoritäre Staaten versuchen, unsere Demokratien durch Desinformationskampagnen auszuhöhlen.
Doch wir sehen dem nicht tatenlos zu: Wir verstehen immer besser, wie unsere Widersacher arbeiten: Zivilgesellschaftliche Gruppen in Afrika und in Europa leisten beeindruckende Arbeit, indem sie aufzeigen, wie Russland Troll-Farmen und TV-Netzwerke zu Propagandazwecken aufbaut, wie es Journalistinnen und Journalisten kauft, um Artikel auf Nachrichten-Websites zu beeinflussen.
Und in einem zweiten Schritt wehren wir uns. Indem wir selbst faktenbasierte Informationen zur Verfügung stellen, indem wir Lügen durch schnelle Tweets widerlegen – aber auch, indem wir unsere Gesetze so anpassen, dass wir gegen strafbare Inhalte im Internet vorgehen können.
Frau Ministerin Botchwey, Sie haben im Sicherheitsrat darüber gesprochen, wie wir gegen extremistische Gruppen vorgehen können, die Hetze und Desinformation nutzen, um Misstrauen zwischen Blauhelmen und der ansässigen Bevölkerung in Afrika zu schüren – beispielsweise durch Projekte, in denen die Menschen vor Ort Informationen über die Arbeit der Peacekeeper erhalten. Ich danke Ihnen für diese wichtige Rede – denn sie hat der Welt gezeigt, wie Desinformation unsere vereinten Nationen teilen kann.
Deshalb sind wir bei der heutigen Konferenz auch hier, um von Ihrem Beispiel zu lernen – und voneinander zu lernen über verschiedene Ideen und Initiativen, um so gemeinsam stärker zu werden.
Meine Damen und Herren,
die Herausforderungen, vor denen die Demokratie steht, sind real – und größer als in den letzten Jahrzehnten. Auch, aber nicht nur, wegen der sozialen Medien, die uns auf der anderen Seite auch viel mehr Freiheit gegeben haben.
Ich weiß, dass Demokratien kompliziert und oft harte Arbeit sind, dass sie selten schnelle Ergebnisse erzielen und die Einbeziehung vieler unterschiedlichen Menschen erfordern.
Doch ich bin der festen Überzeugung: Die Demokratie ist etwas, für das es sich jeden Tag zu kämpfen lohnt – und sie ist stärker als wir denken.
Denn sie ist die einzige Regierungsform, die es allen Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, gehört zu werden – und frei zu sein. Und weil Demokratien kreative Debatten ermöglichen, können sie sich anpassen, weiterentwickeln und erneuern.
Dafür brauchen Demokratien eine Sache ganz besonders: Sie brauchen Sie, sie brauchen uns – sie brauchen uns alle, so unterschiedlich und gleichzeitig so vereint wie wir sind. Sie brauchen die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, die heute hier bei uns sind, Wissenschaftlerinnen und Wahlbeobachter, Aktivistinnen und Politiker, Bürgerinnen und Familien – jeden und jede.
Ihre Arbeit macht tagtäglich einen Unterschied – egal ob in Europa, in Afrika oder anderswo.
Vielen Dank.