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„Wir nehmen die schlimmsten Szenarien ernst“

03.05.2022 - Interview

Außenministerin Annalena Baerbock im Interviev mit der Rheinischen Post zum russischen Angriff auf die Ukraine.

Frage: Frau Ministerin, Tag 68 des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Wer kann Wladimir Putin noch stoppen?

Außenministerin Annalena Baerbock: Russland könnte diesen Krieg von einem Tag auf den anderen beenden. Aber wir haben gesehen, dass wir uns auf das Prinzip Hoffnung nicht verlassen dürfen. Präsident Putin hat gerade auch dem UN-Generalsekretär Guterres deutlich gezeigt, wie wenig er an Friedensgesprächen interessiert ist. So bitter es ist: das einzige, was den brutalen russischen Einmarsch derzeit aufhalten kann, ist die Verteidigungsbereitschaft der Ukraine. Nur deshalb helfen wir auch mit der Lieferung schwerer Waffen.

Frage: Was ist das Ziel der deutschen Unterstützung? Was wollen Sie erreichen?

Baerbock: Dass die Kinder in der Ukraine wie alle Kinder in Europa in Frieden und Freiheit leben können. Erstes Ziel ist jetzt ein Waffenstillstand, damit Schulen und Krankenhäuser nicht weiter bombardiert werden. Aber auch ein Ende der Bombardierung als Diktatfrieden von Russlands Gnaden würde nicht Freiheit und Sicherheit bringen. Klar ist deshalb: Die russischen Truppen müssen das Land verlassen. Sonst werden wir die Sanktionen als Weltgemeinschaft nicht aufheben können. Es geht es nicht nur um Solidarität mit der Ukraine, sondern auch um unsere eigene Sicherheit und die unserer Kinder. Wie wir jetzt handeln - ob wir der Aggression nachgeben oder die Regeln der UN-Charta verteidigen - wird die Weltordnung und die Verhältnisse in Europa für die nächsten 10 oder 20 Jahre prägen.

Frage: Was, wenn Putin einen Waffenstillstand auf der Basis bisheriger Geländegewinne anbietet?

Baerbock: Über Friedensverhandlungen entscheidet alleine die Ukraine. Es sind nicht wir sondern die Ukrainerinnen und Ukrainer, die in diesem Krieg sterben. Sie und ihre Kinder sind es, denen wie in Butscha Mord, Vergewaltigung und Vertreibung unter russischer Besatzung drohen. Ihnen müssen wir in dieser schrecklichen Situation helfen, dass sie stark genug sind, selbst entscheiden zu können, anstatt sich diktieren lassen zu müssen, in Unfreiheit zu leben.

Frage: Haben Sie die Hoffnung, Wladimir Putin eines Tages vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal auf der Anklagebank zu sehen?

Baerbock: Der russische Präsident bricht auf brutalste Art und Weise mit dem internationalen Recht und mit dem humanitären Völkerrecht. Man bombardiert keine Mütter, Väter, Kinder, Alte oder Kranke. Menschen, die das tun, begehen schwerste Kriegsverbrechen. Diese Verbrechen müssen zur Anklage gebracht werden. Das sind wir den Opfern schuldig.

Frage: Wie hoch schätzen Sie die Gefahr eines Atomkrieges ein?

Baerbock: Eine Atommacht führt vor unserer Haustür einen Angriffskrieg, schon deshalb ist es unsere Verantwortung als Regierung, auch die schlimmsten Szenarien ernst zu nehmen. Russlands nukleares Säbelrasseln ist gerade in der jetzigen Lage unverantwortlich, auch wenn wir ähnliche Töne von Präsident Putin auch früher schon gehört haben.

Frage: Also eher Rhetorik?

Baerbock: Wie gesagt: Wir nehmen auch die schlimmsten Szenarien ernst. Aber man kann keine Atomwaffen einsetzen, ohne sich selbst zu schaden. Das weiß auch der russische Präsident.

Frage: Wir leben in einer Zeitenwende. Haben wir eine neue Weltordnung vor uns?

Baerbock: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist eine Zäsur. Der russische Präsident legt damit all das in Trümmer, was Generationen in Europa und in Russland aufgebaut haben: Meine Generation hatte das Glück, ein Leben lang in Frieden aufgewachsen zu sein. Und ja, wir müssen unsere Politik nach dem 24. Februar, dem Tag, der alles verändert hat, neu ausrichten. Deswegen formulieren wir in Deutschland unsere nationale Sicherheitsstrategie neu. Wir müssen in der Lage sein, die europäische Friedensordnung zu verteidigen. Wir müssen wieder mehr in unsere eigene Wehrhaftigkeit investieren, ein Begriff, von dem ich mir als Grünen-Politikerin nicht vorstellen konnte, ihn aktiv zu führen. Wir haben uns das nicht ausgesucht, aber wir müssen bereit sein, uns dieser neuen Realität zu stellen – ohne zugleich alles über Bord zu werfen. Denn Sicherheit ist mehr als Verteidigung plus Diplomatie. Humanitäre Hilfe, Stabilisierung, Konfliktprävention bleiben zentral.

Frage: Wir schwer ist Ihnen die Entscheidung zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gefallen?

Baerbock: Natürlich ringt eine Regierung in Wochen und Monaten, in denen es keine hundertprozentige Sicherheit gibt, mit sich und ihren Entscheidungen. Aber wir tragen Verantwortung nicht nur für unser Handeln, sondern auch für unser Nichthandeln. Keine Waffen zu liefern hätte bedeutet, die Ukraine im Stich zu lassen. Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, aber ich halte sie für die einzig richtige. Im Moment des Unrechts hieße Wegducken sich auf die Seite des Aggressors zu stellen.

Frage: Hat Russland Ihren Blick auf den Umgang mit anderen Autokraten in der Welt noch einmal verändert?

Baerbock: Der Wettstreit zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen stand für mich seit Tag Eins meiner Amtszeit oben auf der Agenda. Aber Russland sollte auch dem letzten die Augen geöffnet haben. Wirtschaftliche Komplettabhängigkeiten, gerade von Staaten, die unsere Werte nicht teilen, sind ein Sicherheitsrisiko. Natürlich kann man sich in einer vernetzten Welt als Exportnation nicht isolieren. Es ist aber Aufgabe der Politik, auch der Sicherheitspolitik, nie wieder zuzulassen, dass wir so abhängig sind, dass wir politische Entscheidungen nicht frei treffen können.

Frage: Seit Jahrzehnten wird über die Reform des UN-Sicherheitsrates geredet. Nichts ist passiert. Was könnte die Veto- und Atommächte USA, Russland und China mit ihrem speziellen Konkurrenzverhältnis dazu bewegen, eine Reform mitzumachen?

Baerbock: Es gibt seit längerem Vorschläge, den UN-Sicherheitsrat so umzubauen, dass das Gremium die Weltbevölkerung stärker repräsentiert, mit einem Sitz für Afrika etwa. Die Beharrungskräfte der Vetomächte sind stark. Man muss Dinge auch nicht schönreden: In der jetzigen Situation ist eine Reform noch viel unwahrscheinlicher. Deshalb ist es so wichtig, dass 140 Staaten in der Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung den russischen Angriffskrieg verurteilt und gezeigt haben: Das Herz der Vereinten Nationen, das schlägt.

Frage: Aber der UN-Sicherheitsrat ist jetzt dauerblockiert. Ist er gescheitert?

Baerbock: Derzeit funktioniert der UN-Sicherheitsrat offensichtlich nicht. Das liegt daran, dass Russland gerade mit allem bricht, wofür dieser Sicherheitsrat eigentlich geschaffen worden ist. Es ist eben nicht nur ein Privileg, als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ein Vetorecht zu haben, es ist auch eine Verantwortung, den Weltfrieden zu wahren. Russland tut in der Ukraine das Gegenteil: Es bricht den Weltfrieden. Auch wenn die Vereinten Nationen derzeit in keinem guten Zustand sind, liegt es jetzt an uns das internationale Recht zu verteidigen, ansonsten würden wir das Spiel Putins spielen. Fast jedes Land auf der Welt hat einen stärkeren Nachbarn. Die überwältigende Mehrheit der Staaten will deshalb starke Vereinte Nationen, die den Frieden und die regelbasierte Ordnung schützen.

Frage: Trauen Sie Putin in dieser Lage einen Angriff auf das benachbarte Moldawien zu?

Baerbock: Das ist alles andere als auszuschließen. Und das ist einer der Gründe weswegen wir als Bundesregierung die Entscheidung getroffen haben, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Wenn man Putin keine Grenzen setzt, könnte der nächste Konflikt noch näher an unseren Grenzen stattfinden.

Frage: Ist der Ukraine-Krieg für China eine Blaupause, Taiwan einzunehmen?

Baerbock: So schematisch würde ich das nicht übertragen. China denkt in anderen Zeiträumen und hat andere Möglichkeiten, vor allem wirtschaftliche. Aber wenn wir jetzt nicht an der Seite der Ukraine stehen, würden wir das Signal an andere Aggressoren in dieser Welt senden: Wir schauen weg, wenn ihr euren Nachbarn überfallt. Und genau das tun wir eben nicht.

[...]

Interview: Moritz Döbler und Holger Möhle.

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