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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock im Bundestag bei der Vereinbarten Debatte „Frieden in Europa sichern – territoriale Integrität der Ukraine darf nicht in Frage gestellt werden“
Wir erleben aktuell eine Zeit, die für Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent entscheidend ist, eine Zeit, in der wir für unsere Werte eintreten müssen, eine Zeit, in der markige Sprüche gut klingen, aber Steilvorlagen für heftigste Konsequenzen sein könnten.
Das ist alles andere als eine einfache politische Zeit; denn es ist schwer, es nicht als Drohung zu verstehen, wenn sich über 100 000 Soldaten mit Panzern und Geschützen ohne nachvollziehbare Gründe in der Nähe der Ukraine versammeln und in Belarus weitere Truppen zusammengezogen werden. Und die russische Regierung hat uns mit Forderungen nach sogenannten Sicherheitsgarantien konfrontiert, die mit der europäischen Sicherheitsordnung nicht vereinbar sind.
Die Bundesregierung regiert darauf geschlossen und entschlossen, und zwar, ehrlich gesagt, nicht mit etwas, was uns gerade so einfällt, sondern natürlich in enger Abstimmung gemeinsam mit unseren EU-Partnern, unseren NATO-Partnern und im Rahmen der G 7. Da haben wir klipp und klar deutlich gemacht, dass ein erneutes militärisches Vorgehen gegen die Ukraine massive Konsequenzen für Russland hätte. Auf dieser Basis arbeiten wir an einem starken Sanktionspaket. Bei neuer Aggression steht uns eine Bandbreite an Antworten zur Verfügung, inklusive Nord Stream 2. Ja, wir wollen jederzeit Dialog, aber es braucht angesichts der aktuellen Lage auch Härte, die unmissverständlich deutlich macht: Die souveräne Gleichheit von Staaten und die Grundpfeiler der europäischen Friedensordnung sind nicht verhandelbar.
Diese Haltung vertreten wir geschlossen, und zwar transatlantisch und europäisch. In den vergangenen Wochen ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht mit den Amtskolleginnen und Amtskollegen aus der EU und aus der NATO gesprochen habe - in zahlreichen Telefonaten und bei persönlichen Treffen.
Dabei hatte ich, genauso wie der Bundeskanzler, zwei Botschaften: Unsere Einigkeit ist unsere stärkste Waffe, wenn man dieses Wort überhaupt gebrauchen möchte, und - ja, das kann man ganz offen sagen - unsere Rollen sind dabei nicht komplett identisch. Wir haben unterschiedliche Rollen zwischen unterschiedlichen Ländern. Länder wie Polen und Litauen übernehmen eine andere Rolle als Länder wie Italien, Frankreich und eben auch Deutschland, und zwar aus guten Gründen. Denn unsere Stärke in diesem Bündnis ist doch gerade, dass wir eine klare gemeinsame Haltung haben und zugleich unsere Stärken in unterschiedlichen Rollen entsprechend einsetzen.
Um mal ein ganz anderes Beispiel aus dem Sport zu nehmen: In einem Team braucht es keine elf Mittelstürmerinnen, die alle dasselbe machen, sondern elf Spielerinnen, die gut miteinander können und die vor allen Dingen den gleichen gemeinsamen Spielplan im Kopf haben.
Und unsere besondere Rolle ist dabei als Deutschland, als eine der stärksten Wirtschafts- und Industrienationen der Welt, das eine führende Rolle in Europa spielt, folgende: Deutschland ist seit Jahren der größte Geber in der Ukraine: über den IWF, über die EU und bilateral. Aktuell arbeiten wir daran, 150 Millionen Euro aus einem ungebundenen Finanzkredit möglichst schnell an die Ukraine auszuzahlen. Wir arbeiten natürlich bei der Impfstoffversorgung, im Energiesektor und bei den Reformprozessen im Land gemeinsam mit unseren Partnern zusammen. Und wir haben gemeinsam mit Frankreich - das war in den letzten Jahren nicht immer einfach - dafür gesorgt, dass wir als Europäerinnen und Europäer gerade in diesem Moment bei dem Thema Sanktionen ganz eng beieinander bleiben.
Deutschland - das braucht man gar nicht so wegzuwischen - unterstützt die Ukraine auch militärisch: Und zwar - das möchte ich an dieser Stelle auch einmal deutlich sagen - liefern wir jetzt auf ukrainischen Wunsch Schutzhelme. Das hat sich Frau Lambrecht nicht einfach ausgedacht, sondern das war der besondere Wunsch, dem wir hier jetzt nachkommen. Das Gleiche gilt für Schutzbunker bei Odessa. Es gab vor ein paar Tagen den Anruf, dass wir bitte dabei unterstützen mögen, diese wieder instand zu setzen, und morgen - weil wir direkt handeln - wird eine erste Erkundungsreise dahin stattfinden. Ukrainische Offiziere haben an der militärischen Ausbildungshilfe des Bundesverteidigungsministeriums teilgenommen. Die deutsche Unterstützung für die Ukraine im Rahmen des NATO-Treuhandfonds beträgt seit 2014 mehr als 8 Millionen Euro. Auch in der EU - das wird gerade vorbereitet - planen wir jetzt gemeinsam mit anderen europäischen Partnern eine Ausbildungsunterstützung für die Ukraine.
Im NATO-Bündnis - es ist hier wichtig, dass wir unterscheiden zwischen unserer Unterstützung der Ukraine und dem NATO-Bündnis - ist Deutschland seit 2014 eine der Leitnationen in der Vornepräsenz im Baltikum. Genauso stehen wir auch heute zu unserer Verantwortung im Bündnis, indem wir in diesem Jahr wieder mit der Beteiligung am NATO Air Policing South in Rumänien und im Baltikum aktiv sind.
Meine Damen und Herren,
auch darüber diskutieren wir heute sehr offen - das ist ja Sinn und Zweck einer parlamentarischen Debatte -, dass nun einige fordern, diesen Kurs zu verlassen und jetzt akut Waffen zu liefern. Natürlich - und das sage ich auch ganz offen und ehrlich - muss man in schwierigen Situationen sein Handeln immer wieder auch selbstkritisch reflektieren. Aber ich sage hier auch sehr klar und deutlich, da ich ja nicht nur Chefdiplomatin unseres Landes, sondern auch Politikerin bin: Eine Pressemitteilung ist schnell geschrieben, aber seinen außenpolitischen Kurs einfach mal so um 180 Grad zu drehen, wo gerade noch - das sage ich auch an die Unionsfraktion - im Sommer eine andere Entscheidung getroffen worden ist, sollte man schon bei vollem Bewusstsein tun.
Und vor allen Dingen sollte man damit nicht Türen zur Deeskalation verschließen, die sich gerade in diesem Moment so zaghaft wieder öffnen. Ich war bewusst in der letzten Woche vor Ort, sowohl in der Ukraine als auch in Russland, um darüber zu sprechen. Präsident Selenskyj hat gestern noch mal deutlich gemacht, wie wichtig Minsk für ihn ist, dass er sich dringend ein baldiges Gipfeltreffen wünscht und dass es Fortschritte im Verhandlungsprozess braucht. Das hat für mich, das hat für diese Bundesregierung jetzt absolut oberste Priorität.
Gestern hat deswegen zum ersten Mal seit Langem - auch das ist keine Selbstverständlichkeit - wieder ein physisches Beratertreffen im Normandie-Format stattgefunden. Wir haben dort über acht Stunden lang verhandelt. Ob dabei etwas rauskommt, wissen wir nicht. Niemand kann das in dieser Zeit mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Aber: Wer redet, der schießt nicht.
Daher ist es fatal, die Wiederaufnahme des Dialogs einfach so abzutun. Warum? Weil die Menschen im Donbas seit zwei Jahren, seit dieser Pandemie noch mal ganz besonders leiden. Das Minsker Abkommen dreht sich gerade darum, den Menschen in der Region wieder etwas mehr normales Leben zu ermöglichen. Als ich dort war, hat eine Botschaftsmitarbeiterin gesagt: Ich bin immer mal wieder hingefahren, um meine kranke Oma zu sehen; aber seitdem ich jetzt ein kleines Baby habe, mache ich das nicht mehr. Was ist, wenn ich nicht mehr zurückkomme? - Das sind die Lebensschicksale, um die es hier geht. Das ist die Alltagssituation für viele Tausende Menschen, und deswegen ist das Minsker Abkommen so entscheidend.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Wir, mein französischer Amtskollege Le Drian und ich, werden daher übernächste Woche wieder in die Ukraine und auch an die Kontaktlinie reisen, um die intensiven Bemühungen der OSZE an dieser Stelle zu unterstützen. Ich sage sehr deutlich: Das, was wir gerade im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit tun, ist in dieser Situation essenziell. Wir müssen in diesem Moment die Ukraine gerade wirtschaftlich und finanziell stärken; denn im 21. Jahrhundert droht man nicht nur mit Kanonen. Wir haben in der Pandemie gesehen, was passiert, wenn Lieferketten ausfallen. Deswegen haben wir, habe ich ganz bewusst entschieden, dass wir unser Botschaftspersonal nicht reduzieren, sondern dass wir die Ukraine dadurch unterstützen, dass wir präsent sind, dass wir investieren, dass Diplomatie absoluten Vorrang hat und dass wir gemeinsam für die Sicherheit der Ukraine und in ganz Europa eintreten.
Herzlichen Dank.