Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Begrüßung und Impulsstatement von Außenministerin Annalena Baerbock beim ‚Nationalen Bürgerforum‘ zur Zukunft Europas in Berlin

16.01.2022 - Rede

Liebe Europäerinnen,
liebe Europäer,
schönen guten Morgen an diesem Sonntagmorgen. Wir hätten uns natürlich alle sehr gefreut, wenn wir heute hier gemeinsam in diesem wunderschönen Weltsaal diskutieren könnten über die Zukunft Europas. Das ist pandemiebedingt leider nicht der Fall. Aber ich danke Ihnen allen herzlich – vor allem Ihnen, die schon in den letzten Tagen, Wochen und Monaten fleißig diskutiert haben, heute auch früh aufgestanden sind, um dieses Bürgerforum, das wir hier in Deutschland stattfinden lassen, gemeinsam mit dem heutigen Tag zu einem ersten Abschluss bringen zu können. Das ist – wie schon erwähnt worden – ein nationales Bürgerforum im Kontext der Europäischen Union. Also, wir sind ein Forum von ganz vielen in Europa. Und dass es zu diesen wunderbaren Ergebnissen heute kommt, das haben wir Ihnen allen, die mitdiskutieren, die kreative Ideen hereingebracht haben, zu verdanken. Aber auch vielen, die hier mit auf der Bühne sind, die im Hintergrund sind und vor allem zugeschaltet sind. Und zwar nicht erst seit den vier Wochen, seitdem ich hier in diesem hohen Hause im Amt sein darf, sondern seit dem letzten Europatag – seit dem 9. Mai 2021 – finden diese Dialog-Veranstaltungen statt, in denen konkrete Empfehlungen entwickelt werden. Weil es uns allen am Herzen liegt, unser gemeinsames Europa zusammen zu gestalten.

Dafür möchte ich ganz zu Beginn wirklich Frau Hartung besonders danken, die als Vertreterin des deutschen Bürgerdialoges in der EU-Zukunftskonferenz dann die Ergebnisse direkt nach Straßburg mitnehmen wird. Herzlichen Dank an dieser Stelle auch an meine Staatsministerin Anna Lührmann, die schon mit auf der Bühne sitzt, an Franziska Brantner, die Staatssekretärin im Wirtschafts- und Klimaministerium, an die lieben Abgeordneten Herrn Schäfer und Herrn Krichbaum, die digital zugeschaltet sind, an Frau Ministerin Honé als Vertreterin der Bundesländer. Und auch andere sind mit dabei, die gleichwohl hier eine wichtige Rolle spielen, weil Ihre/Eure Ideen, die heute hier einfließen, an die unterschiedlichsten Vertreterinnen und Vertreter weitergegeben werden sollen. Und viele Menschen, die in den Ressorts arbeiten – das steckt ja hinter Minister:innen immer mit dahinter – die werden all das dann mit für uns als Bundesregierung in unseren weiteren Prozess mit einspeisen und hereinnehmen. Und ich möchte ebenso an diesem Sonntagmorgen mit begrüßen und mich bedanken bei Frau Botschafterin Descôtes, die im Rahmen der französischen Präsidentschaft die ganz besondere Rolle hat innerhalb der EU-Institutionen, die Empfehlungen mitzunehmen, an Herrn Wojahn und Herrn Pfeifer, die ebenfalls für die drei EU-Institutionen heute hier an dieser Diskussion teilnehmen.

Wir haben es eingangs schon gehört: Wir sind in dieser besonderen – ich würde sagen, nach wie vor wahnsinnig schwierigen – Situation der Pandemie, dass wir heute hier nicht gemeinsam tagen können. Aber diese Pandemie hat uns, glaube ich, allen in den letzten zwei Jahren auch noch einmal deutlich gemacht, was uns unser gemeinsames Europa eigentlich bedeutet. Wenn wir es in den Momenten spüren, wenn es nicht so automatisch da ist. Ich und einige andere hier auf dem Podium sind von einem Jahrgang, wo wir eigentlich fast unser ganzes Leben nicht nur ein wiedervereinigtes Deutschland erlebt haben, sondern in unserem gemeinsamen Europa ohne Binnengrenzen. Meine Tochter – die schwirrt hier heute mit durchs Haus – die hat ihr Leben nur so verbracht, dass wenn wir von Brandenburg mal nach Polen hin- und her fahren gar keine Grenzkontrollen haben. Mitten in dieser Pandemie ist uns allen, die Grenzen in Europa zum Glück nie so richtig spüren und erleben mussten und erst recht keine Kriege, deutlich geworden, was es eigentlich bedeutet, wenn diese Grenzen von einem Tag auf den anderen wieder zu sind. Man kann zum Teil nicht zu seinen Freunden fahren, in manchen Familien wurde so im wahrsten Sinne des Wortes der Vorhang runtergelassen – gerade in den Grenzgebieten, wo Menschen tagtäglich hin und her pendeln. Man kann nicht in Urlaub fahren. Manche sind von ihrem Studium vorzeitig zurückgekommen. Und all das macht uns noch mal so eindringlich deutlich, dass Europa ebend nicht vom Himmel gefallen ist. Sondern dass es hart erkämpft worden ist und dass es keine Selbstverständlichkeit ist. Sondern dass es tagtäglich bedeutet, dass wir gemeinsam als Politikerinnen und Politiker, als engagierte Menschen in unserem gemeinsamen europäischen Haus, aber auch als Wirtschaft, als Zivilgesellschaft, als Sportvereine, dafür eintreten und kämpfen müssen. Weil wir, auf der einen Seite, eben nicht nur die Pandemie haben, sondern eine Situation, wo Europa auch von anderen Kräften herausgefordert wird. Wir haben eine Situation, dass die Klimakrise uns zeigt: Wir können globale Fragen ohnehin nur gemeinsam in einer Welt angehen, wo wir zusammenarbeiten und wo auch Europäerinnen und Europäer eine starke Rolle spielen. Und es ist mir dieser Tag wichtig: Wir sind in einer Welt die so viel vernetzter ist als zuvor. Wir könnten jetzt stundenlang über die Krisen dieser Welt reden, das werden wir auch. Wir werden auch diskutieren was uns alles herausfordert. Und da haben Sie ja viele konkrete Ideen, Anregungen und Vorschläge gemacht. Aber man spürt hier auch immer wieder, dass eine Vernetzung auch immer etwas Positives mit sich bringt in Europa. Dass man tagtäglich über Grenzen hinweg reist, liebt, studiert oder einfach lebt. Und dass eine Vernetzung auch im digitalen Raum ermöglicht, dass sich Klimaproteste weltweit vernetzen. Oder ebend auch, dass man Best-Practice-Möglichkeiten, wie man Impfungen richtig durchführt, global im Netz miteinander teilen kann. Und deswegen ist für mich wichtig, wenn wir über die Zukunft Europas reden, dass wir nicht immer nur über die Herausforderungen reden. Sondern vor allem über die Chancen, die wir gemeinsam gestalten können. Als ersten großen Bereich sehen wir dafür die Europäische Union als eine Europäische Union der Nachhaltigkeit. Wir erleben, dass in dieser Pandemie, dass die Frage von Zoonosen – also wie wir eigentlich mit unserer Umwelt umgehen – auch am Ende eine Gesundheitsfrage ist. Wir erleben das mit Blick auf die Klimakrise, die eben nicht nur in den entfernten Regionen deutlich macht, wie zerbrechlich unser gemeinsames Leben ist. Sondern wir haben das hier in Deutschland im Sommer auch auf dramatische Art und Weise erlebt, was Wetterextreme alles anrichten können. Und deswegen ist unser Anspruch für ein gemeinsames starkes Europa vor allem auf Nachhaltigkeit, auf einen fairen Wettbewerb und auf eine sozial- ökologische Marktwirtschaft zu setzen. Weil, und das wissen viele von Ihnen genauso gut wie ich und wir hier im Auswärtigen Amt, jede Tonne weniger CO2 ist ein Beitrag zur Lebensqualität meiner Kinder, Ihrer Kinder, unserer zukünftigen Enkelkinder. Und jedes Zehntel Grad weniger an Erderwärmung ist auch ein Beitrag zur menschlichen Sicherheit. Denn die Klimakrise, und das spüren wir vor allem in den anderen Regionen dieser Welt, wirkt immer weiter auch als Konfliktverstärker – gerade in fragilen Regionen. Und deswegen ist mein Anspruch, unser Anspruch als neue Bundesregierung – und das was ich mitbekommen habe aus den Diskussionsrunden, die Sie schon geführt haben, auch der Anspruch von ganz ganz vielen Menschen hier in unserem Land – dass die Europäische Union endlich wieder zum wirklichen Vorreiter in Sachen Klimaschutz wird. Und zwar nicht nur, um das Klima zu schützen – das kann man eigentlich nicht schützen, sondern man kann die Klimakrise nur in den Griff bekommen. Sondern zum Schutz unserer eigenen Freiheit und zum Schutz unserer eigenen Zukunft. Wir arbeiten dabei intensiv an dem ‚Fit-For-55‘-Paket und vor allen Dingen an Klimaschutzinvestitionen, die nach dieser Corona-Pandemie die vielen vielen Milliarden oder gar Billionen dafür nutzen, wirklich in Zukunft auf Nachhaltigkeit zu setzen. Und wir wollen das nicht nur als Europäerinnen und Europäer gemeinsam, sondern – das war unser eigener neuer Vorschlag, den wir in den letzten Wochen hier mit reingebracht haben im Auswärtigen Amt – Klimaaußenpolitik hier mit in die Außenpolitik wirklich reinzuholen. In Zukunft die Klimakonferenzen federführend aus dem Auswärtigen Amt zu gestalten, weil wir diese Klimakrise eben nur gemeinsam als Weltgemeinschaft in den Griff bekommen können.

Ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist und der auch eine große Rolle in Ihren und Euren Diskussionsrunden gespielt hat, ist, die Europäische Union stärker strategisch auszurichten und vor allen Dingen souveräner zu machen. Wir müssen – das zeigt nicht nur die Situation in der Ukraine –deutlich machen, was uns als Europäerinnen und Europäer wichtig ist. Nicht nur was wir an Anderen nicht so gut finden, sondern wofür wir eigentlich stehen: Für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, für Menschenrechte, für Nachhaltigkeit und vor allem für eine Europäische Union, die dadurch stark ist, dass sie gemeinsam handelt. Und da haben wir noch ein dickes Brett zu bohren. Ich glaube, so ehrlich muss man sein. Das zeigt sich auch an Ihren Vorschlägen. Nämlich deutlich zu machen, die Stärke des europäischen Binnenmarkts auch wirklich zu nutzen. Den Wettbewerb mit anderen Regionen zu nutzen. Wenn andere Staaten in unserem europäischen Binnenmarkt investieren, dann sollten sie sich natürlich auch an die Regeln und Standards halten, die wir gemeinsam für uns definiert haben. Das heißt für mich, dass wir dieses Wort, was so technisch klingt: „strategische Souveränität“ – eigentlich versteht das kein Mensch. Das bedeutet einfach, seine Stärken zu bündeln und selbstbewusst zu sagen: Wir können das und wir sind davon überzeugt, andere dabei mitzunehmen. Dass wir dabei uns nicht nur darauf fokussieren, Außenpolitik als Außenpolitik zu denken und zu sagen, das Auswärtige Amt macht das Eine und das Wirtschaftsministerium das Andere. Sondern seine Stärken so zu bündeln, dass verschiedene Ministerien zusammenarbeiten, und vor allem auch verschiedene Akteure in unserer Gesellschaft zusammenarbeiten, also: Gesundheitspolitik vernetzt mit Digitalisierung und eben Wirtschaftspolitik gemeinsam denken. Denn wir haben auch alle gesehen in der ersten Phase dieser Pandemie: Wenn wir es nicht tun, dann bricht es nicht nur im Herzen Europas, als wir den Moment hatten mit diesen furchtbaren Bilder aus Italien. Der erste Reflex war „Oh, erstmal die Grenzen zu“. Und dann haben wir uns alle besonnen und gesagt „Nein, jetzt müssen wir Italien besonders helfen“. Patienten sind nach Deutschland gebracht worden und dann, einige Zeit später vor einigen Monaten, deutsche Patienten auch nach Italien. Das ist unsere Stärke! Und genauso denjenigen zu helfen, die eben Pandemiemittel und Infrastruktur nicht haben. Denn wenn wir das nicht tun, und das haben wir auch erlebt, dann füllen diese Lücke Andere. Und zwar nicht nur aus altruistischen Gründen, sondern mit einem großen Bewusstsein für geostrategische Abhängigkeiten. Wir haben das in einigen Staaten in Europa in den letzten Jahren erlebt. Wir erleben das jetzt weltweit. Dass man natürlich Investitionen auch gezielt dafür nutzen kann, am Ende Ländern zu sagen: Und wenn ihr das jetzt nicht tut, was wir wollen, dann hat das enorme Konsequenzen. Und deswegen ist eine stärkere strategische Souveränität Europas für mich so wichtig. Aber nicht als Maßnahme gegen andere Staaten, sondern als Einladung dafür, gemeinsam als eine Werteunion in der Welt agieren zu können. Und das heißt, Werte und Interessen zusammen zu denken und vor allen Dingen unsere Europäische Union nach innen zu stärken, damit wir nach außen glaubhaft sind. Auch das haben Sie viel diskutiert, weil es, glaube ich, jeden von uns nicht egal ist, wenn man sieht, was in anderen EU-Staaten mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, das Agieren von Universitäten oder auch Protesten und Zivilgesellschaften zum Teil dann eben nicht an europäischen Werten gelebt wird. Und deswegen ist die Erosion der Rechtsstaatlichkeit in der EU einer der zentralen Punkte, wo wir gemeinsam als Europäerinnen und Europäer eine Antwort finden müssen. Das Prinzip des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, das haben wir gemeinsam verankert. Und da haben Sie viele Punkte diskutiert wie wir das weiter regeln können – und darauf freue ich mich, ehrlich gesagt, mit am meisten. Denn Europa, das sind seine 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Das sind Sie stellvertretend jetzt für viele in Deutschland. Das war ja auch so ein bisschen ein Experiment, dass wir gesagt haben, wir bestimmen jetzt nicht vorher: Von jeder Institution kommt jemand und jemand kann als Ministerin dann sagen, ich hätte gerne noch den oder den an der Diskussionsrunde beteiligt. Nein, sondern es wurde gelost. Viele Menschen in Deutschland wurden nach einem System angeschrieben, angefragt: „Habt ihr Lust mitzumachen“. Herzlichen Dank, dass Sie sich alle dafür bereit erklärt haben! Zum Teil aus dem Lockdown heraus, zum Teil aus der Situation heraus, wo man gucken musste, wie kriegt man das mit den Kindern gerade hin, wenn die Schule nicht voll unterrichten konnte. Also dafür herzlichen Dank. Aber das ist genau das Herzstück dessen, wenn wir sagen, wir wollen über die Zukunft reden. Nicht über die Ideen von Menschen, von Bürgerinnen und Bürgern, von Europäerinnen und Europäern zu reden, sondern mit Ihnen gemeinsam zu überlegen: Wie können wir unser Haus Europa weiter bauen. Weil, ich hatte selber das große Vergnügen und vielleicht Einige von Ihnen auch im Ausland studieren zu können. Andere hatten vielleicht in der Schulzeit einige Zeit im Ausland verbracht. Oder die Ausbildung für ein paar Monate im Ausland gemacht. Andere sind, als sie in Rente gegangen sind, in Europa herumgereist oder man hat seinen neuen Partner in der Europäischen Union gefunden. Das ist unser größter Schatz. Das ist das, was Frieden in Europa geschaffen hat und weiter schaffen muss. Die Verbindung, die Vernetzung der Menschen und die Verbindung und Vernetzung der ganz ganz unterschiedlichen Akteure. Ich war erst vor einigen Tagen in Rom. Und da ist mir nochmal so eindringlich gespiegelt worden, dass unsere Stärke ist – das haben wir auch beim Brexit erlebt –, dass man uns nicht einfach so auftrennen, auflösen kann. Es gibt ja dieses schöne Bild davon, dass Europa eigentlich und die Zusammenarbeit ist, wie bei einem Ei, das man einmal aufschlägt und Rührei daraus macht. Da kann man auch nicht einfach sagen „Jetzt macht mal das Ei wieder zusammen und da macht man das voneinander getrennt.“ Und das ist in der Pandemie mit Italien nochmal so deutlich geworden. Als es den harten Lockdown gegeben hat, haben einzelne Wirtschaftsunternehmen – und zwar gar nicht die ganz großen, sondern die kleinen mittelständische Unternehmen – gesagt: „Wir müssen alles dafür tun, um Italien wieder zu helfen, damit sie diese furchtbare Situation in den Griff bekommen; weil ansonsten stehen hier bei uns unsere Fabriken, aber auch unsere kleinen Handwerksbetriebe still, weil wir so eng miteinander verzahnt sind.“ Und diese Verzahnung ist unser höchstes Gut, die Verzahnung von unserem gemeinsamen Verständnis von Werten, von Lieferketten, von Produkten, aber vor allem das Miteinander der Menschen in unserer gemeinsamen Europäischen Union. Und dass Sie dafür viele frische Ideen – manche auch bereits bekannte Ideen, die aber immer noch nicht umgesetzt sind – in diese Diskussion mit eingebracht haben, dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar. Denn wir müssen deutlich machen, dass wir gemeinsam diese Zukunft Europas gestalten. Und ich freue mich jetzt darauf, mit Ihnen gemeinsam diese Vorschläge zu diskutieren. Wir haben einige Gäste mit eingeladen, die ich eingangs erwähnt habe, die ebenfalls Ihre Anregung mit aufnehmen. Und das ist dann kein Schlussstrich, sondern eigentlich erst der nächste Schritt in der weiteren Debatte über unsere gemeinsame Zukunft Europas. Ich freue mich sehr darauf. Vielen Dank für die Teilnahme von Ihnen allen.

Schlagworte

nach oben