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Statement von Außenministerin Annalena Baerbock zu Afghanistan

23.12.2021 - Pressemitteilung

Wir alle hatten im vergangenen Sommer die dramatischen Bilder vom Fall Kabuls an die Taliban und der Verzweiflung der Menschen vor Augen. Seither ist Afghanistan fast aus den Schlagzeilen der deutschen Medien verschwunden. Aber es wäre ein Fehler zu glauben, die Krise liege hinter uns. Denn die Situation vor Ort hat sich nicht beruhigt oder verbessert, ganz im Gegenteil.

Viele Menschen leben in täglicher Angst. Das gilt besonders für diejenigen, die mit uns für eine bessere Zukunft Afghanistans gearbeitet, daran geglaubt und sie gelebt haben. Am schwersten ist die Lage für die besonders gefährdeten Mädchen und Frauen. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung, und wir werden sie nicht im Stich lassen.

Aber über 15.000 Menschen, denen wir fest zugesagt haben, sie bei uns aufzunehmen, sind weiterhin in Afghanistan. Da ist die junge Mitarbeiterin einer internationalen NGO, die im Norden Afghanistans Projekte zur Menschenrechtsbildung durchgeführt hat – auch zu Gendergerechtigkeit. Nach der Machtübernahme suchten die Taliban in ihrem Heimatort nach ihr. Sie hält sich nun versteckt und wartet auf den Weg nach Deutschland. Da ist der Vorstandsvorsitzende einer afghanischen Menschenrechtsorganisation, die als eine der ersten Organisationen in Afghanistan gegen Extremismus gearbeitet hat.

Es sind auch noch 135 deutsche Staatsangehörige im Land, die auch aufgrund individueller Umstände noch nicht ausgereist sind. Mir ist heute, vor dem Jahreswechsel, wichtig ihnen allen zu sagen: Sie sind nicht vergessen. Wir werden nicht lockerlassen, sondern arbeiten mit Hochdruck daran, sie in Sicherheit zu bringen.

Gleichzeitig steuert Afghanistan vor unseren Augen in die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit. Große Teile der Wirtschaft sind zusammengebrochen, bereits jetzt hungern viele Menschen. In ihrer Verzweiflung verkaufen Familien ihre Töchter, um Nahrungsmittel zu kaufen. Über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung, über 24 Millionen Menschen, werden in diesem Winter humanitäre Hilfe brauchen, um zu überleben.

Terrororganisationen wie der IS haben bereits begonnen, die Verzweiflung und die Perspektivlosigkeit der Menschen auszunutzen, um Nachwuchs zu rekrutieren. Und immer wieder erreichen uns Berichte über schwerste Menschenrechtsverletzungen, trotz aller Zusagen der Taliban.

Als neue Bundesregierung sind wir entschlossen, jetzt nicht wegzuschauen, sondern zu handeln, und zwar schnell. Wir haben uns auf einen Aktionsplan mit ersten konkreten Schritten verständigt, mit denen wir sofort beginnen.

  1. Wir ziehen gemeinsam die Lehren aus dem bisherigen Afghanistan-Engagement, sowohl zwischen den Ressorts als auch mit dem Deutschen Bundestag. Wir haben begonnen zu analysieren, was verbessert werden muss, um den Menschen vor Ort schneller und zielgerichteter zu helfen. Seit der Machtübernahme der Taliban hat Deutschland bis heute bereits etwa 10.000 Menschen die Ausreise aus Afghanistan ermöglicht. Davon 5300 im Rahmen der militärischen Evakuierung und knapp 5000 im Rahmen der Phase 2. Mit eigenen Charterflügen konnten wir bislang 674 Menschen über Katar ausfliegen, 430 Menschen hat Katar für uns auf seinen Flügen in Sicherheit gebracht. 3.360 Menschen konnten wir von Islamabad nach Deutschland fliegen. Das war ein Kraftakt, und ich danke allen von Herzen, die daran mitgewirkt haben. Eine wichtige Einschränkung bleibt, dass die Taliban grundsätzlich zur Ausreise einen Reisepass verlangen und dass auch zivile Flüge nur mit Billigung der Taliban und der Unterstützung regionaler Partner möglich sind. Aber auch unsere eigenen Abläufe können wir noch verbessern, um mehr Flüge zu ermöglichen. Wir werden aktiv die Erfahrungen von Zivilgesellschaft und Unternehmen einbeziehen, die schon bisher wichtige Beiträge bei der Evakuierung geleistet haben.
  2. Wir werden die Ausreise aus Afghanistan beschleunigen, denn gerade für die gefährdeten Frauen und Mädchen zählt jeder Tag. Dazu wollen wir unsere Arbeit stärker als bisher mit der Zivilgesellschaft vernetzen, wo viele freiwillig engagierte Menschen in unserem Land in den letzten Monaten Bewundernswertes geleistet haben. Wir wollen nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten.
    Wir werden einen regelmäßigen Austausch einrichten, um uns besser abzustimmen und unsere Kräfte zu bündeln. Außerdem werden wir einen neuen Anlauf in den Gesprächen mit Iran, Usbekistan und Tadschikistan nehmen, um zusätzliche Ausreiserouten aus Afghanistan zu eröffnen. Dafür werde ich mich auch persönlich einsetzen- genauso wie für die Verstetigung der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Pakistan und Katar.
  3. Wir werden bürokratische Hürden abbauen, um die Aufnahme und die Einreise nach Deutschland für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen zu erleichtern. Daran arbeite ich eng mit der Bundesinnenministerin zusammen. Um nicht weitere kostbare Monate zu verlieren und zunächst den Transit in Staaten wie Katar aufrechtzuerhalten und zu beschleunigen, werden wir Hindernisse im bisherigen Visaverfahren abbauen. Für bestimmte Fälle kann das eine digitale Datenerfassung und Sicherheitsüberprüfung vor Ausreise und eine Ausgabe von Visa in Transitländern oder bei Eintreffen in Deutschland beinhalten. Wir sind zudem im Gespräch, alle Reisewege aus Afghanistan unbürokratischer zu gestalten. Unser Ziel muss der Aufbau nicht einer, sondern mehrerer humanitärer Luftbrücken von Afghanistan nach Deutschland sein.
    Bei der Definition der Kernfamilie von Menschen mit Aufnahmezusage sowie mit Blick auf Härtefälle werden wir offener sein und die Lebenswirklichkeit der Menschen im Blick haben.
    Gerade mit Blick auf die besondere Lage schutzbedürftiger Frauen und Mädchen und, die für uns absolute Priorität genießen, und auf Menschen mit familiären Bindungen in Deutschland werden wir im Sinne des Koalitionsvertrags ein humanitäres Aufnahmeprogramm schaffen. Dabei wollen wir die Zivilgesellschaft von Beginn an einbeziehen. Auch die Familienzusammenführung wollen wir gemeinsam vereinfachen und beschleunigen. Der Zustand, dass Familien über Jahre voneinander getrennt leben müssen, ist unhaltbar.
  4. Der massive Ausbau der humanitären Hilfe hat absolute Priorität, um eine humanitäre Katastrophe kaum vorstellbaren Ausmaßes abzuwenden. Wir sind mit 600 Mio. Euro schon jetzt der größte humanitäre Geber. Wichtig ist, dass unsere Mittel auch über die Wintermonate zur Verfügung stehen, in denen Kälte und Hunger drohen. Und ich werde schnell auf den Deutschen Bundestag zugehen und dafür werben, dass wir auch im kommenden Jahr die nötige Hilfe für das Überleben der Menschen leisten können.
    Unsere Hilfe wird ausschließlich durch die UN und andere unabhängige Organisationen erfolgen, um sicherzustellen, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie am meisten gebraucht wird – und nicht bei den Taliban.
    Einen besonderen Fokus bilden Projekte wie von Save the Children, die in den Provinzen Balkh und Kandahar Kinder, schwangere Frauen und junge Mütter medizinisch versorgen. Die Johanniter Unfallhilfe betreibt mit unserer Unterstützung mobile Kliniken für notleidende Menschen in Kabul. Und wir unterstützen den Flugdienst der Vereinten Nationen, damit Lebensmittel und Medikamente in alle Ecken des Landes gelangen.
    Mit Hochdruck arbeiten wir daran, dass dringend notwendige Hilfe nicht durch internationale Sanktionen blockiert wird. Dazu habe ich beim G7-Treffen intensive Gespräche geführt. Es ist gut, dass der VN-Sicherheitsrat und die USA gestern klare Ausnahmeregelungen für humanitäre Hilfsleistungen beschlossen haben. Wir haben angeboten, uns an einem Überwachungsmechanismus zu beteiligen, damit Hilfsgelder nicht den Taliban zugute kommen.
  5. Um den Menschen in Afghanistan in dieser katastrophalen Lage besser helfen zu können, Evakuierungen besser abwickeln und eine genauere und direkte Lageeinschätzung vornehmen zu können, wollen wir - in enger Abstimmung mit unseren europäischen und internationalen Partnern - im nächsten Jahr auch wieder vor Ort arbeitsfähig sein und eigenes Personal in Kabul haben. Um es klar zu sagen: Das bedeutet keine politische Legitimierung oder gar Anerkennung des Taliban-Regimes. Wir sind den Menschen in Afghanistan verpflichtet – nicht den Taliban.
  6. Frauen und Mädchen leiden besonders unter der Herrschaft der Taliban. Daher werden wir in unserer gesamten Arbeit auf sie besonderen Fokus legen.
    Damit Mädchen genauso wie Jungen weiter zur Schule gehen können, haben wir mit der Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vereinbart, uns an den Gehältern für Lehrkräfte zu beteiligen. Bedingung dafür ist, dass Mädchen lernen und Frauen unterrichten dürfen und die bisherigen Lehrpläne beibehalten werden. Dazu stehen wir mit unseren internationalen Partnern und den Staaten der Region in engem Austausch.
    Wir werden zusätzliche Stipendien für afghanische Studentinnen über die Deutsche Akademische Flüchtlingsinitiative Albert Einstein für ein Studium in der Region schaffen und so jungen Afghaninnen über Bildung den Weg in ein neues Leben ebnen.
    Um Frauen in Afghanistan stärker vor genderspezifischer Gewalt schützen, werden wir uns in Zusammenarbeit mit UN Women für den Ausbau von Beratungszentren und Frauenhäusern einsetzen und helfen, dass die Stimme von Frauenrechtlerinnen in hochrangigen Gesprächsformaten gehört wird.
  7. Wir sehen die Nöte der afghanischen Zivilgesellschaft und werden uns für die Beibehaltung von Freiräumen einsetzen. Für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger und für Medienschaffende, die Afghanistan verlassen mussten, werden wir durch Schutz- und Förderprogramme die Möglichkeit schaffen, ihre Arbeit von Deutschland und anderen Staaten aus fortzusetzen. Die unvorstellbar mutigen Frauen und Männer, die sich entschieden haben ihre Arbeit vor Ort weiterzuführen, versuchen wir ebenfalls mit konkreten Projekten zu unterstützen.
    Speziell für Journalistinnen und Journalisten stellen wir Stipendien in Deutschland zur Verfügung und entwickeln Projekte zur Erhaltung einer offenen Medienlandschaft in Afghanistan.

Nichts von all dem wird einfach, und Vieles wird länger dauern als wir es uns wünschen. An etlichen Stellen müssen wir unser Engagement beinahe von Null wieder aufbauen. Aber wir haben einen langen Atem, den klaren Willen und nunmehr auch einen ersten Aktionsplan mit konkreten Schritten für die kommenden Monate. Vielen Dank an alle, die uns auf diesem Weg unterstützen.

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