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„Werte und Interessen sind kein Gegensatz“

22.12.2021 - Interview

Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit. Themen sind u.a. das deutsch-russische und das deutsch-chinesische Verhältnis.

Frage: Frau Baerbock, nach zwei Wochen im neuen Job mit ersten Reisen und vielen Begegnungen: Was sieht eine Außenministerin, was eine Kandidatin nicht sieht?  

Außenministerin Annalena Baerbock: Das Amt erfordert, dass man sich in die Lage des anderen hineinversetzt, selbst wenn man die Welt aus einem völlig anderen Blickwinkel sieht. Das ist der Job einer Chefdiplomatin.

Frage: Ihre ersten Tage sind bereits von der harten Auseinandersetzung mit autoritären Mächten geprägt. Sie haben russische Diplomaten ausgewiesen und den Botschafter einbestellt, weil ein deutsches Gericht festgestellt hat, dass Russland Staatsterrorismus mitten in Berlin verübt habe. Russland bedroht mit seinen Truppen die Ukraine. Wie zerrüttet ist unser Verhältnis zu Russland, wie groß die Kriegsgefahr?

Baerbock: So kritisch die Lage an der ukrainisch-russischen Grenze derzeit ist: Russland ist Teil des europäischen Hauses. Europa besteht nicht nur aus der EU, sondern auch aus dem Europarat mit 47 Mitgliedsstaaten, und dazu gehört Russland. Gerade deswegen müssen wir alles tun, um eine neue kriegerische Auseinandersetzung zu verhindern.

Frage: Wie kann man die Krise entschärfen? 

Baerbock: Diese Krise kann nur gemeinsam auf diplomatischem Wege gelöst werden. Darum habe ich mit dem russischen Außenminister Lawrow telefoniert und ihm gesagt, dass wir im Normandie-Format wieder in Gespräche einsteigen sollten...

Frage: ...also Deutschland und Frankreich zusammen mit Russland und der Ukraine...

Baerbock: Ja genau. Aber angesichts der Gefahr einer militärischen Eskalation müssen wir auch die Möglichkeiten im Rahmen der Nato nutzen, den Nato-Russlandrat zum Beispiel, der seit Jahren auf Eis liegt.

Frage: Wie lief das erste Gespräch mit Sergej Lawrow?

Baerbock: Es war eine Chance, die Gesprächsfäden wieder aufzunehmen, auch wenn wir in zahlreichen Punkten sehr gegensätzliche Positionen hatten. Aber das ist nach meinem Verständnis die Grundlage einer starken Außenpolitik: weder um den heißen Brei herumzureden noch die andere Seite mit lautstarken Tönen und Tiraden zu überfallen, sondern die Welt zu beschreiben, wie sie ist, und auf dieser Grundlage zu handeln.

Frage: Normandie-Format und Nato-Russland-Rat funktionieren aber schon länger nicht mehr, weil Russland kein Interesse daran hat und lieber andere Machtmittel nutzt.

Baerbock: Diplomatie ist wie Leistungssport, man braucht einen langen Atem und Stehvermögen und darf sich von Rückschlägen nicht aus dem Konzept bringen lassen. Man muss rund um die Uhr das Gespräch suchen, gerade in angespannten Situationen wie jetzt. Zugleich ist mir wichtig, dass wir als liberale Demokratie deutlich aufzeigen, für welche Werte wir einstehen.

Frage: Darum haben Sie Ihren Staatsminister Tobias Lindner am vergangenen Freitag in die Ukraine geschickt?

Baerbock: Ja. In dieser angespannten Situation wollen wir deutlich machen, wem unsere Solidarität gilt. Ich habe auch selbst mit dem ukrainischen Außenminister telefoniert. Die Souveränität der Ukraine und die Unverrückbarkeit der Grenzen in Europa gehören zur deutschen Außenpolitik. Wir Deutsche tragen mit Blick auf unsere Vergangenheit eine besondere Verantwortung.

Frage: Die Ukraine fordert schon lange Waffenlieferungen zu ihrer Verteidigung.

Baerbock: Der Sicherheit der Ukraine ist eine weitere militärische Zuspitzung nicht zuträglich, darum dränge ich so darauf, dass wir an den Verhandlungstisch zurückkehren. Der stärkste Beitrag zur Sicherheit der Ukraine, den wir leisten können, liegt darin, gemeinsam als Europäer und mit den USA auf Russland einzuwirken, damit die militärischen Drohgebärden an der Grenze ein Ende haben.

Frage: Deutschland könnte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin signalisieren, dass die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen kann, wenn Russland die Ukraine weiter bedroht. Sie haben gesagt, dass bei Nord Stream 2 auch „Sicherheitsfragen“ im Raum stünden. Bundeskanzler Scholz hat die Zulassung der Pipeline nun aber zu einer „privatwirtschaftlichen Frage“ erklärt, über die „ganz unpolitisch entschieden“ werde. Hat die Regierung keine gemeinsame Position? 

Baerbock: Doch, das hat sie. Auch wenn es kein Geheimnis ist, dass wir bei dem Thema aus unterschiedlichen Richtungen kommen, haben sowohl der Bundeskanzler als auch ich deutlich gemacht, dass beim derzeitigen Genehmigungsprozess das europäische Energierecht angewandt wird. Gerade weil die Bundesnetzagentur mit Blick auf diese rechtlichen Fragen Einwände erhoben hat, ist die Zertifizierung vor kurzem gestoppt worden. Es ist nicht nur in unserem politischen, sondern auch in unserem wirtschaftlichen Interesse, dass Energie nicht als Waffe zur Destabilisierung Europas eingesetzt werden kann. Darum hat die EU ihre Gasrichtlinie neu gefasst. Auch im weiteren Abwägungsprozess wird die Frage der Energiesicherheit eine Rolle spielen.

Die vorherige Bundesregierung hatte sich zudem bereits mit der amerikanischen Regierung darauf verständigt, dass bei einer weiteren Eskalation Russlands mit Blick auf die Ukraine auch die Frage im Raum steht, ob Nord Stream 2 in Betrieb gehen kann. Das gilt auch weiterhin.

Frage: Das heißt, es gibt das klare Signal, dass durch diese Röhre kein Gas fließen wird, wenn es keine Entspannung an der ukrainischen Grenze gibt? 

Baerbock: Die Lage ist so, wie ich sie gerade beschrieben habe.

Frage: Sollte man im Falle einer russischen Invasion in die Ukraine mit personenbezogenen Sanktionen gegen das Umfeld Putins reagieren? Oder mit dem Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehr? 

Baerbock: Ich verwende meine ganze Kraft darauf, dass es zu keiner weiteren Eskalation kommt. Wir haben im Rahmen der G7 daher sehr deutlich gemacht, dass es massive wirtschaftliche und diplomatische Konsequenzen für Russland hätte, wenn es zu einem Angriff auf die Ukraine käme.

Frage: Die Krise im deutschen Verhältnis zu Russland geht über diesen aktuellen Konflikt hinaus. Es heißt,dass wir eine „Neue Ostpolitik“ bräuchten. Können Sie damit etwas anfangen?

Baerbock: Ja. Allerdings kann man nicht einfach die Antworten von vor fünfzig Jahren auf die internationalen Beziehungen in einer globalisierten und hoch vernetzten Welt anwenden. Wir leben in einer Welt, in der es zwar zum Glück keine Blockkonfrontation mehr gibt, aber einen Wettbewerb zwischen autoritären Kräften und liberalen Demokratien. Darauf muss Europa eine eigene, souveräne Antwort finden.

Frage: Wo wir schon bei der Herausforderung durch autoritäre Mächte sind: Im Koalitionsvertrag hat die Regierung verabredet, auch das Verhältnis zu China neu zu justieren. Worauf kommt es da an? 

Baerbock: Auf eine gemeinsame europäische Haltung. Unser Verständnis ist, dass China für uns Partner bei globalen Fragen, Wettbewerber im wirtschaftlichen Bereich, aber auch Systemrivale in Bezug auf unser Werteverständnis ist. Diesen Dreiklang kann man nicht ausblenden. Leider gibt es in Menschenrechtsfragen keine Fortschritte – im Gegenteil: die Lage in Xinjiang, der Fall Peng Shuai und die Beschneidung von Freiheiten in Hongkong zeigen das. Gleichzeitig brauchen wir die Kooperation mit China, gerade mit Blick auf die Bedeutung Chinas für den Umwelt- und Klimaschutz und die globale Gesundheit.

Frage: Im Koalitionsvertrag werden lauter Themen angesprochen, bei denen China äußerst empfindlich reagiert – die Lage in Hongkong, in Xinjiang, in Taiwan. Gefährdet die klare Sprache bei solchen Konfliktpunkten nicht die guten Geschäfte der deutschen Wirtschaft? 

Baerbock: Wir müssen uns der Realität stellen, dass wir als EU, aber noch stärker als Bundesrepublik Deutschland, mit China wirtschaftlich eng verbunden sind. Wir können und wollen uns auch nicht von diesem riesigen Markt entkoppeln. Zu einer langfristig erfolgreichen Wirtschaftskooperation gehört aber auch eine Verständigung auf gemeinsame Werte und Standards, sonst entsteht eine Schieflage. Die Vorstellung, man könnte mit einzelnen Ländern nur über wirtschaftspolitische Fragen reden und andere Probleme in den Beziehungen ausklammern, geht in einer globalisierten Welt nicht auf.

Frage: Wie sinnvoll ist dann die Unterscheidung von wertebasierter und interessengeleiteter Außenpolitik?

Baerbock: Werte und Interessen sind kein Gegensatz; diese Unterscheidung führt in eine Sackgasse. Als sozial-ökologische Marktwirtschaft werden wir unsere Wirtschaftsinteressen nur erfolgreich vertreten, wenn wir zugleich die Werte eines fairen Marktzugangs und eines fairen Umgangs mit Arbeitnehmerinnen verteidigen. Wenn wir anderen Akteuren erlauben, sich nicht an Regeln und Standards zu halten, hat die deutsche Wirtschaft einen schweren Wettbewerbsnachteil. Wir haben bereits auf dem europäischen Binnenmarkt erlebt, dass unsere Unternehmen benachteiligt werden, wenn andere sich nicht an europäische Regeln halten, etwa bei staatlichen Subventionen. Darum drängt heute auch der Bundesverband der Deutschen Industrie, der bisher nicht immer mit Amnesty International einer Meinung war, darauf, dass wir eine China-Politik überdenken müssen, die alles scheinbaren kurzfristigen Handelsvorteilen unterordnet.

Frage: Chinas Präsident Xi Jinping scheint zu hoffen, dass sich unter Bundeskanzler Scholz nicht viel ändern wird an der deutschen China-Politik. Haben Sie sich mit dem Bundeskanzler über eine gemeinsame Botschaft an die chinesische Führung verständigt?

Baerbock: Natürlich. Entweder wir haben eine gemeinsame Außenpolitik oder wir haben gar keine. Das weiß ich, Olaf Scholz weiß es auch, und wir haben einen guten Draht zueinander.

Außenpolitik ist heutzutage mehr als Diplomatie, es geht um praktisches Handeln auf allen Politikfeldern von Handel bis Gesundheit. Das ist der Grundsatz dieser Ampel-Koalition: eine kohärente Außenpolitik zu betreiben, in der einzelne Politikfelder nicht neben- oder gegeneinander bearbeitet werden. Das Auswärtige Amt ist der Ort, wo unser internationales Handeln als Ganzes vorausgedacht und zusammengeführt wird, weil hier die enorme Expertise unserer mehr als 220 Auslandsvertretungen zusammenläuft. 

Frage: Der Fraktionschef der SPD, Rolf Mützenich, hat gesagt, die Außenpolitik werde „insbesondere“ im Kanzleramt gesteuert. Sie wiederum haben gerade einen Staatssekretär mit SPD-Parteibuch entlassen und einen Grünen geholt. Das wirkt eher so, als kämpften Sozialdemokraten und Grüne um die Linie in der Außenpolitik.

Baerbock: Nein, das ist ein falscher Eindruck. Zu Beginn einer Legislaturperiode wird in allen Ministerien geschaut, wie man sich am besten aufstellt. Der bisherige und der neue Staatsekretär werden auf unterschiedlichen Posten weiter mit mir zusammenarbeiten.

Frage: Also ist es nicht so, wie manche suggerieren, die Grünen sind die Moralisten in der Außenpolitik und auf der sozialdemokratischen Seite stehen die abgebrühten Interessenpolitiker?

Baerbock: Angesichts der gegenwärtigen Krisen habe ich keine Zeit, mich an Pappkameraden abzuarbeiten. Es gibt weder hundertprozentige Interessens- noch Moralpolitik. Ein solch schlichtes Schema passt nicht zu den Herausforderungen unserer Zeit. Wie gesagt, mein Anspruch als Außenministerin ist, auf Grundlage klarer Wertvorstellungen die Interessen Deutschlands in der Welt zu vertreten.

Frage: Die USA und einige befreundete Nationen wollen die Olympischen Spiele in Peking diplomatisch boykottieren. Soll Deutschland sich dem Boykott anschließen?

Baerbock: Als ehemalige leidenschaftliche Leistungssportlerin finde ich, Olympische Spiele sollten zuallererst ein Höhepunkt im Leben von Sportlerinnen und Sportlern sein, nicht von Politikerinnen und Politikern. Wir stecken zudem mitten in einer Pandemie, die diplomatische Reisen ohnehin erschwert. Dennoch können wir nicht ausblenden, wie wir mit diesem Ereignis in einem Land umgehen, dessen Verhalten viele menschenrechtliche Fragen aufwirft, übrigens auch im Umgang mit Sportlerinnen.

Frage: Sie denken an die chinesische Tennisspielerin Peng Shuai, die einen hohen Funktionär sexueller Übergriffe beschuldigt hat und daraufhin wochenlang verschwunden war?

Baerbock: Ja. Deshalb ist mir so wichtig, dass wir uns mit unseren europäischen Partnern abstimmen.

Frage: Litauen hat Taiwan erlaubt, ein Vertretungsbüro zu eröffnen, und gerät darum unter massiven Druck aus China. Auch deutsche Unternehmen werden gedrängt, Geschäfte mit Litauen einzustellen, wenn sie im chinesischen Markt bleiben wollen. Wird Deutschland Litauen beistehen? 

Baerbock: Europa muss klarmachen, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Das Beispiel zeigt, wie sehr in unserer Welt Außen-, Wirtschafts- und Handelspolitik verzahnt sind. Wir müssen die Souveränität Europas stärken, wie es die EU-Kommission ja bereits tut, die ja gerade erst einen neuen Mechanismus vorgestellt hat, mit dem die EU sich gegen solche Zwangsmaßnahmen wehren kann.

Frage: Dieses neue Anti-Zwangsmaßnahmen-Instrument ist aber noch nicht verabschiedet.

Baerbock: Aber auf den Weg gebracht. Insgesamt gibt es mehr Schwung bei einer gemeinsamen Chinapolitik der EU. Wir als größtes Land im Herzen Europas spielen dabei eine wichtige Rolle.

Frage: Die Demokratie wird heute nicht nur von außen, sondern auch durch die inneren Krisen der westlichen Staaten infrage gestellt. Ein Comeback von Donald Trump in den USA ist denkbar. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass unser mächtigster Partner ins autoritäre Lager wechseln könnte. Wie bewahrt man sich da die Zuversicht?

Baerbock: Indem man sich nicht darauf konzentriert, gegen etwas zu sein, sondern trotz aller Komplexitäten offensiv und selbstbewusst für die Prinzipien wirbt, für die wir stehen, und sie mit Leben füllt: Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit. Deshalb ist es mir so wichtig, die Zusammenarbeit mit anderen liberalen Demokratien zu intensivieren.

Interview: Jörg Lau und Samiha Shafy

www.zeit.de

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