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Rede von Staatsministerin Michelle Müntefering zur Eröffnung der 18. Internationalen Buchmesse in Thessaloniki
Stellen Sie sich vor: Es ist Morgen in der Athener Innenstadt. Die ersten Geschäfte machen auf - und es steht bereits eine lange Schlange vor dem angesagtesten Buchladen am Theater. Der verkauft keinen neuen Harry Potter, sondern das Buch des Philosophen Anaxagoras, vor genau 2420 Jahren. Der Preis: eine Drachme. Das war ungefähr das Tagesgehalt eines Facharbeiters.
Kein anderer als Sokrates beschreibt diese Szene in seiner Verteidigungsrede im Jahr 399 vor Christus.
Denn: Wie soll es anders sein - am Ende waren es ja doch immer die alten Griechen, das ist beim Buchhandel nicht anders. Die Buchmesse hier in Thessaloniki ist das nächste Kapitel einer schon ziemlich langen Geschichte. Die Überschrift heute lautet: Im Dialog.
Umso mehr freut es mich, dass gerade Deutschland die Ehre hat, Gast der Buchmesse zu sein in diesem besonderen Jahr, in dem sich der Beginn der griechischen Revolution zum 200. Mal jährt. Das ist ein wichtiges Datum für Griechenland, aber auch für Deutschland und für ganz Europa. Europa steht auf dem Fundament der Akropolis – vom Drama über die Philosophie bis zur Demokratie.
Das Kapitel, das die Buchmesse heute aufschlägt ist aber kein bloßer Abschnitt aus einem Geschichtsbuch. Es geht vielmehr darum, gemeinsam Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft, die einige Herausforderungen bereithält.
Sehr geehrte Damen und Herren,
in Deutschland ist der Buchhandel insgesamt vergleichsweise gut durch das letzte Jahr gekommen. Aber viele langfristigen Trends haben sich verstärkt, zum Beispiel die Zunahme des Online-Handels. Welche Konsequenzen hat das? Auch darüber müssen wir gemeinsam nachdenken. Und dafür ist die Buchmesse der richtige Ort.
Hier werden deutschsprachige und griechische GesprächspartnerInnen über soziale Gerechtigkeit genauso wie über Algorithmen und künstliche Intelligenz diskutieren, es gibt Lesungen und einen Wettbewerb für junges griechisches Buchdesign.
Klar ist: Für das Miteinander in einer Demokratie, ist Dialog unverzichtbar.
Und: Der Dialog braucht die Literatur. Denn sie zeigt neue, oft radikal subjektive Perspektiven auf die Welt. Sie konfrontiert uns mit Menschen, denen wir in unserem Alltag sonst nicht begegnen würden. Literatur, das ist eine Schule der Empathie.
Um die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen in uns zu entwickeln, dazu braucht es immer wieder vielfältige Geschichten und Erzählungen.
Ein Thema, dass mich besonders umtreibt ist die Perspektive, die in Kultur, Politik, Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft auch heute noch viel zu selten vorkommt: Die Perspektive der anderen Hälfte der Bevölkerung, der Frauen. Heute am internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt an Frauen sollte uns das besonders aufhorchen lassen. Sappho ist nicht mehr allein. Sie war es nie. Und es kommen noch so viele nach ihr, deren Geschichten wir hören sollten.
In Deutschland haben wir gerade den Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung vorgestellt. Und auch, wenn ich noch der alten Regierung angehöre, durfte ich die neue Kulturpolitik mitverhandeln. Da ist Gutes auf dem Weg.
Zwei kurze Beispiele: Im Kulturkapitel machen wir deutlich, dass wir auf Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt und Nachhaltigkeit setzen - und dass wir Jurys paritätisch und divers besetzen werden.
Und auch unsere Erinnerungskultur findet ihren Platz. Lassen Sie mich wörtlich folgende Passage vortragen: „Gerade gegenüber unseren europäischen Nachbarn empfinden wir besondere Verantwortung, aber auch die aktuellen Debatten etwa in Griechenland oder der Ukraine zeigen, dass die gemeinsame Aufarbeitung nicht abgeschlossen ist.“
Gerade hier in Thessaloniki, aber auch an vielen anderen Orten Griechenlands sind die Verbrechen, die Deutsche während des Zweiten Weltkriegs begangen haben, bis heute spürbar. Aber auch der Wille, einer jungen Generation die Möglichkeit zu geben, gemeinsam etwas besser zu machen. Das macht Hoffnung.
Das Jugendwerk ist dafür ebenso beispielhaft, wie 260.000 Kinder, die an griechischen Schulen Deutsch lernen. Nicht zuletzt: Nächstes Jahr feiert das Goethe-Institut Athen, das hier auf der Buchmesse als Partner beteiligt ist, seinen 70. Geburtstag. Es ist das älteste Goethe-Institut weltweit.
Meine Damen und Herren,
als Sokrates und Anaxagoras vor über 2400 Jahren lebten, wuchs die Welt zum ersten Mal zusammen. Revolutionäre Gedanken entstanden gleichzeitig in Indien wie in China, in Griechenland genau wie in Israel. Der Philosoph Karl Jaspers prägte dafür den Begriff der Achsenzeit. Ich bin überzeugt: Wir leben heute in einer neuen Achsenzeit. Aber die Entwicklung, die sich früher in Jahrhunderten vollzog, geschieht heute in wenigen Jahren.
Diesen Wandel demokratisch und sozial zu gestalten, das ist die große Zukunftsaufgabe des Jahrzehnts. Und eines ist für mich völlig klar: Wir werden diesen Wandel nur gemeinsam als Europäer bewältigen können.
sas efcharistó já tín prósklisi ke tí filoxenía sas!