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„Die Pandemie hat uns gelehrt wie störungsanfällig unser globalisierter Kapitalismus ist“

05.07.2021 - Interview

Außenminister Maas im Interview mit der spanischen Online-Zeitung „El Diario“,erschienen am 05.07.2021.

Sie sind seit drei Jahren an der Spitze des Außenministeriums. In dieser Zeit haben Sie eine verheerende Pandemie, den Brexit, das Ende der Ära Trump oder die Herausforderung der Beziehungen zu Russland und China erlebt. Welche Unterschiede gibt es zwischen der Welt, die Sie bei Ihrem Amtsantritt vorgefunden haben, und der zum Ende Ihrer Amtszeit?

In einem Satz: Unsere Welt ist verletzlicher, brüchiger geworden. Die Pandemie hat uns gelehrt, wie schnell unser gewohntes Leben aus den Fugen geraten kann, wie störungsanfällig unser globalisierter Kapitalismus ist. Und zugleich macht sich eine noch viel größere Bedrohung immer deutlicher bemerkbar: der menschengemachte Klimawandel. Es geht nicht mehr um abstrakte Schreckenszenarien für die ferne Zukunft, sondern wir sehen die Veränderungen im Hier und Jetzt. Darauf müssen wir reagieren – und zwar geschlossen als Weltgemeinschaft. Das ist die wohl größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte. Und es ist nicht zuletzt auch eine Herausforderung für die Außenpolitik. Deshalb ist es zugleich ein Privileg und eine große Bürde, in dieser Zeit Außenpolitiker zu sein.

Das umstrittene ungarische Anti-LGBTI-Gesetz hat wieder einmal gezeigt, dass die EU gespalten ist. War die EU zu lasch und hat Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte unter ihren eigenen Mitgliedern zugelassen?

Es ist mir zu einfach, dieses Problem allein bei der EU in Brüssel zu verorten. Wir alle tragen dafür Verantwortung. Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind für das Funktionieren der EU als Staatengemeinschaft absolut unverzichtbar. Diese zentralen Werte müssen überall gelebt und geachtet werden. Das im eigenen Land sicherzustellen, ist zunächst die Pflicht jedes einzelnen Mitgliedstaates.

Aber es sollten sich auch die Mitgliedstaaten gegenseitig über die Schulter schauen – in einem transparenten Verfahren auf Augenhöhe. Mit diesem Ziel haben wir während der deutschen Ratspräsidentschaft einen „Peer Review“-Mechanismus eingeführt, in dem sich die Mitgliedsstaaten reihum gegenseitig begutachten. So wollen wir bei Fehlentwicklungen frühzeitig gegensteuern und die Verständigung über gemeinsame Grundwerte fördern.

Und dann gibt es natürlich die Rolle der Europäischen Kommission als „Hüterin der Verträge“, mit rechtlichen Instrumente wie Vertragsverletzungsverfahren. Auch in diesem Bereich haben wir während der deutschen Ratspräsidentschaft mit der Rechtstaatskonditionalität im EU-Haushalt ein neues Instrument eingeführt. Das ist ein scharfes Schwert. Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit können künftig sehr teuer werden.

Die Wahlen im September werden als entscheidend angesehen. Merkel verabschiedet sich nach 16 Jahren und der Aufstieg der Grünen scheint das traditionelle konservativ-sozialdemokratische Gespann gebrochen zu haben. Die CDU hat auf ihre Ablehnung jeglicher „Zusammenarbeit“ mit der AfD bestanden, während die Regierung vor einem gefährlichen Anstieg des Rechtsextremismus warnt. Glauben Sie, dass die deutsche Vorgehensweise, wie man sich dem stellt, ein Beispiel für Spanien ist?

Quer durch die EU sind nationalistische und demokratiefeindliche Stimmen lauter geworden, leider auch in Deutschland. Deshalb müssen wir uns überall in der EU dieser Auseinandersetzung stellen – jede und jeder Einzelne von uns. Dabei gibt es keine Patentrezepte, aber demokratische Parteien dürfen keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass es eine stabile Brandmauer gegen antidemokratische Kräfte gibt.

Die Kommission hat im September einen Migrationspakt auf den Tisch gelegt, der von den Ländern des Südens wie Spanien für seine „fehlende Balance zwischen Solidarität und Verantwortung“ kritisiert wurde, aber es wurden keine Fortschritte gemacht. Sie haben sich kürzlich für eine „Aktualisierung der Zusammenarbeit mit der Türkei“ ausgesprochen. Ist das der Weg in die Zukunft? Mehr als fünf Jahre nach dem Abkommen mit dem Nachbarland sitzen immer noch Tausende von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln fest, wenn sie nicht sogar illegal auf türkisches Territorium zurückgeführt werden, so zahlreiche Klagen.

Wir brauchen in Europa dringend eine einheitliche Migrationspolitik, um die Lasten fair zu verteilen und unseren humanitären Ansprüchen als EU gerecht zu werden. Das ist nicht nur im Interesse der Hauptankunftsländer im Süden, sondern im Gesamtinteresse der EU – und natürlich auch Deutschlands als einem der Hauptaufnahmeländer. Aber leider sehen wir seit Jahren, wie schwer es uns fällt, eine gemeinsame europäische Antwort zu finden. Wir müssen jetzt den Stillstand bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems überwinden, damit sich die Tragödien vergangene Jahre nicht wie in einer Endlosschleife wiederholen. Dafür braucht es Kompromissbereitschaft von allen Seiten.

Dabei müssen wir auch die außenpolitische Dimension der Migration mitdenken und insbesondere die Zusammenarbeit mit den Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeländern weiter ausbauen. Auch darin sind wir uns mit der spanischen Regierung völlig einig. Die Türkei ist weltweit das größte Aufnahmeland von Flüchtlingen und eine faire Lastenteilung ist auch in unserem Interesse. Deshalb sollten wir als EU diese Zusammenarbeit fortsetzen. Aber ebenso klar ist unsere Erwartung, dass sich die Türkei im Gegenzug auch an die EU-Türkei Erklärung hält und Geflüchtete nicht politisch instrumentalisiert.

Die USA haben gesagt, dass der Bau der russischen Nord Stream 2-Pipeline ihr Hauptstreitpunkt mit Deutschland ist. Sie glauben, dass es sich um „ein geopolitisches Projekt handelt, das Europas Energiesicherheit bedroht und die Sicherheit der Ukraine und anderer Länder untergräbt.“ Was ist Ihre Perspektive?

Die Kritik an Nord Stream kennen wir natürlich. Aber unsere Einschätzung ist weiterhin, dass Nord Stream 2 energiepolitisch sinnvoll ist. Wir haben uns von Beginn an sehr dafür eingesetzt, dass eine tragfähige Kompromisslösung entsteht, die gerade auch den berechtigten Interessen der Staaten Mittel- und Osteuropas Rechnung trägt – insbesondere der Ukraine. Genau diesem Ziel dient auch die Gas-Richtlinie von 2019. Deutschland hat sich sehr dafür stark gemacht, dass der Gastransit durch die Ukraine bestehen bleibt und wird dies auch weiterhin tun. Dazu sind wir in sehr intensiven Gesprächen, auch mit den USA.

Die deutsche Regierung hat anerkannt, dass das Massaker an Tausenden von Menschen durch die Armee des Deutschen Reiches in Namibia zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein „Völkermord“ war, obwohl die von manchen Seiten geforderte Entschädigung abgelehnt wurde. Warum hat es so lange gedauert? Welche Schritte sollten Deutschland und andere EU-Nachbarn unternehmen, um ihre koloniale Vergangenheit einzugestehen und Wiedergutmachung zu leisten?

Die Verbrechen der deutschen Kolonialherrschaft haben die Beziehungen mit Namibia lange belastet. Da ist es wenig verwunderlich, dass wir die Einigung nicht über Nacht erzielt haben. Unser Ziel war und ist es, einen gemeinsamen Weg zu echter Versöhnung im Angedenken der Opfer zu finden. Dazu gehört, dass wir die Gräueltaten in der Zeit von 1904 bis 1908 im heutigen Namibia jetzt auch offiziell als das bezeichnen, was sie aus heutiger Sicht waren: ein Völkermord. Als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids wollen wir Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Milliarden Euro für Wiederaufbau und Entwicklung unterstützen. Wie das genau aussehen soll, wird die namibische Seite mitgestalten.

Ungleichheit kennzeichnet die globale Verteilung von COVID-Impfstoffen, während Covax, der Mechanismus, auf den sich die EU verlassen hat, sein Ziel des gleichberechtigten Zugangs bisher nicht erreicht hat, nicht zuletzt, weil Länder mit mehr Ressourcen die Impfstoffe horten. Haben wir versagt? Deutschland hat sich gegen die TRIPS-Ausnahme gewehrt, obwohl eine Macht wie USA ihre Meinung geändert hat. Warum? Sie haben argumentiert, dass es keine schnelle Lösung ist, aber es ist ein Vorschlag, der seit Oktober auf dem Tisch liegt, und die Befürworter argumentieren, dass er mittel- bis langfristig helfen könnte, und dass es einen Technologietransfer geben muss.

Diese Debatte ist für mich überhaupt kein Tabu, auch über diese Option sollten wir sprechen. Aber für eine schnelle weltweite Versorgung mit Impfstoffen nützt eine TRIPS-Ausnahme nur wenig. Wichtig ist jetzt vor allem, dass schnell ausreichend produziert wird. Daher kann ich alle Staaten nur ermuntern, Handelsbeschränkungen zu beseitigen. Als EU exportieren wir 45% der bei uns hergestellten Impfstoffe. Das macht uns zum Impfstoff-Exportweltmeister. Und die EU und wir als Mitgliedstaaten werden 1 Milliarde Euro bereitstellen, um Produktionsstandorte in afrikanischen Staaten aufzubauen, etwa in Südafrika und Senegal. Und nicht zuletzt setzen wir uns auch für eine weltweit gerechte Verteilung von Impfstoffen ein: Wir sind zweitgrößer Geber der internationalen Impfstoffinitiative Covax, über die schon über 90 Millionen Dosen ausgeliefert werden konnten. Bis Anfang 2022 wollen wir in den Entwicklungsländern 30% der Bevölkerung erreichen.

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