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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth zur Debatte im Bundestag zum Thema Antisemitismus und jüdische Vielfalt in Deutschland

19.05.2021 - Rede

Ich will ganz offen sein: Als ich gestern von meiner Fraktion gebeten wurde, in der heutigen Debatte zu unserem Einsatz gegen den Antisemitismus zu reden, habe ich für einen kurzen Moment gezögert. Nicht etwa, weil mir das Thema nicht am Herzen liegen würde - ganz im Gegenteil! Nein, weil bei einem Thema wie diesem immer auch die Gefahr besteht, dass das Gesagte, so wichtig und richtig es auch im Einzelfall sein mag, allzu floskelhaft daherkommt.

Dennoch stehe ich heute hier am Redepult. Denn jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um zu schweigen.

Wir dürfen nicht schweigen. Gerade nach den Ereignissen der vergangenen Tage sind klare Worte und entschlossenes Handeln notwendiger denn je. Was sich auf Straßen und Plätzen in Deutschland und im Netz an Hass und Hetze über Jüdinnen und Juden ergießt, ist eine Schande.

Gestern Abend sagte mir meine Freundin Avitall aus Berlin: Schrecklich, entsetzlich! Ich könnte weglaufen. - Ein junger Deutscher jüdischen Glaubens schrieb mir kürzlich:

„Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Angst auf der Straße! Ich drehe mich immer wieder um … weil ich Angst habe, dass mir jemand folgt - zum Beispiel auf dem Weg in die Synagoge!“

Können wir uns überhaupt vorstellen, welche Spuren diese Hetze bei jungen Menschen hinterlässt? Bei Älteren, die das unvorstellbare Morden, den Holocaust selbst erlebt haben? Bei Kindern, Enkelinnen und Enkeln von Überlebenden, die mit den Geschichten von Verfolgung und Tod aufgewachsen sind?

Was ich in den vergangenen Tagen in den sozialen Medien lesen musste - und ich habe schon viel gelesen -, schockiert mich zutiefst. Nachdem ich mich klar und unmissverständlich für das Existenz- und Verteidigungsrecht Israels ausgesprochen habe, brach neben viel Sympathie ein Sturm der Entrüstung aus. Was für die große Mehrheit von uns ganz selbstverständlich klingt, ist für andere in unserem eigenen Land leider immer noch keine Selbstverständlichkeit. Die Vorbehalte, ja, die abgrundtiefe Verachtung, die Israel, die Menschen jüdischen Glaubens immer noch entgegenschlägt, ist einfach nur widerlich.

Offenkundig war mein Blick auf mein eigenes Land, mein Blick auf mein Europa zu optimistisch. Ich könnte es auch anders sagen: Ich war offenkundig zu naiv. Wir erleben diesen Hass ausgerechnet in Deutschland, dem Land, das in der dunkelsten Stunde seiner Geschichte gezeigt hat, in welche Abgründe der Hass auf Jüdinnen und Juden in seiner schrecklichsten Ausprägung führen kann, ausgerechnet in dem Land, in dem die Ermordung der europäischen Juden ideologisch vorgedacht, propagandistisch verbreitet, geplant und ausgeführt wurde. 6 Millionen ermordete jüdische Frauen, Kinder und Männer mahnen uns - gestern, heute und morgen.

Der Antisemitismus, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag jahrhundertealt sein, aber er ist ungemein wandlungsfähig. Die Polizeiliche Kriminalstatistik unterscheidet zwischen rechtem, linkem und muslimischem Antisemitismus. Alle müssen entschlossen bekämpft werden.

Jetzt zu Ihnen, Frau Abgeordnete: Die Nationalisten und Populisten in der AfD empören sich lautstark über den sogenannten importierten Antisemitismus, so, als ob wir keinen bis weit in die gesellschaftliche Mitte verankerten Antisemitismus in Deutschland hätten.

Sie von der AfD düngen den Boden, auf dem genau dieser Antisemitismus wachsen und reifen kann. Sie reden mit Blick auf den Nationalsozialismus vom „Vogelschiss der Geschichte“. Sie fordern eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Sie versagen kläglichst im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus und Judenhass.

Aber eines ist eben auch klar: Wir sind heute in Deutschland glücklicherweise eine bunte, vielfältige Gesellschaft. Wir leben in einem Land, in dem es keine Rolle spielen darf, woher man kommt, woran man glaubt und wen man liebt, ein Land, in dem wir alle ohne Angst verschieden sein können. Bei aller Buntheit, bei aller Vielfalt darf es aber in einem Punkt niemals Kompromisse geben: Deutschland steht fest an der Seite Israels. Das Existenz- und Verteidigungsrecht Israels ist für uns unverhandelbar. Denn aus unserer Geschichte und dem Holocaust folgt eine ganz besondere, einzigartige Verpflichtung für Deutschland. Und das muss wirklich für alle hier lebenden Menschen gelten:

für diejenigen, die hier geboren wurden, ebenso wie für die, die in Deutschland eine neue Heimat suchen oder längst gefunden haben. Hier darf es keine Kompromisse geben und auch keine Toleranz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn das klare Bekenntnis zu Israel seit Jahrzehnten zur deutschen Staatsräson zählt, so wie es Herr Klein eben gesagt hat, so höre ich doch auch immer wieder Kritik. Warum folgen diesen klaren Worten keine ebenso klaren Taten?

Dem will ich ausdrücklich widersprechen. Antisemitische Attacken müssen hart bestraft werden, und wir haben dafür auch die Handhabe.

Deshalb war es richtig, dass die Koalition auf Initiative meiner Fraktion das Verbrennen von Flaggen unter Strafe gestellt hat.

Dieser Straftatbestand muss konsequent angewendet werden. Wer israelische Flaggen verbrennt, muss hart bestraft werden.

Im Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität werden antisemitische Tatmotive nun ausdrücklich als strafschärfende Beweggründe genannt. Denn wir wissen, dass insbesondere Menschen jüdischen Glaubens immer wieder unmittelbar von diesem Hass betroffen sind.

Ich möchte an dieser Stelle an alle appellieren, insbesondere auch an unseren geschätzten Koalitionspartner, endlich einen Durchbruch zu wagen bei der Unterstützung von Demokratie- und Teilhabeprojekten.

Es muss selbstverständlicher Teil der Demokratiebildung und -erziehung sein, dass wir über Antisemitismus und Israelfeindlichkeit sprechen. Und ich kann nicht verstehen, dass wir da noch nicht vorangekommen sind.

Um es ganz klar zu sagen: Die massiven Konflikte im Nahen Osten lassen niemanden von uns kalt, sind aber keine Rechtfertigung für Antisemitismus. Allzu oft wird heute Antisemitismus hinter vermeintlich legitimer Kritik an der israelischen Regierung versteckt.

Für wie anmaßend halten wir uns eigentlich? Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten mit einer lebendigen, vielfältigen, kritischen Zivilgesellschaft.

Die brauchen unsere Belehrungen nicht.

Das Zündeln fängt an, wo antisemitische Stereotype bedient werden, um die Stimmung anzuheizen, und setzt sich fort, wenn der Holocaust verharmlost und verfälscht wird. Dass jüdisches Leben in Deutschland weiter blühen und gedeihen kann, schulden wir nicht nur den sechs Millionen ermordeten Juden und ihren Nachkommen, wir schulden es vor allem und zuerst unserer eigenen Selbstachtung - unserer Selbstachtung als freies, demokratisches Deutschland inmitten des vereinten Europas.

Vielen Dank.

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