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Mutige Verantwortung zeigen für unser Europa

29.04.2024 - Namensbeitrag

Gastbeitrag von Außenministerin Baerbock in mehreren europäischen Medien.

Die Europahymne im Ohr, am Himmel goldener Funkenregen. Einander völlig fremde Menschen lagen sich in den Armen. Mit hunderten Menschen feierte auch ich damals, am 1. Mai 2004, auf der Oderbrücke zwischen dem ostdeutschen Frankfurt und westpolnischen Słubice diesen besonderen europäischen Moment: Ost und West waren endlich in der Europäischen Union vereint. Rund 75 Millionen Menschen in Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern wurden in dieser Nacht Teil der EU-Familie. Später kamen auch unsere Nachbarn in Bulgarien, Rumänien und Kroatien hinzu.

Mutige Verantwortung und Weitblick der Menschen in den Beitrittsstaaten – vom Baltikum bis zum Mittelmeer – haben damals dieses große Fest möglich gemacht. Sie sind beherzt den langen und schwierigen Reform- und Angleichungsprozess angegangen.

Für mich als deutsche Außenministerin macht der 1. Mai deutlich: Jede Generation hat ihre Aufgabe. Die Generationen unserer Eltern und Großeltern haben nach dem 2. Weltkrieg erkannt, dass Versöhnung die Grundlage ist für eine Europäische Gemeinschaft des Friedens. Wir Deutschen dürfen nie vergessen, dass gerade wir, die Krieg und Vernichtung über so viele gebracht haben, so den Weg zu Frieden und Freundschaft finden durften. Die Generationen vor uns haben eine Europäische Union der Freiheit geschaffen - zum Leben, Arbeiten und Wirtschaften – vom Atlantik bis zur Grenze zu Russland.

Die Generation der großen Erweiterungsrunde musste damals den Mut aufbringen, sich nicht von Gegenwind und populistischen Parolen beirren zu lassen. Wie in Deutschland, wo in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Angst vor dem „polnischen Klempner“ – geschürt wurde. Aufgabe von Politik jedoch ist, wie es der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel einmal sagte: „das Richtige zu tun und es populär zu machen“. Anstatt sich Stimmungen hinzugeben und davon treiben zu lassen. Hätte es die Sozialen Medien damals schon gegeben, fragt man sich, ob die Debatte vielleicht anders ausgegangen wäre. Aber aus Hass, Populismus und Bedenkenträgerei kann nichts Hoffnungsvolles wachsen.

Unsere Generation steht jetzt vor der Aufgabe, das Friedens- und Freiheitsprojekt Europa zu verteidigen und zu stärken, auch wenn es unheimlich viel Kraft kostet. Denn Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine führt uns auf brutalste Art und Weise vor Augen: Unser Frieden, unsere Freiheit und unser Wohlergehen in Europa sind nicht selbstverständlich. Was die Generationen vor uns leitete beim Aufbau unseres geeinten Europas, das brauchen auch wir für heute, um unser Europa zu schützen: Mutige Verantwortung und Weitblick.

Als Europäische Union verteidigen wir gemeinsam mit Freunden und Verbündeten unsere Werte und unsere Sicherheit. Fest an der Seite der Ukraine. So lange, wie es nötig ist. An der Seite des Landes, das seit über zwei Jahren größte Opfer für eine Zukunft in Freiheit und Demokratie bringt – und das inzwischen mit großen Schritten selbst den Weg in Richtung EU-Beitritt geht.

Spätestens seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine wissen wir: die Erweiterung unserer EU ist heute auch eine geopolitische Notwendigkeit. Politische und geografische „Grauzonen“ auf dem Balkan oder im Osten der EU sind brandgefährlich. Wir können uns solche Grauzonen nicht leisten, denn für Putin sind sie eine Einladung zur Einmischung, zur Destabilisierung.

Die Europäische Union steht für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Genau wie vor 20 Jahren sehen auch heute wieder Millionen Europäerinnen und Europäer eine Chance und eine Verheißung darin, EU-Bürger zu werden. Und wir können es uns nicht noch einmal leisten, dass wie in den Staaten des westlichen Balkans eine ganze Generation im Warteraum der EU verbringt. Die Chance, unsere Union größer und stärker – und damit auch sicherer – zu machen, dürfen wir nicht verspielen. Unsere Friedens- und Freiheitsunion ist offen für neue Mitglieder.

Doch damit die Aufnahme weiterer Staaten in die Union gut gelingt, müssen wir sicherstellen, dass die EU nach innen wie nach außen handlungsfähig bleibt. Dazu werden wir unsere EU konsequent weiterentwickeln. Auch wenn wir um das „wie“ – wie in einer großen Familie üblich – immer wieder heftig ringen. Der Erfahrungsschatz der seit 2004 beigetretenen EU-Mitglieder, die einen langen Transformationsprozess erfolgreich gemeistert haben, ist dabei von ganz besonderem Wert.

Damit unsere Freiheitsunion diese Generationenaufgabe schaffen kann, müssen wir sie reformieren. Dazu gehören für mich auch weniger Vetomöglichkeiten im Rat. Auch in einer Union mit perspektivisch über 35 Mitgliedern müssen wir handlungsfähig bleiben. Das heißt auch, öfter mit großer Mehrheit statt einstimmig zu entscheiden. Selbst wenn das bedeutet, dass Deutschland – wie jeder andere Mitgliedstaat – auch überstimmt werden kann. Wir müssen Erweiterung und Reformen entschlossen zusammen angehen.

Mutige Verantwortung zu zeigen, das bedeutet heute, dass wir unsere Europäische Union jetzt dafür bereit machen, noch in diesem Jahrzehnt neue Länder aufzunehmen. Damit sich wieder Menschen in den Armen liegen können, mit der Europahymne im Ohr, vereint in unserer wachsenden europäischen Familie.

Annalena Baerbock, Bundesministerin des Auswärtigen

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