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Ein freies Belarus

14.02.2024 - Namensbeitrag

Namensbeitrag von Außenministerin Annalena Baerbock und Swetlana Tichanowskaja, erschienen in der Welt vom 14.02.2024

Von Annalena Baerbock (43), Bundesministerin des Auswärtigen, und Swetlana Tichanowskaja (41). Beide sind Mütter zweier Kinder.

Irina fährt gerne Schlittschuh. In der Eishalle oder wenn im Winter die Seen zufrieren. Ihre Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, erinnert sich noch daran, wie sie früher zusammen gepuzzelt haben. Manchmal stundenlang.

Im Sommer 2020 geht Irina, damals keine 20 Jahre alt, auf eine Demonstration gegen die Regierung ihres Landes. Wenig später kommt die Polizei und verhaftet sie. Seitdem sitzt Irina im Gefängnis. Wir wollen ihren echten Namen hier nicht nennen, damit die Wärter ihre Situation nicht noch schlimmer machen. So wie Irina geht es 1500 weiteren Häftlingen in Belarus, die das Regime von Alexander Lukaschenko aus politischen Gründen hat festnehmen lassen.

Bürgerinnen und Bürger, die friedlich demonstriert haben. Journalistinnen, die über die Proteste berichtet haben. Studierende, die an ihrer Universität Protest-Plakate geschrieben haben. Großmütter, die auf Frauenmärschen Blumen an Sicherheitskräfte verteilt haben. Familienväter, die für die Zukunft ihrer Kinder auf die Straße gegangen sind.

Diese Menschen haben ganz Europa bewegt. Und wir vergessen sie nicht.

Als Politikerinnen schauen wir aus unterschiedlichen Perspektiven auf Belarus. Zwischen unseren Geburtsorten Mikaschewitschy und Hannover liegen 1200 Kilometer. Es sind die Orte, die unsere Leben geprägt haben. Ein Leben im freien und demokratischen Westdeutschland. Ein Leben in der Sowjetunion und der Diktatur von Belarus.

So unterschiedlich unsere Geschichte ist, so sehr eint uns eine klare Überzeugung: Dass jeder Mensch das Recht hat, frei zu sein. Dass es kein Verbrechen ist, für seine Meinung auf die Straße zu gehen. Und dass jede Gesellschaft selbst wählen sollte, von wem sie regiert wird.

Diese Freiheit ist das Fundament des friedlichen Europas. Für diese Freiheit sind die Menschen in Belarus 2020 auf die Straße gegangen. Und es ist diese Freiheit, die das Regime von Alexander Lukaschenko so hasst.

Deswegen geht es immer härter gegen seine Kritiker vor. Gerade auch gegen Frauen. Frauen wie Irina. Weil es Frauen wie Irina sind, die Diktatoren weltweit fürchten. Weil es Frauen waren, die die friedlichen Proteste in Belarus so wirkmächtig gemacht haben.

Erst vor wenigen Wochen haben Lukaschenkos Sicherheitskräfte erneut die Familien der politischen Gefangenen ins Visier genommen. Mit Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Seit letztem Jahr können Belarusinnen und Belarusen zudem im Ausland keine Pässe mehr an Konsulaten und Botschaften beantragen. Weil sie dorthin zurückkehren sollen, wo der Staatsapparat sie einsperren kann.

Eine Diktatur, die ihre Bürgerinnen und Bürger so brutal drangsaliert, richtet ihre Aggression irgendwann auch nach außen.

Deshalb ist es kein Zufall, dass Lukaschenko ein europäisches Flugzeug zur Landung zwang, um einen Blogger auf dem Weg nach Vilnius abzufangen und zu verhaften. Dass sein Regime Menschen aus Krisenregionen einfliegen ließ, um eine Grenzregion der EU zu destabilisieren. Dass Lukaschenko zuließ, dass Russland sein Land zu einer der Startrampen des Angriffskriegs gegen die Ukraine machte, Soldaten von dort aus losmarschieren und Kampfflugzeuge starten ließ. Dass er sich weiter an die Seite des russischen Präsidenten stellt – obwohl dieser Krieg in Belarus alles andere als populär ist.

Was angesichts des brutalen Imperialismus Putins öffentlich oft untergeht: Auch der Machtapparat in Belarus ist ein repressives und aggressives Regime: Eine Diktatur, kein Opfer Putins. Die Menschen dort leiden nicht erst seit 2020, sie leben seit Jahrzehnten in Unfreiheit.

Wir halten daher den Druck auf die Machthaber in Minsk weiter hoch. Als Europäische Union, die mit Importverboten und Listungen die Unterstützer des Regimes trifft – die Militärs, die Propagandisten, die Funktionäre im Sicherheits- und Justizapparat, die Oligarchen und Finanziers. Und als Politikerinnen, die die demokratischen Kräfte in Belarus und im Exil unterstützen. Mit Schutzprogrammen für demokratische Kräfte und für Angehörige von politischen Gefangenen, mit Soforthilfen für Exilmedien. Und im Lichte der perfiden Passstrategie gegen Bürgerinnen und Bürger im Exil auch mit der Suche nach Alternativen zu belarusischen Reisepässen.

Weil wir nicht zulassen, dass die Menschen in Belarus hinter einem neuen Eisernen Vorhang verschwinden. Diese Menschen gehören zu Europa dazu. Sie sind Europäerinnen und Europäer.

Deswegen werden wir die Hoffnung auf ein freies, unabhängiges Belarus nicht aufgeben.

Für Irina, die seit Jahren nicht mehr Schlittschuh laufen kann. Genauso wie für die Studierenden, die Großmütter, die Journalistinnen und Familienväter.

Und auch für unsere Freundin Maria Kolesnikowa, die im Gefängnis sitzt, weil sie den Protesten von 2020 ein Gesicht gegeben hat. Zu Anfang ihrer Haft hat Maria noch Briefe an ihre Familie schicken können. Da schrieb sie an ihren Vater: „Keine Minute bereue ich meine Entscheidung. Die Freiheit ist es wert, um sie zu kämpfen“.

Seit einem Jahr haben weder ihre Familie noch ihre Anwälte Kontakt zu ihr. Wir wissen nicht, wie es Maria geht. Aber wir wissen, dass ihr Kampf für die Freiheit anhält, dass er nicht umsonst war – weil mutige Menschen ihn fortführen.

Wir stellen uns an ihre Seite. Denn das Recht auf Freiheit lässt sich nicht wegsperren.

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