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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock beim Berliner Forum Außenpolitik der Körber Stiftung

28.11.2023 - Rede

„Das ist mir zu viel!“ Dies war der Aufschrei auf dem Titel eines deutschen Wochenmagazins vor einiger Zeit. Darunter das Bild eines Smartphones, aus dem die Krisen unserer Zeit zu explodieren scheinen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, der furchtbare Terror der Hamas gegen Israel, Angst und Schrecken in Gaza, die Klimakrise. Überall Menschen in unsäglicher Not.

Ja, die Krisen, die uns umgeben, sie sind gefühlt -ich glaube, für jeden von uns im Raum, manchmal insbesondere nachts, wenn man sich Videos anschaut-, kaum zu ertragen. Und vielleicht ist es aus diesem Gefühl heraus, dass bei vielen Menschen der Drang zur vermeintlich einfachen Parole entsteht. Dazu, einseitig Stellung zu beziehen, das Leid des anderen auszublenden, sich dem universellen Blick auf die Not insbesondere des anderen zu verschließen.

Wir erleben, wie Konflikte, die tausende Kilometer entfernt von uns ausgetragen werden auch den Weg in unsere Gesellschaften finden. Das ist auf der einen Seite gut, weil Außenpolitik nicht ausgeblendet wird. Auf der anderen Seite erleben wir dadurch gerade über Social Media wie Wut und Trauer auch auf unseren Straßen, in unseren Schulen in Hass umschlagen.

Wir sehen Social Media Blasen, die wie Echokammern wirken, in der sogar aus Osama Bin Laden als Kronzeuge einer vermeintlich antikolonialen Weltanschauung herangezogen wird. Tiktok und Instagram werden zu Spiralen der Selbstbestätigung, zu Parallelwelten der Einseitigkeit. Das ist bequem und angesichts der schrecklichen Bilder gerade im Nahen Osten und dieses unglaublichen, Dilemmas vielleicht auch irgendwie verständlich, dass sich einige - und ich glaube, wenn man ehrlich ist zu sich selbst, manchmal man selbst -, sich einfach wünschen, sich in einer moralischen Reinheit isolieren zu können, anstatt sich mit der anderen Sichtweise auseinanderzusetzen.

Die Gefahr aber solcher Vereinfachung ist Polarisierung, dass sich die Gräben in unserer Gesellschaft weiter vertiefen. Klar ist: Jeder hat das Recht, gerade in Demokratien, seine Meinung kundzutun. Aber antisemitischer Hass und antiisraelische Hetze sind keine Meinung. Wer in Deutschland lebt und das Existenzrecht Israels in Frage stellt oder gar den Holocaust relativiert, der trifft auf unseren erbitterten Widerstand mit all seinen Konsequenzen. Weil es an dieser Stelle kein „Ja, aber“, sondern nur ein „Nie wieder“ gibt.

Genauso deutlich warne ich davor, alle Menschen mit muslimischem Glauben oder Wurzeln unter Generalverdacht zu stellen oder gar gegen sie zu hetzen. Ich war vor zwei Wochen in einer jüdischen Kita hier in Berlin. Und wenn da Erzieherinnen, während wir im Morgenkreis sitzen, mit den kleinen Kindern, erzählen, dass sie leider dieser Tage nicht mehr rausgehen können, mit den Kindern nicht mehr S-Bahn fahren können, weil die Gefahr zu groß ist, dass andere sehen, dass es eine jüdische Kita ist, dann fehlen einem die Worte. Und dann liest man vor ein paar Tagen auf der anderen Seite, dass eine Schülerin, wie es in einem Zeitungsbericht dargestellt wurde, auf der Toilette verprügelt wird, weil sie eine Kette um den Hals trug, wo Allah draufstand.

Das ist Realität in Berlin und nichts davon können und dürfen wir verschweigen. Deswegen ist es für mich so wichtig, gerade auch in diesen Tagen deutlich zu machen, dass wir nicht nur gegen antimuslimischen Rassismus aufstehen müssen. Sondern auch, dass dieses Aufstehen gegen antimuslimischen Rassismus unsere Demokratie stark macht.

Und was für unsere Gesellschaft gilt - ich glaube, dass das etwas ist, was auch meine Kollegen Landsbergis und unser ehemaliger Kollege Di Maio aus Italien, was wir in all unseren europäischen Demokratien gerade spüren - das gilt auch für unsere internationalen Beziehungen. Auch hier müssen wir mit aller Kraft arbeiten gegen Polarisierung, dagegen, dass sich die Gräben immer weiter vertiefen. Denn ich glaube, wir haben nur dann eine Chance, das „zu viel“ der Krisen wirklich anzugehen, wenn wir das Gegenteil von dem tun, was unser erster Impuls ist. Und das ist manchmal richtig hart - erst recht in einer stark getriebenen Social Media-, aber auch durch Klicks getriebenen Medien-Welt. Wenn wir, statt zu vereinfachen, den universellen Blick annehmen, uns der Komplexität stellen, die Dilemmata ausbuchstabieren - nur dann werden wir es schaffen, die Gräben zu überwinden. Und ich glaube, das ist der wichtigste Job nicht nur von Außenpolitik, sondern gerade in einer Zeit, wo Außenpolitik im Inland gerne ausgeblendet wird, ist das der wichtigste Job von allen Politikern dieser Tage. Das gilt natürlich erst recht, wenn wir es mit schwierigen Partnern zu tun haben, wenn die Fronten scheinbar so verhärtet scheinen, dass der erste Impuls ist, einfach nicht mehr miteinander zu reden.

Das gilt leider auch, und zwar mit jeder Woche mehr, mit Blick auf den Nahen Osten. Die Feuerpause, die Freilassung der Geiseln - das ist jetzt erstmalig wieder ein Lichtblick, den wir aber gemeinsam nutzen müssen. Gaza ist der gefährlichste Ort auf der Welt für Kinder, so hat es die UNICEF-Chefin letzte Woche gesagt. Das ist Realität. Deswegen setzen wir jetzt alles daran, dass gerade den Kindern geholfen wird. Und das sind vermeintlich simple Dinge, die aber Tage von Verhandlungen kosten, wie dass mehr Wasser reinkommt, Hirse, Milchpulver, Verbandsmaterial.

Und wir müssen die jetzige Situation, diese Feuerpause dafür nutzen, um darüber zu sprechen, was sein könnte. Also über konkrete Schritte für eine sichere Zukunft, konkrete Schritte in den Morgen, auch wenn er so weit entfernt scheint. Denn Israel wird niemals in Sicherheit leben können, wenn der Terror der Hamas nicht bekämpft wird. Und zugleich kann es nur Sicherheit für Israel geben, wenn auch die Palästinenser eine Zukunftsperspektive haben.

Genau deswegen macht es mir Sorge, dass international und auch bei uns in Deutschland so oft nicht die Menschen im Vordergrund stehen, sondern die Bekenntnisse. Entweder das Selbstverteidigungsrecht Israels oder das humanitäre Leid in Gaza. Aber beides ist Realität. Nur wenn wir uns beidem stellen, dann wird es Frieden geben können. Und genau deswegen war es mir so wichtig, immer wieder in diese Gespräche zu gehen und gestern auch in Barcelona dafür zu werben, dass man das Leid des anderen sehen muss, um das eigene Leid lindern und hoffentlich irgendwann beenden zu können.

Als Außenministerin eines Landes, für das Israels Sicherheit Staatsräson ist, habe ich deswegen gestern, aber auch bei all meinen Besuchen im Nahen Osten immer wieder deutlich gemacht, dass Israel nicht nur das Recht hat, sondern gegenüber seinen Menschen die Pflicht, sich im Rahmen des humanitären Völkerrechts gegen den furchtbaren Terrorangriff der Hamas zu verteidigen, wie jedes andere Land auf dieser Welt auch.

Und gleichzeitig machen wir gegenüber Israel immer wieder deutlich, dass zivile Opfer jederzeit konsequent vermieden werden müssen, dass Israel kein Interesse daran haben kann, dass mit noch mehr Opfern - Frauen, Kindern, Männern - noch mehr Trauer und Wut in der arabischen Welt entstehen. Dass dieser Konflikt sich ausweitet und die nächste Generation getragen wird.

Genau deswegen appelliere ich auch an Israel, mehr zu tun, um zu verhindern, dass extremistische Siedler im Westjordanland die Situation ausnutzen, um Palästinenser aus ihrer Heimat zu vertreiben. Und natürlich sind diese Gespräche alles andere als einfach. Sie sind ein unglaubliches Dilemma, aber wir müssen uns ihm stellen, ansonsten verfallen wir in Sprachlosigkeit. Und Sprachlosigkeit ist jetzt das Gefährlichste, was es geben kann. Weil wir nicht zulassen dürfen, dass durch Sprachlosigkeit auch der universelle Blick verloren geht. Dass der Terror der Hamas einen Keil zwischen uns als Weltgemeinschaft treibt. Und das Gute ist, wenn die Mikrofone aus sind, dann sehen das viele so, das höre ich in ganz vielen Gesprächen, gerade auch in der Region. Darauf müssen wir jetzt aufbauen und konkret über den Weg zu einer Zweistaatenlösung nachdenken. Nicht nur öffentlich, vielleicht gerade nicht öffentlich, sondern in kleinen Kreisen. Vertrauen schaffen, bereit zu sein, die Not des anderen zu sehen.

Gerade weil unser Land, Deutschland klar an der Seite Israels steht und Vertrauen bei arabischen Ländern genießt, können wir und ich glaube, müssen wir als Brückenbauer fungieren. Das ist auch ein Punkt, weswegen ich mir die Zahlen (von Umfragen) genau anschaue. Ich glaube, wir sind in einer entscheidenden Phase deutscher Außenpolitik, unsere Verantwortung für unsere Rolle in der Welt aktiv anzunehmen. Ich will es hier ganz deutlich sagen: klar für unsere Prinzipien einzustehen und gleichzeitig auszuloten, wo auch die kleinsten Schritte uns nach vorne bringen, das sind für mich zwei Seiten derselben Medaille. Das ist es, was für mich verantwortungsvolle, wertegeleitete Außenpolitik bedeutet. Eine Politik, die sich den Komplexitäten stellt, die sie aushält und alles dafür tut, kleinste Schritte zu gehen, selbst wenn die Lösung in so weiter Ferne zu sein scheint.

Weil wir wissen, wenn wir diesen Raum nicht gemeinsam mit unseren Partnern einnehmen, dann werden andere in die Lücke stoßen, und zwar mit anderen Methoden. Akteure, auch das zeigt uns diese Zeit, die den universellen Blick nicht nur verachten, sondern ihn aktiv bekämpfen, denen es nicht um Frieden geht, sondern um ihren eigenen Einfluss, um eine andere Weltgemeinschaft.

Was mich dabei besorgt, ist, wie sich genau in diesen Zeiten, von diesen Akteuren, aber toleriert von anderen, eine Ruchlosigkeit auszubreiten scheint. Eine Bereitschaft, die fundamentalen Regeln unseres Zusammenlebens zu brechen. Mit barbarischen Terror wie im Fall der Hamas. Mit einem ruchlosen Angriff auf einen Nachbarn wie im Falle Russlands.

Es scheint einen gemeinsamen Nenner dieser Akteure zu geben: die Erwartung, dass es keine internationale Ordnung gibt, in der Ruchlosigkeit, in der Regelbrüche sanktioniert werden. Und wenn Ruchlosigkeit zum Vorteil wird, was bedeutet das für die Bereitschaft anderer Akteure, fundamentale Regeln zu brechen? Auch das ist aus meiner Sicht Aufgabe von internationaler und damit von europäischer und deutscher Außenpolitik: dagegen angehen zu wollen. Nicht zu wissen, wie erfolgreich man sofort ist. Aber immer wieder dafür zu werben, was uns als Weltgemeinschaft zusammenhält, zu werben für unseren universellen Blick. Das Grundverständnis, dass das Recht gilt in unserer Welt, die Grundlagen der VN-Charta und der Menschenrechte. Und zwar für alle und überall.

Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, wenn wir der Ruchlosigkeit etwas entgegensetzen wollen, wenn wir konkrete Lösungen für unsere gemeinsamen Herausforderungen vorantreiben wollen, dann können wir dabei nicht nur mit Partnern zusammenarbeiten, die unsere Weltanschauung immer zu 100 Prozent teilen. Wir können keine Linie auf dem Boden zeichnen und sagen: „Entscheidet euch, wo steht ihr? Im blauen oder im roten Feld? Sonst werden wir nicht mit euch sprechen.“

Auch das wäre vielleicht der erste Impuls. Der vermeintlich einfache, bequeme Weg. Und genauso bequem, das sage ich hier auch sehr deutlich, wäre es, bei schwierigen Partnern unsere Differenzen auszublenden und zum Beispiel nicht über Menschenrechte zu sprechen. Auch das ist manchmal der erste Impuls. Aber auch das bringt uns keinen Schritt weiter. Auch das erlebe ich gerade persönlich in dieser Situation, dass das, was hilft, Brücken zu bauen, Vertrauen und Ehrlichkeit sind. Wenn andere Akteure nicht das Gefühl haben, man erzählt vor einer öffentlichen Kamera etwas anderes, als in geschlossenen Räumen. Das heißt, auch dieser Komplexität müssen wir uns stellen, dass wir mit unterschiedlichen Partnern zusammenarbeiten. Und zwar nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir es wollen, weil wir ansonsten der Ruchlosigkeit in dieser Welt nichts entgegensetzen können.

Dass wir das tun, dafür gibt es etliche Beispiele, die ich hier nicht alle nennen kann. Deswegen nur eins: die Klimakonferenz in Dubai. Die COP28 beginnt in ein paar Tagen und auch dort werden wir auf Länder treffen, mit denen wir fundamentale Differenzen haben. Wir werden diese Differenzen nicht totschweigen. Aber wir werden genauso nach Wegen suchen, wie wir an gemeinsamen Lösungen arbeiten können. Erst recht jetzt, erst recht in diesen Zeiten der tieferen Gräben. An konkreten Lösungen, die manche als technisch abtun, aber die ein Zeichen dafür sein können, wie stark dann doch die internationale Zusammenarbeit ist. Indem wir zum Beispiel alle großen Emittenten darauf verpflichten, mehr CO2 einzusparen. Oder daran, dass auch die Golfstaaten und China gemeinsam mit uns finanzielle Mittel erbringen, damit verletzbare Staaten die Schäden und Verluste der Klimakrise besser bewältigen können. Auch hier gibt es keine einfachen Antworten, weil verschiedene Perspektiven sich hart gegenüberstehen, auch geopolitische Interessen. Auch das müssen wir klar benennen. Aber auch genau deswegen werden wir jeden einzelnen Schritt versuchen, ringen und nach vorne gehen. Denn die Klimakrise ist und bleibt die größte Sicherheitsgefahr für uns alle auf dieser Welt in diesem Jahrhundert.

Und auch wenn man dieser Tage denkt „jetzt nicht auch noch über die Klimakrise reden“ angesichts der Gewalt im Nahen Osten, angesichts der Gewalt in der Ukraine vor diesem Winter, wo wieder die zivile Infrastruktur im Mittelpunkt steht, angesichts der Lage im Sahel, angesichts dessen, dass wir manchmal aufwachen morgens und rufen wollen „es ist mir einfach zu viel“.

Wir können uns das nicht leisten und wir werden es uns nicht leisten. Denn wir kommen bei diesen Krisen nur voran, wenn wir uns nicht in „Bekenntnisblasen“ verlieren, sondern wenn wir jeden Morgen aufstehen und unseren universellen Blick wahren und immer wieder an den noch so kleinen Stellschräubchen drehen. Denn auch das sehen wir in diesen Tagen: manchmal ist es zum Verzweifeln, aber dann sehen wir diese Bilder, wie ein Junger seinem Vater in die Arme läuft und man spürt: es geht um jeden Menschen. Jeder einzelne Mensch zählt, der aus der Geiselhaft freikommt. Es geht um jeden einzelnen Truck humanitärer Hilfe nach Gaza, weil jedes einzelne Sauerstoffgerät zählt. Es geht um jede einzelne Rakete weniger auf Charkiw oder auf Tel Aviv, weil jede einzelne abgefangene Menschenleben rettet. Es geht um jedes Menschenleben. Es geht um die Sicherheit von uns allen. Und die darf uns niemals zu viel sein.

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