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„Wir müssen wieder kämpfen für das europäische Projekt“ (Interview)

18.01.2016 - Interview

„Wir müssen wieder kämpfen für das europäische Projekt“ (Interview)

Außenminister Steinmeier spricht im Interview über die Flüchtlingskrise, den Trend zur Renationalisierung in Europa und zu den Entwicklungen im Mittleren Osten. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.01.2016)

Das neue Jahr, Herr Minister, hat so angefangen, wie das alte geendet hat: Unruhen in der Welt, zumal im Mittleren Osten, Terroranschläge, krisenhafte Zuspitzungen und als Resultat auch der anhaltende Flüchtlingsstrom. Ist bei einer solchen Taktzahl von Ereignissen an eine strategische Außenpolitik eigentlich noch zu denken?

Zum Ende des letzten Jahres hatten wir Hoffnungszeichen, dass das neue Jahr besser und friedlicher werden könnte: Bezogen auf Syrien ist diese Hoffnung erst einmal gefährdet, seit der latente Konflikt zwischen den wichtigsten Akteuren im Mittleren Osten – Saudi Arabien und Iran – neu entflammt ist. Ich glaube aber dennoch, dass die strategische Ausrichtung unserer Politik richtig bleibt. Wir bringen uns da ein, wo wir Möglichkeiten haben, zu Lösungen beizutragen und Krisen zu entschärfen – auch wenn es keine Erfolgsgarantien gibt. Wir dürfen uns dabei aber nicht überschätzen.

Eine der Folgen der Krisen ist für Deutschland der anhaltende Flüchtlingszustrom. Bei der CDU/CSU heißt es, bis zum Sommer müssten die Zahlen merklich verkleinert werden und es müsse ein Verteilungsschlüssel für die Flüchtlinge in Europa gefunden werden. Ist das realistisch?

Die Flüchtlingskrise ist auch eine Krise Europas. Nach Euro-Rettung und Griechenland-Krise ist es beileibe nicht die erste Krise, die Europa durchlebt. Aber es scheint, dass uns der Umgang mit dem Migrationsstrom in der Europäischen Union noch schwerer fällt. Denn es gibt nicht die eine Entscheidung, die alle Probleme löst, und nicht ein Konzept, das über Nacht die Situation verändert. Dazu ist der Migrationsdruck derzeit einfach viel zu groß. Wir müssen deshalb bei den Menschen für Geduld werben und gleichzeitig weiter an mehreren Fronten arbeiten. Dazu gehört erstens, dass wir unsere Anstrengungen fortsetzen, die Ursachen für die Flüchtlingsbewegungen zu beseitigen. Zweitens ist klar: Wir müssen die Flüchtlingszahlen verringern. Eine Million Flüchtlinge in einem Jahr kann unser Land verkraften, aber dauerhaft in jedem Jahr geht das nicht. Deshalb haben wir ja zwei Asylpakete vorgelegt. Eines ist vom Bundestag beschlossen. Das andere kommt in Kürze. Und drittens arbeiten wir mit aller Kraft daran, dass Entscheidungen, die wir in Europa treffen, auch umgesetzt werden. Wichtige erste Schritte, etwa in der raschen Unterstützung Griechenlands durch europäische Grenzschützer, haben wir gemacht. Der Schutz unserer EU-Außengrenzen ist Dreh- und Angelpunkt. Hier dringen wir auf Grundlage der Kommissionsvorschläge auf eine Einigung bis zum Sommer. Natürlich klaffen noch große Lücken: Etwa bei der Verteilung der Flüchtlinge. Hier werden wir weiter Druck machen müssen. Und vieles wird davon abhängen, ob die Vereinbarungen mit der Türkei entscheidend dazu beitragen, den Flüchtlingsstrom zu reduzieren.

Ein wesentlicher Gesichtspunkt sind Zusagen der Türkei, die Grenze zu sichern. Aber offenbar hält sich die türkische Regierung nicht an Absprachen. Die Flüchtlingszahlen sind weiterhin hoch.

Es ist doch so: Die Zahlen der Flüchtlinge sind merklich zurückgegangen. In den letzten Tagen hatten wir Zugangszahlen über die Ägäis zwischen 1000 und 3000 täglich. Im vorigen Jahr waren es in manchen Monaten bis zu 10 000 am Tag. Zurzeit sind sicher auch Witterungsverhältnisse verantwortlich für den Rückgang. Das bedeutet, dass wir jetzt über die Wintermonate mit der Türkei an der Umsetzung von Maßnahmen arbeiten müssen, damit die Zugangszahlen im Frühjahr nicht wieder auf alte Größenordnungen hochschnellen. In der nächsten Woche werden wir bei den Deutsch-Türkischen Regierungskonsultationen zusammensitzen. Die Türkei hat die Zusage, dass sich die EU an den Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen in ihrem Land beteiligt. Die Türkei hat auch schon erste Schritte unternommen; sie will den dort lebenden Flüchtlingen Zugang zum Arbeitsmarkt gewähren. Sie hat im Januar zudem eine Visumpflicht für über Drittstaaten einreisende Syrer eingeführt, dasselbe soll für eine Reihe von afrikanischen Staaten demnächst gelten. Wir sind am Ende darauf angewiesen, dass das Schlüsselland für die Migration Richtung Europa auch seine Außengrenzen besser kontrolliert.

Das ist doch aber alles Stand von letzten Oktober.

Damals handelte es sich um eine politische Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs. Die muss jetzt umgesetzt werden. Ich habe aber bis jetzt keine Anzeichen dafür, dass die Türkei ihren Teil der Zusagen nicht einhalten würde.

Die Bundeskanzlerin hat dieser Tage gesagt, die gemeinsame europäische Währung und die Freizügigkeit in Europa würden unmittelbar zusammenhängen. Man könne das eine ohne das andere nicht haben. Ist das eine Drohung an die europäischen Partner?

Solange die Freizügigkeit für uns Deutsche so selbstverständlich ist, ahnt keiner, in welchen Zustand wir zurückfallen würden, wenn sie wieder beschnitten würde. Das wäre dann weit mehr als eine Beeinträchtigung des Wohlgefühls. Ich glaube, dass sich an der Frage des Umgangs mit Migration auch entscheiden wird, ob das europäische Integrationsprojekt nach vorne oder rückwärts geht. Das müssen sich alle klarmachen, die sich weigern, an den notwendigen Lösungen der Migrationsfrage mitzuwirken.

Das ist ja im Moment genau das, worüber bei Ihrem Koalitionspartner debattiert wird. Betrachten Sie diese Debatten mit Sorge und glauben Sie, dass der Streit in der Union die Verhandlungsposition der Bundesregierung in Brüssel belastet?

Ehrlich gesagt: Das Problem ist größer als die innerparteilichen Querelen innerhalb von CDU und CSU. Dass in einer solchen Frage mit ihren sichtbaren Herausforderungen an alle Beteiligten aber diskutiert und auch kritisch hinterfragt wird, darf einen nicht erstaunen. Von Partnern kann man aber erwarten, dass sie nicht verfassungsfremde oder auch den Regeln des Rechtsstaats entgegenstehende Hilfslösungen verlangen, sondern eine Debatte um Instrumente führen, die tatsächlich zur Verfügung stehen. Ich bin aber gar nicht so unzufrieden. Wir haben uns auf zwei Gesetzgebungspakete zu Asyl und Migration verständigt und Gleiches gilt für die zuletzt diskutierte Verschärfung des Sexualstrafrechts und Fälle der erleichterten Abschiebung.

Es gibt in der EU über die Euro- und Flüchtlingskrise hinaus Renationalisierungstendenzen – in Großbritannien die Brexit-Debatte, in Polen einen antieuropäischen Kurs...

Wir müssen wieder kämpfen für das europäische Projekt, das uns über Jahrzehnte zu einer politischen Selbstverständlichkeit geworden war – als ob die fortschreitende Integration ein Selbstläufer wäre. Diese Selbstverständlichkeit gibt es nicht mehr. Und die Ansprüche an uns Deutsche sind besonders hoch, denn wir werden – oftmals auch sehr kritisch – als treibende Kraft in Europa gesehen. Wir müssen deshalb unermüdlich dafür werben, dass europäische Integration nicht als Bedrohung nationaler Interessen wahrgenommen wird, sondern ein Gewinn für alle Mitglieder ist. Deshalb bleibe ich auch fest der Meinung, dass eine EU ohne Großbritannien keine bessere Union ist. Deshalb versuchen wir, mit London einen Kompromiss zu finden, der die europäischen Verträge nicht in Frage stellt. Das geht aber nur dann, wenn auch David Cameron und seine Regierung bereit sind, im eigenen Land dafür zu kämpfen und durch einen Kompromiss den Verbleib in der EU zu sichern.

Und wie soll Berlin mit Warschau umgehen?

Wir haben in den vergangenen Jahren, und auch ich persönlich viel, in die Beziehungen mit unserem östlichen Partner investiert. Bis heute spüren wir die Last der Geschichte. Ich anerkenne unsere Verantwortung, das Erreichte nicht in Frage zu stellen. Und erreicht ist viel. Aus Feindschaft wurde Versöhnung, aus Entfremdung Freundschaft. Hier in Berlin habe ich gleich nach seinem Amtsantritt mit meinem polnischen Kollegen ein langes Gespräch geführt. Ich werde nächste Woche zu Gesprächen in Polen sein. Dabei werde ich auch die Fragen, die sich derzeit mit Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Medienpolitik stellen, nicht aussparen. Aber mir kommt es darauf an, dass wir nicht zurückfallen in Entfremdung und gegenseitige Instrumentalisierung von Geschichte.

Ihr Parteifreund Martin Schulz spricht von Staatsstreich und gelenkter Demokratie nach Putins Art - teilen Sie diese Einschätzung?

Die EU hat von Ihrem Recht Gebrauch gemacht, eine Prüfung einzuleiten. Die Kommission hat Fragen an die polnische Regierung gestellt. Das ist auch der richtige Weg. Und was uns angeht: Wir suchen das direkte Gespräch mit unserem polnischen Partner.

Hat Sie nach dem Terroranschlag in Istanbul die schnelle Feststellung Ankaras, es handle sich um ein syrisches Mitglied der Terrororganisation IS, verwundert?

Die Spezialisten des Bundeskriminalamtes sind am Mittwoch in Istanbul eingetroffen. Was die Identität und den Tathintergrund anbelangt, tun wir gut daran, die fachlichen Einschätzungen unserer Ermittlungsbehörden abzuwarten.

Der Anschlag wirft auch ein Schlaglicht auf die türkische Syrienpolitik und ihr Verhältnis zum IS. Ist Ankara, was das anbelangt, Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Die Türkei ist inzwischen mehrfach Opfer von Anschlägen des IS geworden und hatte 140 Tote zu beklagen. Sie hat mehr als zwei Millionen Flüchtlinge im eigenen Land, die ihrerseits auch vor dem IS geflohen sind. Da liegt es doch auf der Hand, dass Ankara ein übergeordnetes Interesse hat, den IS zu bekämpfen. Die Türkei ist zudem Teil der Anti-IS-Koalition. Aber selbstverständlich hat nicht nur die Türkei, sondern haben auch andere Staaten in der Region eigene, nationale Interessen, wenn es um die Neuordnung des Nahen Ostens und Konfliktlösungen geht. Dass das eine Befriedung Syriens nicht leichter macht, erleben wir seit fünf Jahren immer wieder.

Sie planen eine neuerliche Reise nach Riad und Teheran. Zwischen beiden Golfstaaten ist ein alter Konflikt zuletzt eskaliert. Wollen Sie vermitteln?

Die Zahl der Akteure, die sich um eine Lösung in Syrien, für die Riad und Teheran benötigt werden, bemühen, ist nicht riesengroß. Wir sind nicht Vermittler, aber wir haben auch keine Rechtfertigung, uns zu verweigern, wenn unsere Beziehungen mit den Staaten des Mittleren Ostens gefragt sind. Wir müssen uns da auch reinhängen, denn der neu aufgebrochene Konflikt zwischen beiden Staaten darf nicht die Bemühungen um eine Lösung für Syrien zunichtemachen. Das muss jetzt Vorrang haben gegenüber allen anderen Fragen, die sich mit Blick auf die Länder stellen.

Sie spielen auf die Kritik in der Opposition, aber auch in den Unionsparteien an dem Besuch des Kulturfestivals in Riad, den Sie planen, an. Welche Motive sehen Sie bei ihren Kritikern?

Ich habe Verständnis dafür, dass Fragen gestellt werden. Es gibt Defizite bei Menschenrechtsfragen in Saudi-Arabien, es gibt dort die Todesstrafe und Hinrichtungen – beides noch weit mehr in Iran. Das ist uns nicht gleichgültig und darf uns nicht gleichgültig sein. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen man daraus ableitet: Will man innenpolitisch Punkte landen, dann reicht es heimische Mikrofone zu bedienen! Will man außenpolitisch etwas bewegen, dann muss man raus und direkt ran an die Konfliktparteien. Das ist jedenfalls meine Erfahrung nach etlichen Jahren in der Außenpolitik. Wenn ich jedes Mal den wohlfeilen Rufen gefolgt wäre, Reisen zu unterlassen, Kontakte abzubrechen, Gespräche abzulehnen, hätten wir wahrscheinlich heute einen offenen Krieg in der Ukraine und Teheran wäre nahe an einer Atombombe dran. Gerade in dieser Zeit gilt: Wenn wir die Möglichkeit haben, mit beiden Regierungen zu sprechen, müssen wir diese nutzen.

Aus Russland kamen Anzeichen für eine Entspannung, Putin schloss sogar nicht aus, Assad nach Wahlen in Syrien Asyl zu gewähren...

Wir brauchen Russland; und zwar nicht nur wegen der Machtverschiebungen in Syrien durch die militärische Intervention Moskaus, sondern auch in Europa. Wir haben derzeit in der OSZE die einzig verbliebene gesamteuropäische Institution, in der der Westen mit Russland gemeinsam vertreten ist. Was die Ukraine anbelangt, sind wir letztes Jahr bei der Umsetzung des Minsker Abkommens nicht so weit gekommen wie wir wollten. Es ist gut, dass wir jetzt unter Bedingungen eines weitgehend haltenden Waffenstillstands an den weiteren Schritten arbeiten können.

Bewegt sich Moskau auch in Syrien?

Es gibt ein sichtbares Bekenntnis Russlands, an einer politischen Lösung in Syrien mitzuwirken. Und es gibt Zwischentöne, die nahelegen, dass Moskau Assad am Ende nicht um jeden Preis an der Macht halten will. Russland hat selbst ernstzunehmende Befürchtungen, was eine Ausbreitung des IS-Terrors im Süden seines Landes anbelangt. Putin signalisiert auch Interesse an einer Rückkehr zu institutionalisierten Gesprächsformaten mit dem Westen. Ich selbst habe im letzten Nato-Rat versucht, den Nato-Russland-Rat wiederzubeleben. Es gab zwar ein wenig Gegrummel, aber viel mehr Zustimmung als ich erwartet hatte. Ich vermute, dass wir in einiger Zeit das Angebot machen können, auf Botschafterebene in Brüssel in die Gespräche zurückzukehren.

Interview von Günter Bannas und Majid Sattar. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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