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Ungarn: „Aus großen Mehrheiten erwächst große Verantwortung“

07.11.2014 - Interview

Europa-Staatsminister Michael Roth zur Debatte um Beschränkungen von Freiheitsrechten in Ungarn und zur Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa. Erschienen auf www.welt.de (07.11.2014)

Europa-Staatsminister Michael Roth zur Debatte um Beschränkungen von Freiheitsrechten in Ungarn und zur Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa. Erschienen auf www.welt.de (07.11.2014)

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Viktor Orbán hat soeben nach heftigen Protesten seine geplante Internetsteuer zurückgezogen. Bezeugt das die Macht der Straße in Ungarn?

Die Vorgänge zeigen, dass die Beschränkung des Internets in ganz Europa sehr sensibel von der Zivilgesellschaft wahrgenommen wird. Und es ist immer ein gutes Zeichen, wenn Politik sich nicht beratungsresistent zeigt. Die Probleme in Ungarn gehen aber tiefer.

Wie aber interpretieren Sie diesen Rückzieher? Bisher hat Orbán ja stets sehr populistisch agiert, hat er sein Gefühl für das Volk verloren?

Auch der ungarische Ministerpräsident kocht mit Wasser; Fehler sind dort genauso möglich wie anderswo. Sich das einzugestehen ist ein wichtiger Schritt.

Bisher fiel es der Fidesz-Regierung stets schwer, Fehler einzugestehen. Die alte EU-Kommission musste mahnen, drohen und blaue Briefe versenden, bevor Orbán einlenkte. Was erwarten Sie sich von der neuen EU-Kommission?

Wir führen derzeit eine intensive Debatte über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Bedeutung unserer Werte in der EU. Wir sind ja nicht in erster Linie ein Binnenmarkt, sondern eine Wertegemeinschaft. Ich bin sehr froh, dass die neue Kommission dem Thema Rechtsstaatlichkeit eine so große Bedeutung zumisst. Das zeigt sich auch an daran, dass der Niederländer Frans Timmermans als Erster Vizepräsident der Kommission künftig eine zentrale Rolle spielen wird. Er hat bereits im Rahmen der Anhörung im EU-Parlament, die er für seine Nominierung bestehen musste, deutlich gemacht, dass er in rechtsstaatlichen Fragen die Glaubwürdigkeit der EU erhöhen möchte.

Wo muss die EU denn Ihrer Meinung nach glaubwürdiger auftreten?

Die EU ist zu Recht stolz auf ihre Grundwerte. Wir vertreten diese ja auch gegenüber Regierungen wie in China und Russland. Wir können das aber nur dann glaubwürdig tun, wenn wir keinen Zweifel daran lassen, diese Werte innerhalb der Europäischen Union zu leben und uneingeschränkt zu achten. Da hat es in den vergangenen Jahren in einigen Ländern durchaus Anlass zur Sorge gegeben.

Wie sollte die EU darauf reagieren?

Die EU kann bisher nur Artikel 7 anwenden und einem EU-Mitgliedsstaat das Stimmrecht entziehen, eine Art politische Atombombe. Das scheint mir in vielen Fällen kein geeignetes Mittel zu sein. Also brauchen wir unterhalb dieser Schwelle einen politischen Mechanismus, der uns auf die Einhaltung unserer Werte verpflichtet. Dazu zähle ich individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz. Da sehe ich nicht nur in Ungarn Verbesserungsbedarf.

Sie sprechen eine Idee an, die nicht neu ist. Im vergangenen Jahr regte der damalige Bundesaußenminister Westerwelle eine Art Grundrechte-TÜV innerhalb der Union an. Was ist eigentlich daraus geworden?

Wir sind gut vorangekommen, seit März liegt dazu eine Mitteilung der Kommission vor. Da der neue Vizechef der Kommission, Timmermans, diesen Mechanismus im Wesentlichen mit erarbeitet hat, können Sie davon ausgehen, dass wir das gemeinsam mit vielen Partnern entschieden vorantreiben. Dieses Thema steht auch ganz oben auf der Agenda der italienischen Ratspräsidentschaft. Ich habe inzwischen viele Gespräche dazu mit europäischen Kollegen geführt, unter anderem gibt es eine gemeinsame Position mit Tschechien. Es ist fälschlicherweise immer wieder behauptet worden, dieser Grundwertemechanismus sei ein Projekt der etablierten EU-Mitglieder gegen die jüngeren Staaten. Das stimmt definitiv nicht. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir die Entwicklung dieses Mechanismus nun auch gemeinsam mit Kollegen aus Mitteleuropa weiter vorantreiben. Im November werden wir uns im Rat in Brüssel darüber austauschen und hoffentlich im Dezember positive Beschlüsse dazu fassen. Da ist sicher noch Überzeugungsarbeit notwendig.

Die USA gehen deutlich weiter als die EU, verhängen Einreiseverbote gegen ungarische Funktionäre. Kann die EU von den USA da lernen?

In der ungarischen Zivilgesellschaft vernahm ich während meines Besuches Enttäuschung über das zurückhaltende Handeln der EU. Für uns aber ist das derzeit kein Thema. Diese klassisch bilateralen Sanktionen stehen uns innerhalb der EU aus guten Gründen nicht zur Verfügung.

Was erwarten Sie von der neuen EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini im Umgang mit Ungarn?

Die neue Hohe Repräsentantin muss in erster Linie dafür sorgen, dass die EU mit einer Stimme spricht. Ob Deutschland oder Ungarn – wir sind alle nur Zwerge, wenn wir allein handeln. Nur mit einer geschlossenen Haltung werden wir, etwa von großen Staaten wie Russland, wahrgenommen und ernst genommen.

Orbán sympathisiert offen mit Putin, er versuchte, die Sanktionen gegen Russland auszubremsen, treibt die Southstream-Pipeline im Interesse Moskaus voran. So geschlossen agiert die EU also nicht, oder?

Die EU hat es geschafft, trotz der großen Energieabhängigkeit einiger ihrer Mitgliedsstaaten von Russland eine gemeinsame Position gegenüber Moskau zu finden. Die wirtschaftlichen Sanktionen werden von allen Staaten mitgetragen. Ich verstehe die Sorgen der Mitgliedsstaaten, deren wirtschaftliche und soziale Lage angespannt ist. Es ist nachvollziehbar, wenn in jenen Ländern Dauer und Intensität der Sanktionen infrage gestellt werden. Die Sanktionen gegen Russland aber sind weiter erforderlich.

Orbán schert ja nicht nur in wirtschaftlichen Fragen aus, er sieht sein Land auch gesellschaftlich-kulturell an der Seite Russlands. Besorgt Sie diese Entwicklung?

Ich sehe mit großer Sorge, wie in Ungarn das Modell der liberalen Demokratie vom Ministerpräsidenten ernsthaft in Zweifel gezogen wird. Demokratie in Europa beschränkt sich doch nicht darauf, die Bürger alle vier oder fünf Jahre wählen zu lassen! Unsere Demokratie baut auf den Entfaltungsmöglichkeiten für freie Individuen auf.

Wie aber erklären Sie den Schulterschluss Ungarns mit Russland? Ungarn hat ja einst gelitten unter der Sowjetunion, deren Truppen marschierten 1956 in Budapest ein …

Da bin ich offen gestanden auch ratlos. Trotz der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland: Ungarn ist am stärksten und am einflussreichsten, wenn es sich in der Mitte der Europäischen Union verortet. Eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Isolation würde Ungarn massiv schaden und wäre im Übrigen auch nicht in unserem Interesse.

Ungarn strebt aber derzeit nicht in die Mitte Europas. Denken Sie an das restriktive Mediengesetz, die Razzien gegen Nichtregierungsorganisationen. Was bewirkt mehr, öffentliche Kritik oder Ermahnungen hinter verschlossenen Türen?

Innerhalb der EU sollte es bei Fragen von Grundwerten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie immer Mut und Bereitschaft zur offenen Aussprache geben. Die ungarische Zivilgesellschaft erwartet das von Europa. Mich sorgt, dass bei manchen ungarischen Politikern der Satz gilt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Ich habe kürzlich ungarische Künstlerinnen und Künstler getroffen, denen Parteipolitik fernliegt. Und dennoch sehen sie sich dem fortwährenden Verdacht ausgesetzt, gegen die Regierung und das von ihr vorgegebene Kunstverständnis zu opponieren. Damit wird alles zu einer parteipolitischen Auseinandersetzung umgedeutet. Das wird Ungarn mit seinen sozialen Problemen nicht gerecht. Das Land braucht Versöhnung und keine weitere Spaltung.

In Ungarn wird immer wieder auf die Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Partei im Parlament verwiesen. Mancher Ungar wirft Ihnen vor, Sie missachteten in Ihrer Kritik am Kurs Orbáns die frei gewählte Demokratie.

Niemand bezweifelt die demokratische Legitimation dieser Regierung. Aber aus großen Mehrheiten erwächst vor allem große Verantwortung. Die Koalition in Berlin aus SPD und CDU/CSU hat beispielsweise zu Beginn der Legislaturperiode die Rechte der Minderheit und der Opposition im Parlament gestärkt. Das ist essenziell für eine vitale Demokratie. Einer starken Regierung fällt kein Zacken aus der Krone, wenn sie auf eine schwächere Opposition zugeht und dieser mehr Rechte verschafft.

Orbáns Fidesz-Partei gehört der europäischen Parteienfamilie EVP an, die Union ist deren größtes Mitglied. Muss die CDU-Vorsitzende auf den Ausschluss von Fidesz aus der EVP drängen?

Relevante Vertreter der EVP analysieren die Lage in Ungarn ähnlich wie ich. Es gibt aber derzeit keine Bereitschaft der EVP, dies öffentlich klarzustellen. Die Loyalität in einer Parteienfamilie ist wichtig, findet aber ihre Grenzen, wenn es um europäische Grundwerte geht. Ich als Sozialdemokrat kritisiere ja auch die unzureichende Korruptionsbekämpfung im sozialdemokratisch regierten Rumänien. Wir können so etwas nicht dulden, wenn wir uns nicht unglaubwürdig machen wollen.

Der bisherige ungarische Außenminister Tibor Navracsics ist nun EU-Kommissar für Bildung, Kultur und Jugend. Hat EU-Kommissionspräsident Juncker da noch einen Bock zum Gärtner gemacht?

Das Vorschlagsrecht lag bei der ungarischen Regierung. Der ungarische Kommissar hat ein anspruchsvolles Anhörungsverfahren durchlaufen und musste einen Teil seiner Zuständigkeiten abgeben. EU-Kommissionspräsident Juncker hat damit der Kritik aus dem Europäischen Parlament Rechnung getragen. Nun ist es an Kommissar Navracsics zu zeigen, dass er den europäischen Werten und dem Gemeinschaftsrecht verpflichtet ist.

Auch gegenüber der neuen Außenbeauftragten Mogherini gab es Kritik, eine nachsichtige Haltung zu Russland wird ihr geworfen. Wie bewerten Sie das?

Es wäre schlimm, wenn es keine offene Diskussion über das Führungspersonal der EU gäbe. Kritische Diskussionen gehören dazu. Aber ich traue Federica Mogherini zu, eine starke EU-Außenministerin zu werden. Wir wollen das Unsere dazu beitragen, dass sie Erfolg hat.

Wären öffentliche Anhörungen im Parlament, bei denen die Eignung von Kabinettskandidaten geprüft wird, ein gutes Modell für die nationale Ebene?

Warum nicht? Ein solches Anhörungsverfahren steht für eine lebendige Demokratie und ein selbstbewusstes Parlament. Die EU und die USA zeigen, wie gut das der demokratischen Kultur tut.

Interview: Silke Mülherr und Daniel Friedrich Sturm. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Welt.

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