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Chancen und Herausforderungen eines transatlantischen Freihandelsabkommens

27.05.2013 - Interview

Erstmals ist der Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens in greifbare Nähe gerückt. Wir sollten diese historische Chance für mehr Wachstum, Innovation und neue Jobs auf beiden Seiten des Atlantik nutzen. Es wäre gleichzeitig ein klares politisches Signal für die Zukuftsfähigkeit und den Selbstbehauptungswillen unseres freiheitlichen „Way of life“ im Zeitalter der Globalisierung.
Beitrag von Außenminister Guido Westerwelle, erschienen in der St. Gallen Business Review (27.05.2013).

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Die Welt um uns herum verändert sich in rasanten Tempo. Die weltweiten Handels-, Investitions- und Zahlungsströme verschieben sich mit hoher Geschwindigkeit in Richtung der neuen Kraftzentren in Afrika, Asien und Lateinamerika. Brasilien, Indien, China und Südafrika haben ihren Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. China ist zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen. Brasilien hat Großbritannien überholt.

Die wirtschaftliche Globalisierung hat viele positive Seiten: Millionen von Menschen konnten sich weltweit aus der Armut befreien, Innovationen verbreiten sich mit rasender Geschwindigkeit um den Globus, neue Informationstechnologien vernetzen die Menschen enger miteinander als jemals zuvor in der Geschichte.

Gleichzeitig stehen wir am Rand einer geopolitischen Zeitenwende: Erstmals seit vielen Jahren teilen die großen und erfolgreichen Volkswirtschaften der Welt nicht mehr automatisch die Werte der Aufklärung. Die wirtschaftliche Globalisierung fordert unser transatlantisches Gesellschaftsmodell aus Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft auf globaler Ebene heraus. Europa und die USA müssen in einem härter werdenden globalen Wettbewerb nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch bestehen.

Wenn der europäische und amerikanische „Way of life“ auch in Zukunft Strahlkraft behalten soll, müssen wir mit unserem Lebensmodell auch weiterhin an der Spitze des globalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts stehen. Nur so werden die Werte der Aufklärung in einer globalisierten Welt auch langfristig attraktiv bleiben. Wir stehen hier nicht nur angesichts der europäischen Staatsschuldenkrise vor großen Herausforderungen. Diese gehen wir mit Entschiedenheit an. Heute sind wir auf einem guten Weg: In der Europäischen Union haben wir uns auf eine gemeinsame Strategie aus Solidarität mit den von der Staatsschuldenkrise betroffenen Ländern, Solidität der Haushalte und Wachstum verständigt. Auch in den USA verbessern sich die wirtschaftlichen Kennzahlen stetig. Die Vereinbarung eines umfassenden transatlantischen Binnenmarkts wäre eine wichtige Investition in die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften. Es würde zudem die globale Anziehungskraft unserer Gesellschaften und unseres freiheitlichen Wirtschaftsmodells weiter steigern.

Ökonomisch würde sich ein transatlantischer Binnenmarkt als ein wichtiger zusätzlicher Motor für mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze ohne neue Schulden erweisen. Von einem solchen umfassenden Abkommen gingen zudem wichtige Innovationsimpulse für Europa und die USA aus. Aber auch die Weltwirtschaft als Ganze würde von mehr wirtschaftlicher Dynamik bei uns und in den USA profitieren. Ein umfassender transatlantischer Binnenmarkt wäre deshalb nicht einfach nur eine weitere Freihandelszone. Er bedeutete eine wichtige Weichenstellung für die Weltwirtschaft. Angesichts zunehmender protektionistischer Tendenzen würde ein umfassendes Abkommen Maßstäbe setzen für eine offene Weltwirtschaftsordung.

In der Europäischen Union und den USA leben heute nur noch knapp 10% der Weltbevölkerung. Gemeinsam erwirtschaften wir zusammen jedoch weiterhin 40% der weltweiten Wirtschaftsleistung und stehen für 30% des Welthandels. Diese Zahlen zeigen das enorme Potential, das in einer noch engeren Zusammenarbeit zwischen den beiden größten und am weitesten entwickelten Wirtschaftsräumen der Welt liegt.

Um die Vorteile für Wachstum und Beschäftigung in vollem Umfang auszuschöpfen, sollten wir den Abschluss eines ehrgeizigen Freihandelsabkommens anstreben, das Vereinbarungen zu allen relevanten Bereichen trifft. Hierzu gehören auch Regulierungsfragen wie Produktstandards und Industrienormen. Gemeinsam haben wir das Wissen und das Gewicht, um auch in einer globalisierten Welt akzeptierte Standards zu setzen. Wir wollen, dass die Standards von morgen von uns und bei uns gesetzt werden, von der Elektromobilität bis hin zum Schutz geistigen Eigentums. Auch unsere im Vergleich hohen Umwelt- und Sozialstandards könnten Maßstab werden für künftige Wirtschaftsabkommen mit dem Rest der Welt.

Ein transatlantisches Abkommen hat aber weit mehr als nur wirtschaftliches Potenzial. Es trüge auch zur weiteren Festigung der engen politischen Allianz zwischen Europa und den USA bei und wäre gleichzeitig ein starkes Signal für die politische und wirtschaftliche Gestaltungskraft des Westens.

Es gibt keine zwei Regionen auf der Welt, die historisch, politisch und wirtschaftlich so eng miteinander verbunden sind wie die USA und Europa. Gemeinsam haben wir in der Zeit des Kalten Krieges Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigt. Nach dem Fall der Mauer haben wir den Menschen in Osteuropa bei dem Aufbau freier, demokratischer Gesellschaften zur Seite gestanden. Auch heute engagieren wir uns Schulter an Schulter für unsere gemeinsamen Werte. Dies gilt für Afghanistan genauso wie für Myanmar oder Nordafrika und den Maghreb. Jetzt ist die Zeit reif für einen weiteren entschiedenen Schritt hin zu einer noch engeren transatlantischen Wirtschafts- und Wertegemeinschaft.

Klar ist auch: Die Verhandlungen über einen transatlantischen Binnenmarkt werden nicht einfach. Stolpersteine gibt es genug. Doch die Voraussetzungen sind gut wie nie. Es gibt heute einen nie zuvor in dieser Breite vorhandenen Konsens der politischen Führungen in Europa und den USA einen umfassenden transatlantischen Markt zu schaffen. Europa und die USA sind entschlossener denn je, nun rasch mit den Verhandlungen zu beginnen. Gemeinsam wollen wir die transatlantische Allianz erneuern und vertiefen und auf diesem Weg den größten Binnenmarkt der Welt schaffen.

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