Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Gedenkstunde am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas anlässlich des Holocaust-Gedenktags

29.01.2018 - Rede

--es gilt das gesprochene Wort--

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich“. Diese Worte von Philomena Franz, einer 1922 geborenen deutschen Sintizza und Holocaust-Überlebenden, bringen die Prinzipien einer humanen Gesellschaft eindrücklich auf den Punkt.

Im Porajmos, dem Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Sinti und Roma, hat sie ihre Eltern, fünf Geschwister und unzählige Verwandte verloren. Sie selbst hat Zwangsarbeit und eine Odyssee durch die Lager Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Oranienburg überlebt. Und auch weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war sie noch weiter Diskriminierung durch deutsche Behörden ausgesetzt.

Was für ein generöses, unglaubliches Geschenk hat uns Philomena Franz da gemacht: Trotz dieser grauenhaften Erlebnisse und tragischen Verluste hat sie sich nicht von Rachegedanken leiten lassen – sondern von der Liebe.

Über viele Jahre gab sie ihre Erinnerungen weiter und hielt Vorträge an Schulen und Universitäten im In- und Ausland. Trotz ihrer körperlichen und seelischen Verwundungen, die vermutlich niemals ganz verheilt sind, hat sie stets an Versöhnung und Verständigung geglaubt. Für diesen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen sind wir Philomena Franz und vielen anderen Zeitzeuginnen und -zeugen unendlich dankbar.

Nur wer die Geschichte kennt, kann dazu beitragen, dass sich ihre Tragödien niemals wiederholen. Jeder, der einmal einem Überlebenden zugehört hat – fassungslos, erschrocken, berührt – wird mir sicher zustimmen:
Das vermag kein Buch, kein Film, kein Theaterstück zu vermitteln. Wir können so dankbar sein, dass sie uns, solange sie es noch können, ihre ganz persönlichen Geschichten erzählen und uns mit der grausamen Wirklichkeit des Holocaust konfrontieren. Aber so lange wird das nicht mehr möglich sein. Jetzt muss es uns darum gehen, neue Formen des Erinnerns und Gedenkens zu finden.

Leider ist in der breiten deutschen Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig bekannt über die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit. Oft ist deshalb auch vom „vergessenen Holocaust“ die Rede. Den wenigsten ist bewusst, dass Sinti und Roma frühe Opfer des NS-Rassenwahns wurden, dass sie in sog. „Zigeunerlager“ deportiert und bis zu 500.000 Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden.

Als Vertreter der Bundesregierung stehe ich heute hier, um die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten und ihrer zu gedenken. Aber das ist nicht genug. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus mahnt uns zugleich, unserer Verantwortung im hier und heute gerecht zu werden. Unsere Geschichte ist uns Verpflichtung, uns – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – gegen Hass und Ausgrenzung, gegen Intoleranz und Rassismus, gegen Diskriminierung und Stigmatisierung einzusetzen.

Das Mahnmal, vor dem wir heute stehen, ist nicht nur Mahnmal gegen das Vergessen. Es soll uns auch ein Auftrag für die Zukunft sein:

Eine Zukunft, in der 12 Millionen europäische Sinti und Roma in der Mitte der Gesellschaft leben – und nicht an ihrem Rand.

Eine Zukunft, in der Antiziganismus keinen Platz hat und in der Sinti und Roma Würde, Achtung und die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zuteilwerden.

Eine Zukunft, in der die Kunst, Kultur und Geschichte der europäischen Sinti und Roma sichtbar sind. So ist es ein Lichtblick, dass im vergangenen Jahr das Europäische Roma Institut für Kunst und Kultur hier in Berlin seine Arbeit aufgenommen hat.

Ich wünsche mir, dass uns die heutige Gedenkstunde nicht nur in Trauer und Anteilnahme vereint, sondern dass sie uns allen Mut macht, gemeinsam an einer Gesellschaft der Vielfalt und des Respekts zu arbeiten. Hass, Ausgrenzung und Intoleranz haben bei uns keinen Platz! Das schulden wir unserer Geschichte. Das schulden wir uns selbst. Das schulden wir Philomena Franz.

Schlagworte

nach oben