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Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Gedenkstunde am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma

27.01.2020 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Über Heinrich Bode, der am 13. September 1943 im Konzentrationslager Buchenwald umkam, schrieb der zuständige Amtsgerichtsrat Ohlbrogge im Juni 1942: „Er bedarf einer straffen Aufsicht und Lenkung, um seine abartigen Neigungen, die ihn schon des Öfteren mit dem Strafgesetz in Verbindung gebracht haben, zu unterdrücken.“

Der Name des ermordeten 12-jährigen Mädchens aus dem Häftlingskrankenbau Zigeunerlager Auschwitz fehlt auf der Karteikarte, die Josef Mengele am 29. Juni 1944 zur Anordnung histologischer Schnitte ihres Kopfes unterzeichnete. Sie war Opfer seiner grausamen Menschenversuche.

Heinrich Bode und das namenlose Mädchen stehen mit ihrer Geschichte stellvertretend für die Gräueltaten, die Deutsche während des nationalsozialistischen Terrorherrschaft an Homosexuellen und Sinti und Roma verübten. Es sind ganz unterschiedliche Geschichten und Schicksale, doch sie tragen auch Gemeinsamkeiten: Sie zeugen von der kalten und grausamen Bürokratie, auf der das NS-Regime aufbaute und die es schließlich zum millionenfachen Massenmord befähigte. Sie verdeutlichen das abstoßende Menschenbild der Täter, die ihren Opfern die Würde aberkannten.

Hier in der Mitte Berlins gibt es auf engstem Raum mehrere Denkmäler, die an die Opfer des Holocaust erinnern: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende wie Sozialdemokratinnen, Gewerkschafter und Kommunisten oder auch Menschen mit Behinderungen. Wir dürfen in unserer Trauer niemanden vergessen, ignorieren oder gar ausgrenzen.

Deshalb setze ich mich sehr dafür ein, der rund 25 Millionen NS-Opfern auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion würdig und angemessen zu gedenken. Wir dürfen die authentischen Orte der Vernichtung und des Terrors in Russland, Belarus und der Ukraine nicht dem Vergessen anheim fallen lassen. Hier gibt es noch so viel zu tun. Die Zeit drängt.

Unsere Erinnerungskultur ist vom Verständnis geprägt, dass das Gedenken an die Ermordeten und Geschundenen, unsere Erinnerung an Vernichtung, Hass, Vertreibung und Krieg Orte und Rituale braucht. Auch dieses Denkmal, an dem wir uns jetzt versammelt haben, gibt uns Orientierung, Halt und Kraft. Aber Orte und Rituale allein reichen nicht. Das spüren, ja wissen wir doch alle. Aus Trauer und Gedenken muss sich etwas entwickeln: nämlich Einsicht und Taten, die mehr sind als Lippenbekenntnisse.

Lassen Sie uns bei aller Verschiedenheit Hand in Hand kämpfen für universelle Rechte, die für alle gelten - nicht als Angehörige einer Minderheit, sondern als Menschen. Niemand darf wegen seines Glaubens, seiner Ethnie oder seiner sexuellen Identität in Angst leben müssen.

„Unser Erinnern hat uns gegen das Böse [nicht] immun gemacht. [.] Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand“, so hat es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem treffend auf den Punkt gebracht.

Unser Bundespräsident hat recht: Heute bahnen sich in ganz Europa - auch und vor allem in Deutschland - erneut Nationalisten und Populisten ihren Weg in die Parlamente, in die Köpfe und Herzen der Menschen. Auf unseren Straßen und Plätzen werden wieder antisemitische, antiziganistische und homophobe Parolen gerufen. Immer noch zählen „Du Jude“, „Du Zigeuner“ und „Du schwule Sau“ zu den häufigsten Schimpfwörtern auf deutschen Schulhöfen.

Selbst in so liberalen, weltoffenen Metropolen wie Berlin werden Jüdinnen und Juden, aber auch schwule und lesbische Paare auf der Straße körperlich angegriffen oder übelst beschimpft. Und auch Diskriminierung von Behörden gegenüber Sinti und Roma ist hierzulande leider kein Einzelfall.

Das alles in Deutschland, im Land der Täter erleben zu müssen, ist besonders beschämend. Zu lange haben wir uns in der trügerischen Sicherheit gewogen, dass wir die Mehrheit seien. Das reicht nicht mehr. Wir müssen als Mehrheit endlich lauter, sichtbarer und engagierter werden gegen Hass und Hetze, Intoleranz, Demokratieverachtung und Rassismus. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Nirgendwo.

Fast überall, wohin ich als Europa-Staatsminister reise, treffe ich mich mit Vertreterinnen und Vertretern von Minderheiten - seien es geflüchtete Menschen, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, Sinti und Roma oder LGBTIQ*.

Und sie alle berichten mir: Immer noch werden an viel zu vielen Orten dieser Welt Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität diskriminiert, gemobbt, ausgegrenzt.

Es bleibt also weiterhin viel zu tun im Kampf gegen Diskriminierung, Ausgrenzung, Hass und Gewalt. Unsere Botschaft ist dabei klar: Null Toleranz gegenüber den Intoleranten! Null Toleranz gegenüber Antisemitismus, Homophobie, Antiziganismus, Rassismus und Nationalismus!

Auch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 möchte ich gemeinsam mit Ihnen dazu beitragen, dass die Sichtbarkeit und Teilhabe von Roma in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gestärkt wird. Erste Schritte gibt es bereits: ERIAC, das Europäische Roma-Institut für Kunst und Kultur, wurde 2017 hier in Berlin gegründet, um Kunst und Kultur der Roma europaweit zugänglich und sichtbar zu machen.

Doch gibt es immer noch viel zu wenige Politiker, Wissenschaftlerinnen, Journalisten und Unternehmerinnen, die als stolze Sinti und Roma und damit Vorbilder in der Öffentlichkeit stehen.

Wir dürfen in unseren Anstrengungen für ein Europa der Toleranz und der Vielfalt nicht nachlassen. Wir sind alle gefordert, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Weltweit. Jeden Tag. Das schulden wir den Opfern, derer wir heute gedenken. Das schulden wir unserer Selbstachtung als Bürgerinnen und Bürger eines friedliebenden, demokratischen, freiheitlichen, bunten und vielfältigen Deutschlands.

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