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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Vorstellung des norwegischen Weißbuchs zu Multilateralismus

14.06.2019 - Rede

- deutsche Übersetzung der englischen Originalfassung -

Vielen Dank für die Einladung, heute hier zu Ihnen zu sprechen.

Manchmal ist einem gleich klar, dass man am richtigen Ort gelandet ist. Ich habe dafür heute genau fünf Minuten gebraucht. In diesen fünf Minuten auf der Autobahn vom Flughafen nach Oslo hatte ich schon mehr deutsche Elektroautos gesehen, als in den letzten fünf Monaten in Berlin.

Und im Gespräch mit Botschafter Grannas über e-Mobilität in Norwegen, habe ich gleich auch noch ein neues Wort gelernt: Es lautet rekkeviddeangst [Deutsch: Reichweitenangst]. Ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen. Das Wort beschreibt die Sorge davor, sein Ziel nicht zu erreichen. Die Angst, nicht genügend Reichweite zu haben.

Und in gewisser Weise ist es genau das, was uns heute hier zusammenbringt. Uns eint die Sorge, dass unsere Reichweite in der Welt immer weiter schrumpft.

Ihr Weißbuch zu multilateraler Zusammenarbeit umreißt die Herausforderungen:

  • Die Rückkehr der Großmachtkonkurrenz,
  • der Aufstieg des Nationalismus und Populismus,
  • die Schwäche des internationalen Systems, neue globale Herausforderungen gemeinsam anzugehen.
  • kurzum: die Erosion internationaler Ordnung.

Etwas, das wir derzeit in der Golfregion erleben. Die Angriffe auf zwei Tanker, die sich gestern ereignet haben, verurteilen wir scharf. Sie sind nicht nur eine Bedrohung für den freien Handel. In dieser Lage sind sie eine Bedrohung für den Frieden.

Meine Damen und Herren,
in einer Welt, in der das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts triumphiert, können Norwegen und Deutschland nur verlieren.

Sind wir Subjekt oder bloßes Objekt der Weltpolitik? Das ist die Kernfrage, vor der wir Europäer stehen.

Für mich ist die Antwort darauf klar. Es ist die gleiche Antwort, die Sie in Ihrem Weißbuch geben. Unser Hauptinteresse muss es sein, die Erosion internationalen Rechts zu stoppen. Multilaterale Zusammenarbeit zu stärken. Denn sie sind das Fundament unseres Wohlstands, unseres Einflusses in der Welt und unseres Way of Life.

Meine erste Botschaft lautet daher: Multilateralism matters! Er ist das beste Rezept, um rekkeviddeangst zu behandeln.

Wir haben deshalb letztes Jahr eine Allianz für den Multilateralismus vorgeschlagen. Ein Netzwerk aus Ländern, die gemeinsame Regeln und Werte teilen. Die sich zur internationalen Ordnung bekennen. Die neue Herausforderungen gemeinsam angehen wollen. Und ich habe mich sehr gefreut, liebe Ine, dass Du diese Idee bei Deinem Besuch in Berlin im September letzten Jahres unterstützt hast.

Wir haben uns auf drei Schritte verständigt:

Erstens, haben wir uns geeinigt, internationale Regelwerke und Institutionen zu verteidigen, die derzeit angegriffen werden. Das Nuklearabkommen mit Iran und das Pariser Klimaabkommen sind Beispiele dafür. Oder denken Sie an unsere Menschenrechtsarchitektur, an das humanitäre System oder die zerbröckelnden Vereinbarungen über Rüstungskontrolle. Michelle Bachelet, die Hochkommissarin für Menschenrechte, hat diese Aufgabe kürzlich gut zusammengefasst, als sie sagte: “We need to push back the push.back.”

Zweitens, müssen wir internationale Zusammenarbeit dort stärken, wo neue Herausforderungen neue Antworten erfordern. Klimawandel, Migration oder Bedrohungen im Cyberraum machen vor nationalen Grenzen nicht halt. Also müssen wir sie gemeinsam angehen.

Wir wollen, drittens, Institutionen wie die Vereinten Nationen oder die WTO reformieren. Sie müssen die Welt und die Aufgaben unseres Jahrhunderts abbilden. Das ist nicht nur eine Frage der Fairness. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Wir müssen progressiv sein, um die internationale Ordnung zu erhalten - frei nach dem Sprichwort, dass nur ein rollender Stein kein Moos ansetzt.

Meine Damen und Herren,
wir wissen, das alles ist leichter gesagt als getan.

Unser Erfolg hängt ab von unseren Partnerschaften. Partnerschaften wie die, die wir zwischen Norwegen und Deutschland aufgebaut haben.

  • Als das humanitäre System unter der Last der Syrien-Krise zusammenzubrechen drohte, haben unsere beiden Länder alle Geber in London zusammengerufen. Und wir haben durch unser Beispiel Führung gezeigt.
  • Als die Länder der Tschadsee-Region im letzten Jahr in einen Konflikt abzurutschen drohten, haben wir die globale Aufmerksamkeit darauf gelenkt und bei der Stabilisierung geholfen.
  • Und angesichts der weltweiten Klimakrise haben wir in New York eine Freundesgruppe aus fast fünfzig gleichgesinnten Ländern geschmiedet. Gemeinsam werden wir dafür sorgen, dass das Thema Klimawandel ganz oben auf der Agenda der Vereinten Nationen bleibt.

Meine Damen und Herren,
diese Beispiele zeigen: Multilateralismus ist keine abgehobene Idee einiger Globalisten. Multilateralismus funktioniert – im Sinne der Menschen.

Diese Idee ist das Herzstück Ihres Weißbuchs. Und kein Land verkörpert sie mehr als Norwegen.

Norwegens Reichtum ist ein Resultat seiner Offenheit und der Fähigkeit, Kompromisse zu schließen. Kompromiss, das ist kein schmutziges Wort. Kompromiss, derauf festgefügten Werten gründet. Wenn andere ängstlich den Mund halten, dann ist es oft die Stimme Norwegens, die Menschenrechte, Gleichberechtigung oder die humanitären Prinzipien verteidigt.

Das verschafft Ihrem Land Glaubwürdigkeit – die wichtigste Währung in den internationalen Beziehungen. Es ist diese Glaubwürdigkeit, die Norwegen auch zu einem so erfolgreichen Vermittler macht – ob in Kolumbien, den Philippinen oder gegenwärtig in Venezuela.

Ihr Geheimnis besteht darin, Mediation niemals mit Neutralität verwechselt zu haben. Norwegen ergreift Partei. Die Partei der Menschenrechte, der Demokratie und des Völkerrechts.

Deshalb lautet meine zweite Botschaft heute: Wir brauchen mehr Norwegen in dieser Welt! Ihr Land ist ein Champion des Multilateralismus. Ein Vorbild für viele andere Länder.

Daher wären wir froh, unseren Sitz an Norwegen zu übergeben, wenn unsere Zeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 2020 endet. Denn wir verfolgen dieselbe Agenda:

  • Krisenprävention und Stabilisierung,
  • Rüstungskontrolle und nukleare Abrüstung,
  • die Auswirkungen des Klimawandels auf die globale Sicherheit,
  • den Kampf gegen Straflosigkeit,
  • die Achtung humanitären Völkerrechts
  • und nicht zuletzt den Schutz von Frauen und Kindern in bewaffneten Konflikten. Hier, im Nobel-Friedenszentrum, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem Nadia Murad und Denis Mukwege letztes Jahr den Friedensnobelpreis erhalten haben, möchte ich unsere Unterstützung für dieses zentrale Anliegen noch einmal bekräftigen.

Meine Damen und Herren,
ich möchte noch einen Punkt hinzufügen. In der Deutschland-Strategie, die Sie heute vorstellen, nennen Sie uns Ihren „wichtigsten Partner in Europa“.

Uns erfüllt das mit Demut.

Und es erinnert mich an einen Artikel, den ich letztes Jahr über Norwegens Europa-Strategie in der Zeitschrift „Politico“ gelesen habe. Politico nannte sie „Norwegens Liebesbrief an die EU“. Nun möchten wir auch einen solchen Liebesbrief bekommen. Und vielleicht kann Ihre Deutschlandstrategie das erste Kapitel dafür sein.

Meine dritte Botschaft lautet daher: Die Deutschen mögen Sie auch. Wenn wir in Deutschland nach Inspiration suchen, dann schauen wir oft nach Norden. Nach Norwegen. Das ist die Wahrheit.

Norwegens Teilnahme als Partnerland an der größten Buchmesse der Welt in Frankfurt bietet dieses Jahr Gelegenheit dazu. Gelegenheit, einen genaueren Blick auf Ihr Land zu werfen – jenseits der Bilder von Fjorden und Hurtigruten-Schiffen. Eine Chance, die Welt durch norwegische Augen zu sehen. Norwegische Ideen aufzusaugen.

Und genau das ist es auch, was mich heute hierher geführt hat. Wir möchten Ihnen zuhören. Wir möchten in unsere Partnerschaft investieren. Weil wir wissen, dass es manchmal zum Problem werden kann, keine Probleme zu haben.

Meine Damen und Herren,
in einer Welt im Dauerkrisenmodus ist es entscheidend, seine Freunde zu kennen. Und einen Freund wie Norwegen zu haben ist das beste Rezept gegen rekkeviddeangst. Denn, meine Damen und Herren, wir Deutschen brauchen immer mal wieder jemanden, der uns sagt: „Det ordner seg!“ [Deutsch: „Das wird schon!“]

Vielen Dank dafür, dass Norwegen dieser jemand ist!

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