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„Aussöhnung lässt sich nicht beschließen“

02.06.2016 - Interview

Namensartikel von Europa-Staatsminister Michael Roth. Erschienen am 02.06.2016 im Tagesspiegel.

Schlagworte erleichtern das Leben. Sie bringen vieles auf den Punkt. Schwierig wird es aber, wenn Schlagworte ein Thema so verengen, dass sie den Weg zum Austausch von Argumenten zu versperren drohen. Heute debattiert der Deutsche Bundestag einen Antrag von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“.

Mir scheint, als habe sich der Diskurs von Beginn an vor allem auf die Gretchenfrage zugespitzt: „Wie hältst Du es mit dem Begriff ‚Völkermord‘?“ Ist das nicht ein wenig zu kurz gegriffen? Den Fokus allein auf eine einzige Begrifflichkeit zu legen, ist der Komplexität des Themas nicht angemessen. Bezeichnen wir die massenhafte Ermordung von Armenierinnen und Armeniern, aber auch von Angehörigen assyrischer, aramäischer, griechischer und chaldäischer Minderheiten im damaligen Osmanischen Reich im Jahr 1915 nun als Völkermord? Oder sprechen wir von Massakern und systematischer Vertreibung? Der Bundestag wird darauf heute eine Antwort geben – in einer Entscheidung, die er im Übrigen unabhängig von der Bundesregierung trifft. Aber was dann?

Seit meinem Besuch in Eriwan zum 100. Jahrestag des Gedenkens im vergangenen Jahr treibt mich diese Frage bei meinen Gesprächen mit türkischen und armenischen Politikern und Vertretern der Zivilgesellschaft immer wieder um. Was können wir konkret erreichen? Ein deutsches Parlament vermag schlechterdings nicht die armenische oder türkische Geschichtsaufarbeitung zu übernehmen.

Wir können aber sehr wohl deutsches Unrecht in den Blick nehmen. Aus gutem Grund benennt unser gemeinsamer Antrag die Mitverantwortung, das Schweigen, Wegsehen und Billigen des damaligen Deutschen Reiches am massenhaften Leid und Tod. Das ist alles andere als eine Nebensache. Und es ist auch kein „deutscher Reflex“, kein quasi pathologischer Wunsch nach der Übernahme von Schuld. Es gibt zahllose Belege für eine Mitverantwortung des wichtigsten militärischen Verbündeten des Osmanischen Reiches, die es kritisch aufzuarbeiten gilt.

Und hören wir doch endlich auf, so zu tun, als hinge die Einordnung dessen, was 1915/16 geschehen ist, von aktuellen politischen Fragen ab! Die Umsetzung des Abkommens zwischen EU und Türkei in der Flüchtlingsfrage oder auch die Besorgnis erregende innenpolitische Lage in der Türkei haben nichts mit den Ereignissen vor 101 Jahren zu tun. Die Toten, die Vertriebenen und ihre Nachfahren haben es nicht verdient, dass ihr Schicksal zur Verhandlungsmasse in den Auseinandersetzungen zwischen Staaten erklärt wird.

Ja, die Vergewisserung des Bundestages ist wichtig. Aber wir sollten die Bedeutung der heutigen Entscheidung nicht überschätzen. Die vielen Stolpersteine, die einer Aussöhnung zwischen Türken und Armeniern immer noch im Weg stehen, vermag keine auch noch so ernsthafte parlamentarische Debatte eines befreundeten Staates auszuräumen.

Wiederholt verweisen wir auf unsere eigenen Erfahrungen im eigenen Umgang mit historischer Schuld beim beispiellosen Genozid an Juden und Roma in Europa. Dahinter steckt der unausgesprochene Rat: „Liebe Türken, liebe Armenier, macht es so wie wir. Geht mit Euch auf Grundlage historischer Fakten offen und hart ins Gericht!“ Wenn das mal so einfach wäre!

Und trifft es für den Umgang vieler Deutscher mit dem Holocaust überhaupt zu? Auch wir haben uns hierzulande lange sehr schwer getan mit der Aufarbeitung und der Übernahme von Verantwortung. Der deutsche Weg taugt also nur bedingt als Blaupause für andere. Aber eines können wir beitragen: Wir sollten Türken und Armeniern Mut machen und sie bei der Suche nach Projekten, die Verständigung und Versöhnung fördern, noch stärker unterstützen. Ich setze vor allem auf die jüngere Generation in beiden Ländern. Das mag sich nicht nach viel anhören. Aber es würde den Blick endlich nach vorne und nicht nur zurück richten. Der schwierigste Teil des Weges in der Annäherung zwischen Türken und Armeniern ist noch zu gehen. Daran wird auch die heutige Debatte im Bundestag nichts ändern.

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