Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Rede von Außenminister Guido Westerwelle anlässlich der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse

05.10.2010 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Sehr geehrte Frau Präsidentin Kirchner,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,

sehr geehrter Herr Boos,

sehr geehrter Professor Honnefelder,

sehr geehrte Frau Gambaro,

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

es ist mir ein persönliches Anliegen, wenn sich Argentinien als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert, an der Eröffnungsfeier teilzunehmen.

Stellvertretend für die gesamte argentinische Delegation danke ich Präsidentin Kirchner für die große Ehre, die sie uns durch ihre Anwesenheit erweist.

Die Frankfurter Buchmesse ist mehr als die größte Buchmesse Deutschlands. Autoren, Verlage und Buchhändler aus über 100 Ländern treffen sich hier jedes Jahr. Das ist Literaturbetrieb im Ausnahmezustand. Hier treffen sich die Vereinten Nationen der Lese-Kultur zu ihrer Generalversammlung.

Kunst und Kultur sind der Nukleus der geistigen Entwicklung einer Gesellschaft. Ohne Kunst und Kultur wäre eine Gesellschaft nicht kreativ, wäre Bildung technokratisch, wäre eine Wirtschaft nicht innovativ. Kunst und Kultur geben die Vielfalt der Sichtweisen eines Landes wieder. Kunst und Kultur spiegeln nicht nur den gegenwärtigen Zustand einer Gesellschaft. Oft treiben sie die Entwicklung einer Gesellschaft voran.

Das gilt in besonderem Maße für das Buch. Im Buch finden wir die Vielfalt und Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft. Das ist manchmal hoffnungsvoll und schmeichelhaft, manchmal hilflos und abgründig.

Manche Bücher gehen bis an die eigene Schmerzgrenze, manche sogar darüber hinaus. Der Wettstreit um die besten Ideen lebt von Wohlklang genauso wie von Missklang.

Gerade kontroverse Bücher muss die Meinungsfreiheit aushalten. Ein Buch kann so sehr verstören, dass viele es gar nicht mehr lesen wollen. Und so manches Buch wird entzaubert, wenn man es nur liest.

Unsere Debatten gewinnen von Vielstimmigkeit, von Widersprüchen, manchmal auch vom Durcheinanderreden.

Eine Gesellschaft kommt nicht voran, wenn alle dasselbe sagen. Beim Aneinanderreiben alter Ideen wird die Energie für neue Ideen freigesetzt.

Die offene Gesellschaft ist das Gegenprogramm zu jedem Versuch der Beschränkung und Gefangennahme des Denkens. Wir müssen die offene Gesellschaft nach innen leben, aber auch nach außen. Die besten Ideen findet man nicht nur zu Hause, man kann sie überall auf der Welt finden.

Über viele Jahrhunderte fand alles, was die Menschheit tat und dachte, seinen Aufbewahrungsort vor allem in Büchern.

Wenn ich mich hier umschaue, wirkt die Wehklage um den gegenwärtigen Zustand des Buchwesens unwirklich. Mir scheint, der Patient Buch erfreut sich bester Gesundheit.

Vielleicht müssen wir uns von den hergebrachten Assoziationen lösen. Nicht jedes Buch muss in Leder gebunden sein. Auch unsere Vorstellung vom Buch ist eine Frage der Perspektive.

Für nicht wenige Kopisten des 15. Jahrhunderts muss Johannes Gutenberg ziemlich nah an ihre Teufelsvorstellung herangekommen sein. Ihnen zerstörte er Beruf und Lebensinhalt.

Aber für die große Mehrzahl der Menschen seiner Zeit war Gutenberg ein Befreier. Mit seiner Erfindung begann die Befreiung der Ideen aus den Händen weniger Privilegierter. Mit ihm begann die Demokratisierung des Lesens und des Wissens.

Schon damals kam es beim Buch nicht zuerst auf den Einband an, sondern auf den Inhalt. Das ist auch heute noch so. Ich wage die Prognose, dass das elektronische Buch das gedruckte nicht verdrängen wird, sondern ergänzen. Das Buch wird alle überleben, die es heute zu Grabe tragen wollen.

Die Bundesregierung wird sich in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag für gute Rahmenbedingungen für Bücher und literarische Arbeiten einsetzen. Beim Schutz geistigen Eigentums geht es nicht nur um Patente für Produkte der Hochtechnologie. Der Schutz geistigen Eigentums ist auch de Grundlage für künstlerisches und kulturelles Schaffen. Geistiges Eigentum ist nicht weniger Schützenswert als dingliches.

Unsere Rechtsordnung akzeptiert aus gutem Grund nicht, dass etwa Pralinenschachteln unter Berufung auf Eigenbedarf aus dem Supermarkt entwendet werden können. Der gleiche rechtliche Schutz steht ohne Unterschied auch geistigem Eigentum zu. Vor jeder Bagatellisierung in dieser Frage warne ich nachdrücklich. Ein Land, dass das geistige Eigentum nicht schützt, wird den Geist verlieren.

Seit 1976 hat die Frankfurter Buchmesse einen regionalen Schwerpunkt.

Mit der Entscheidung für Lateinamerika als ersten Schwerpunkt 1976 hat die Buchmesse Weitsicht bewiesen.

Als sich Lateinamerika damals in Frankfurt präsentierte, regierte in Argentinien die Militärdiktatur. Seit dieser Zeit hat sich viel verändert, politisch, gesellschaftlich und kulturell.

Es ist kein Zufall, dass sich Argentinien hier in Frankfurt unter dem Motto „Kultur in Bewegung“ darstellt.

Wenn wir über die Antriebskräfte der Globalisierung sprechen, führt der erste Reflex in Deutschland häufig nach Asien.

Auch wir schauen mit großem Interesse auf die Wachstumsmärkte Asiens. Aber wer mit Scheuklappen nach China und Indien blickt, übersieht zumindest zweierlei.

Erstens. Vergesst Europa nicht. Fast zwei Drittel der deutschen Exporte gehen noch immer in die Staaten der Europäischen Union. Und noch immer liegt in der Reihenfolge deutscher Exporte Österreich vor China.

Zweitens. Schaut nach Lateinamerika. Trotz seiner über 500 Millionen Menschen wird Lateinamerika in Europa noch immer unterschätzt.

Bei einer Reise nach Argentinien wird sich niemand der Dynamik vor Ort entziehen können. Argentinien ist ein Land im Aufbruch.

Jeder Vierte ist jünger als 15 Jahre. Diese jungen Menschen sind angetrieben von ihrem Wunsch nach einem besseren Leben. Jeder Junge und jedes Mädchen träumt seinen persönlichen Traum vom Glück. Dieser Optimismus und Aufstiegswille sind eine wichtige Ressource.

Zwischen 2003 und 2007 wuchs die argentinische Wirtschaft um jährlich mehr als 8%. Trotz Weltwirtschaftskrise liegen die Prognosen für 2010 wieder bei 6 bis 8% Wachstum. Auch sein großes Potential für erneuerbare Energien machen Argentinien zu einem interessanten Partner. Deutschland exportierte 2010 Waren im Wert von mehr als 1,2 Milliarden Euro nach Argentinien. 230 deutsche Unternehmen sind vor Ort aktiv und haben mehr als 25.000 Arbeitsplätze geschaffen.

Wer die Aufbruchstimmung in Lateinamerika erlebt hat und zugleich die Nähe, die man dort zu Europa empfindet, der wird verstehen, welch große Chancen für Kooperationen dort sind.

Bei allen Schwierigkeiten, die wir in Lateinamerika sehen, angefangen bei dem Gegensatz zwischen Arm und Reich, über die ökologischen Herausforderungen bis hin zur Pressefreiheit, zur Finanzpolitik und zum Kampf gegen die Kriminalität, verbinden uns Europäer mit Lateinamerika vor allem Gemeinsamkeiten.

Mehr als andere Regionen ist Lateinamerika von den Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung geprägt.

Weil uns gemeinsame Werte verbinden, ist Argentinien für uns ein natürlicher Partner bei der Gestaltung der Globalisierung.

Nicht umsonst gilt Argentinien als das europäischste Land Lateinamerikas. Zwischen 1860 und 1930 kamen insgesamt sechs Millionen Einwanderer nach Argentinien, fast alle aus dem alten Europa. Buenos Aires ist heute eine blühende Weltstadt mit einer faszinierenden Architektur.

Die Argentienier bezeichnen sich selbst scherzhaft als „Italiener, die Spanisch sprechen und gerne Engländer wären, die glauben, in Paris zu leben.“

Man könnte diesen Satz guten Gewissens um einen Halbsatz zu Deutschland ergänzen. Immerhin leben in Argentinien fast eine Million Frauen und Männer mit deutschen Wurzeln. Argentinien war seit dem 19. Jahrhundert auch für viele Deutsche ein Sehnsuchtsort.

Die Verheißungen eines Sehnsuchtsorts und die Widrigkeiten und Glücksmomente des Ortes, an dem man tatsächlich landet, liegen eng beieinander.

Auch die Preisträgerin des Deutschen Buchpreises schreibt von unerfüllten Hoffnungen ebenso wie von den genutzten Gelegenheiten, von den Schwierigkeiten des Ankommens.

Mit ihr haben die Ankommenden und die Angekommenen unserer Zeit eine neue Stimme gefunden. Ich beglückwünsche Melinda Nadj Abonji sehr herzlich zu Ihrem Preis.

Auch aus Argentinien erreichen uns viele neue Stimmen. Allein in diesem Jahr sind über 200 neue Titel auf deutsch erschienen. Sie machen Lust darauf, sich mit Argentinien zu befassen.

Argentinien und Deutschland lernen voneinander und miteinander.

In Argentinien unterstützt Deutschland 20 deutschsprachige Schulen, an denen landesweit fast 16.000 Schüler unterrichtet werden.

Im Frühjahr konnten unsere beiden Regierungen das deutsch-argentinische Hochschulzentrum auf den Weg bringen. Gemeinsam als gleichberechtigte Partner werden wir Doppelstudiengänge organisieren, deren Abschlüsse in beiden Ländern anerkannt sein werden.

Und ich freue mich sehr, dass im Dezember in Buenos Aires Lateinamerikas erstes Max-Planck-Partnerinstitut eingeweiht wird.

Argentinien feiert in diesem Jahr die 200. Jahrestage ihrer Unabhängigkeit von europäischer Kolonialherrschaft. Vor zweihundert Jahren begann das Abschütteln der Fesseln der Kolonialherrschaft. Ich möchte alle Frauen und Männer in Argentinien zu ihrem Fest der Freiheit beglückwünschen.

Auch wir haben am Sonntag unsere Freiheit in Einheit gefeiert.

Umgeben von den Büchern, die die Freiheit der Ideen verkörpern, und mit Argentinien als Gastland könnte ich mir kein schöneren Ort als hier für ein gemeinsames Fest der Freiheit wünschen.

Señora Presidenta,

es para nosotros una gran alegría que esté aquí.

Tiene usted la palabra.

Verwandte Inhalte

Schlagworte

nach oben