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Europa braucht Visionen statt Technokratie.

20.10.2017 - Interview

Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, erschienen auf Französisch in Le Monde (19.10.2017).

Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, erschienen auf Französisch in Le Monde (19.10.2017).

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Der französische Präsident Macron hat Europa mit seiner Rede an der Sorbonne eine mutige und zukunftsweisende Vision für seine Zukunft gegeben. Es ist an der Zeit, dass sich Deutschland nicht nur verbal offen für seine Vorschläge zeigt, sondern diesen Worten auch Taten folgen lässt. Derzeit steht es im deutsch-französischen Verhältnis mit Blick auf die Zukunft der Europäischen Union 10 zu 0 für Frankreich.

Nur Vorschläge des scheidenden deutschen Bundesfinanzministers zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) stehen bisher als deutsche Reaktion auf die Rede Macrons im Raum. Der ohnehin in Europa problematische Weg der bürokratischen Übersteuerung und der fehlenden demokratischen Legitimation von politischen Entscheidungen soll danach fortgesetzt und sogar beschleunigt werden. Die Vorschläge laufen Gefahr, als typisch deutsch und als Unterstützung der Finanz-Technokratien wahrgenommen und kritisiert zu werden. Gerade dieser Weg aber hat in den letzten Jahren zur politischen Isolierung Deutschlands beigetragen und auch zur Unwilligkeit vieler anderer EU-Mitgliedsstaaten, Deutschland bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Wir sollten deshalb die französischen Vorschläge nun als Chance für einen Neuanfang zu nutzen. Ansonsten riskiert Deutschland die weitere Erosion der Europäischen Union und den Rückzug weiterer Staaten aus der europäischen Zusammenarbeit.

Auf die Vorschläge Frankreichs sollte Deutschland deshalb nicht mit Vorschlägen des „Weiter so“ oder gar Tatenlosigkeit antworten.

Der französische Präsident Macron schlägt vor, Europa neu zu gründen. Er will ein Europa, das schützt; ein Europa, das für seine eigene Sicherheit sorgen kann; ein Europa, das wirtschaftlichen Wohlstand schafft und soziale Standards sichert; ein Europa, das bei Forschung und Digitalisierung auf der Höhe der Zeit ist und die ökologische Wende schafft; ein Europa, das seine Bürgerinnen und Bürger einbezieht in die Diskussion über die Zukunft Europas. Und er hat, wie bereits in der Vergangenheit, weitreichende Vorschläge zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion gemacht. Deutschlands Beitrag zur Diskussion über Europas Zukunft darf sich nicht allein auf die Währungsunion beschränken und dort vor allem von bisherigen Orthodoxien deutscher Europapolitik im Finanzbereich bestimmt sein. Sonst enden wir bei einem schwachen Europa.

Deutschland sollte stattdessen an der Seite Frankreichs die dortigen Vorschläge für eine breite europäische Reformagenda unterstützen. Gemeinsam sollten wir zu einer großen Debatte um die Zukunft Europas einladen. Kontroversen über unterschiedliche Ideen sind dafür so nötig wie selten zuvor. Diese Elemente sollten Leitschnur sein:

Stärken, was uns zusammenhält.

Wirtschaftliche Dynamik, innere, äußere, und soziale Sicherheit lassen sich heute nur noch im europäischen Kontext erreichen. Die EU muss deshalb in die Lage versetzt werden, ein stärkeres und nachhaltiges Wachstum zu generieren. Dafür braucht die EU mehr finanzielle Mittel und Instrumente, um Investitionen zu fördern- auch aus Deutschland

Deutschland muss dafür mit dem Mythos aufräumen, dass wir angeblich ein „Nettozahler“ Land seien, der Lastesel der europäischen Union. In Wahrheit ist mein Land nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch finanziell ein Gewinner der Europäischen Union. 60 Prozent unserer Waren und Dienstleistungen exportieren wir nach Europa. Nur wenn es unseren Nachbarländern gut geht, werden unsere Kinder in Deutschland Arbeit haben.

Wer im eigenen Land notwendige Reformen auf dem Arbeitsmarkt, im Steuersystem, in der Bekämpfung der Korruption oder in der öffentlichen Verwaltung durchführt, muss dafür Unterstützung erhalten. Die wichtigste Unterstützung ist nicht die Genehmigung neuer und unbegrenzter Staatsschulden. Aber wer – wie Frankreich - mutige Strukturreformen im eigenen Land durchsetzt, der muss zugleich Zeit für die Streckung des Abbaus von Haushaltsdefiziten erhalten.

Ein wichtiges Element der Reform ist ohne Zweifel die Stabilisierung der Eurozone. Die Stärkung des ESM und der Ausbau zu einem Europäischen Währungsfonds sind ein richtiger Ansatz. Aber nicht als technokratische Aufsichtsbehörde ohne demokratische Legitimation. Wir sollten die Vorschläge für ein Budget für die Eurozone und die Schaffung eines europäischen Finanzministers offen diskutieren, anstatt sie von vornherein von der Tagesordnung zu nehmen. Europa hat klar definierte Instrumente zur Sicherung der Finanz- und Währungsstabilität, aber nichts Vergleichbares für notwendige Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Abwehr wirtschaftlicher Schocks. Die Schaffung eines Eurogruppenbudgets wie es die französischen Vorschläge vorsehen, ist deshalb aus meiner Sicht die zwingende Ergänzung des Instrumentariums zur Sicherung der Stabilität der Währungsunion.

Europa braucht mehr Gerechtigkeit in der Besteuerung und mehr soziale Sicherheit auf den Arbeitsmärkten. Unbeschränkter Wettbewerb am Binnenmarkt ist gut, aber nicht um die schlechtesten Löhne und die geringste soziale Sicherung. Die Regel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ ist ein längst überfälliger Grundsatz, den wir den bislang geltenden Binnenmarktregeln hinzufügen sollten.

Im 21. Jahrhundert muss sich Europa auch nach außen neu definieren. Es muss durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Schritt für Schritt zum Interessenvertreter seiner Bürgerinnen und Bürger in der Welt werden. Unsere Kinder haben nur die Alternative, eine gemeinsame Stimme in der Welt zu haben oder keine. Deshalb darf Europa auch nach außen nicht länger unterhalb seiner „Gewichtsklasse“ antreten. Europa muss seine Kräfte bündeln und auf Augenhöhe mit den USA, Russland oder China spielen lernen. Der französische Präsident hat auch für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weitreichende Vorschläge gemacht. Deutschland und Frankreich haben bereits bisher eng zusammengearbeitet, z.B. mit der Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Diese Ideen weiter voranzubringen, wird auch die Aufgabe der neuen Bundesregierung sein, denn Europa muss seine Bürger schützen können, wenn es darauf ankommt.

Die zentrale Grundlage Europas und sein „Markenzeichen“ sind gemeinsame Werte: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit halten die EU zusammen und gehören zur europäischen Identität. Keine Regierung darf sich gegenüber der EU auf nationale Souveränität berufen, wenn sie gemeinsame Werte in Abrede stellt.

Wenn sich herausstellt, dass notwendige europäische Projekte mit allen Mitgliedstaaten derzeit nicht machbar sind, müssen Gruppen von Mitgliedstaaten vorangehen können. Es ist irreführend und schädlich zu behaupten, dies ginge nur mittels intergouvernementaler Zusammenarbeit. Natürlich darf das nicht auf Kosten des Zusammenhalts gehen; deswegen muss die Tür immer offen bleiben für alle, die sich erst später beteiligen können. Der deutsch-französischen Zusammenarbeit kommt hier eine besondere Rolle zu: Sie hilft, europäische Lösungen vorzubereiten, die den Zusammenhalt stärken.

Herausforderungen, die einzelne Mitgliedstaaten allein aufgrund ihrer geographischen Lage stärker betreffen als andere, müssen gemeinsam von der EU und allen Mitgliedstaaten angegangen werden. Das gilt z.B. besonders im Bereich der Migration. Mitgliedstaaten und dort die einzelnen Kommunen, die sich solidarisch zeigen und Flüchtlinge aufnehmen, sollten künftig mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhalten. Die EU muss auch die Sicherung ihrer Außengrenzen als das sehen, was sie ist: eine europäische Aufgabe.

Wer in Europa Entscheidungen trifft, muss gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern rechenschaftspflichtig sein. Das europäische Parlament sollte über transnationale Listen vom europäischen Wahlvolk insgesamt legitimiert werden. Alle Kommissare sollten für ihre Amtszeit ein demokratisches Mandat erhalten, das in punkto Legitimation in keiner Weise hinter dem auf nationaler Ebene zurücksteht. Im Gegenzug sollte die Kommission kleiner und politischer werden.

Deutschland braucht eine mutige und gut koordinierte deutsche Europapolitik.

Die Rede des französischen Präsidenten Macron bietet Europa eine vielversprechende Orientierung. Damit aus seiner Vision konkrete Politik wird, muss sich Deutschland klüger und mutiger positionieren. Wir sind offen für die Idee der „Neugründung“, die die Zivilgesellschaft der Mitgliedstaaten einbezieht. Reformen des Vertragswerks dürfen wir nicht von vornherein ausschließen, sondern strategisch und langfristig über Europas Zukunft diskutieren. Eine breite gut durchdachte und breit unterstützte europäische Reformagenda ist in unserem Interesse!

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