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„Meine Lehren aus Afghanistan“

12.10.2014 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier zieht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (12.10.2014) eine Bilanz des deutschen Engagements in Afghanistan.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier zieht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (12.10.2014) eine Bilanz des deutschen Engagements in Afghanistan.

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Afghanistan ist immer wieder für Überraschungen gut. Nach monatelangen, schwierigen Verhandlungen haben sich die beiden Präsidentschaftskandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah endlich auf eine nationale Einheitsregierung geeinigt. Damit haben sie den Weg geebnet für einen friedlichen Machtwechsel, der durch Wahlen herbeigeführt wurde.

Der Druck der internationalen Gemeinschaft war dafür wichtig, und er hat sich gelohnt. Natürlich entsprachen die Wahlen nicht unseren Standards, das sollten wir nicht vergessen. Die Regierungsbildung in Kabul zeigt eben, wie schwer es ist, Demokratie zu lernen. Demokratie heißt ja nicht nur, dass die Mehrheit entscheidet. Sondern auch, dass die Interessen der Minderheit gewahrt bleiben.

Der neue Präsident Ghani und der Chef seiner Administration Abdullah haben vereinbart, die Macht so fair wie möglich zu teilen. Ab jetzt tragen beide gemeinsam die Verantwortung dafür, dass Afghanistan seine blutige Vergangenheit hinter sich lassen kann. Deutschland ist weiterhin bereit, Afghanistan zu unterstützen.

Kein Thema hat die außenpolitische Debatte in Deutschland in den vergangenen Jahren so geprägt wie unser Engagement am Hindukusch. Es begann mit den Anschlägen des 11. September und der Petersberger Konferenz Ende 2001.

„Schwarze Löcher“ auf der Weltkarte, in denen internationaler Terrorismus ungestört rekrutieren, ausbilden und Anschläge planen kann, haben wir damals als Bedrohung auch für unsere eigene Sicherheit erkannt. Damals fürchteten wir, dass auch Deutschland Ziel terroristischer Angriffe werden könnte, die aus Afghanistan gesteuert würden.

Dieses Jahr endet der Kampfeinsatz der Nato und ihrer Partner. Das ist nicht das Ende unseres Engagements, aber es ist eine Zäsur. Sie bietet die Gelegenheit, eine selbstkritische Bilanz zu ziehen.

Für die Entwicklung Afghanistans haben wir einiges erreicht: Die durchschnittliche Lebenswartung der Menschen ist von damals 45 auf 60 Jahre gestiegen, die Sterblichkeitsrate von Müttern und Kindern dramatisch gesunken. Über 200.000 Studenten sind an Hochschulen eingeschrieben. Es gibt asphaltierte Straßen, Strom, es gibt Handys und Autos.

Und es gibt etwas, was nicht auf den ersten Blick sichtbar ist: eine Zivilgesellschaft, die sich eine beachtliche Zahl ziemlich unabhängiger Medien hält. Auf dem Pressefreiheitsindex der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ liegt Afghanistan heute vor seinen Nachbarstaaten Indien, Pakistan und Usbekistan.

Diese Fortschritte sind echt, aber sie prägen leider nicht unser Bild des Afghanistan-Einsatzes. Dafür ist zu lange zu vieles eben auch nicht gelungen, bis heute: Die Drogenökonomie floriert noch immer. Korruption auf allen Ebenen behindert die Modernisierung von Wirtschaft und Staat. In vielen Provinzen herrschen mächtige Warlords, in Teilen des Landes regiert immer noch Gewalt. Wer sich eine schnellere Gleichberechtigung der Frauen erhofft hat, kann trotz mancher Fortschritte nicht zufrieden sein. Und ja, es gibt immer noch die radikalislamischen Taliban.

Das ist enttäuschend. Aber ist es unsere Schuld? Wären alle diese Probleme binnen zwölf Jahren lösbar gewesen? Vieles spricht dafür, dass es unser größter Fehler war, zu hohe Erwartungen zu wecken – und dafür zu geringen Aufwand zu treiben. Wir wollten nicht nur die Sicherheitsbedrohung ausschalten, die von Afghanistan ausging, sondern das Land im Eiltempo in eine Zukunft nach unseren Vorstellungen führen.

Zu wenig haben wir damals wahrhaben wollen, was in diesem Land nach 30 Jahren Bürgerkrieg in kurzer Zeit machbar ist. So sind wir hinter manchen Versprechen weit zurückgeblieben. Wir sollten nicht unterschätzen, welche Konsequenzen diese Fehler in unseren Erwartungen bis heute haben.

Aber auch in der Sache würden wir im Nachhinein vielleicht manches anders machen. Das lässt sich am Beispiel der Taliban zeigen. Auf der Petersberg-Konferenz wurden sie nicht daran beteiligt, eine Friedensordnung zu schaffen, weil sie damals erledigt schienen. Zu lange haben wir wohl die Taliban als politischen Faktor unterschätzt.

Immerhin haben wir aus Fehlern gelernt und sie auch korrigiert. Mit dem Zehn-Punkte-Plan habe ich 2009 den Anstoß dafür gegeben, dass wir die Aufbau- und Entwicklungshilfe zusehends besser koordinieren konnten. Der Aufbau der Sicherheitskräfte wurde flächendeckend vorangetrieben. Dadurch haben wir die Grundlagen dafür geschaffen, dass die Bundeswehr in diesem Jahr 3000 Soldaten abziehen kann. Wir müssen das Land nicht fluchtartig verlassen wie die Amerikaner 1975 Vietnam. Wir werden die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen und bis 2016 jedes Jahr 430 Millionen Euro zivile Aufbauhilfe investieren.

Was lernen wir daraus? Wir müssen uns entschiedener engagieren, wir dürfen nicht nur aufs Militärische schauen. Wir brauchen einen langen Atem. Aber wir brauchen auch Demut, wir müssen akzeptieren, wie wenig sich manches von außen bewegen lässt.

Dennoch: Der Blick auf die politische Weltkarte lässt mich davor warnen, unsere Mission voreilig als gescheitert abzuschreiben:

In Libyen entschieden sich einige Staaten zu Militärschlägen, um einen blutigen Bürgerkrieg zu verhindern. Zu einem weitergehenden Engagement war aber niemand bereit. Heute droht das Land im Bürgerkrieg zu zerfallen.

In Syrien konnte sich die Völkergemeinschaft nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Dabei entstand ein Vakuum, dass der Terrorstaat IS zu füllen begann.

Im Irak zeigt sich, wie leicht ein politisch gespaltener Mehrvölkerstaat ins Trudeln geraten kann. Auch hier stieß IS in die Lücke, mit verheerenden Folgen für die gesamte Region.

Damit verglichen können sich die Ergebnisse des Afghanistan-Einsatzes hinreichend sehen lassen. Wir haben ein Land von einer terroristischen Herrschaft befreit, wir haben es nicht im Chaos versinken lassen. Von Afghanistan geht keine terroristische Gefahr mehr für die Welt aus. Sicherheit und Entwicklung sind noch immer fragil, aber das Land ist ein anderes geworden. Jetzt, mit einer neuen Führung in Kabul, können wir an einer friedlichen Zukunft für Afghanistan arbeiten. Wir werden das weiter begleiten, und zwar als Freunde des afghanischen Volkes.

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