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„Die Gefahr einer Spaltung Europas ist real“

14.04.2014 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung über die Eskalation in der Ostukraine und die Politik der EU.

Die Stadt Berlin ist ein Symbol für die Umbrüche Europas, für die Überwindung des Kommunismus und des Kalten Kriegs. Droht seit der russischen Annexion der Krim der Rückfall in die Vergangenheit?

Die Gefahr einer neuen Spaltung Europas ist real. Eine verantwortungsvolle Außenpolitik muss alles daran setzen, das zu verhindern. Ob uns das gelingt, liegt nicht nur an uns, sondern hängt wesentlich von Russlands weiteren Plänen ab. Moskau muss jetzt zeigen, ob es bereit ist, von dem Weg abzugehen, den es mit der Annexion der Krim beschritten hat.

Gibt es ein Indiz dafür, dass Russland zu einer Verhaltensänderung bereit ist?

Es gibt unterschiedliche Einschätzungen, ob die russische Außenpolitik einem vorab geschriebenen Drehbuch folgt. Mein Eindruck ist eher, dass Russland mit seiner Politik den Westen testet und sich eher situativ verhält, allerdings auch getrieben von einer selbst erzeugten nationalistischen Stimmung im eigenen Land. Ich hoffe, dass die russische Führung weiß, dass wachsende Selbstisolation kein Beitrag zur eigenen Zukunftssicherung ist. Ob unsere jetzt schon über Wochen laufenden Gespräche zur Bildung von internationalen Formaten zum Krisenmanagement schon ein Hinweis auf eine Verhaltensänderung sind, wird sich im Verlauf der nächsten Tage herausstellen.

Ist die Annexion der Krim ein Präzedenzfall, wie in Zukunft in Europa Grenzen gezogen werden?

Es kann nicht sein, dass wir sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs in Europa wieder beginnen, Grenzen nach ethnischen, sprachlichen oder konfessionellen Gesichtspunkten zu verändern. Es gibt kaum einen Staat in Europa, in dem es keine Minderheiten gibt. Wir tun erstens gut daran, unsere Politik so auszurichten, dass Minderheiten nicht ausgegrenzt werden, sondern in dem Land, in dem sie leben, Heimat, Zugehörigkeit und gleiche Rechte haben. Wo das nicht der Fall ist, haben wir mit politischen Mitteln darauf hinzuarbeiten. Daraus kann aber zweitens kein Recht erwachsen, im Nachbarland als selbst ernannter Protektor mit militärischen Mitteln zu agieren und Gebietsabtretungen vorzubereiten.

Wie sehr hat sich Russland mit seiner Position international isoliert?

Das Konzept einer willkürlichen Grenzkorrektur müsste eigentlich dem Vielvölkerstaat Russland am meisten Sorge bereiten. Spätestens die Abstimmung in der UN-Generalversammlung sollte Russland gezeigt haben, dass es auch außerhalb Europas mit seiner Politik auf wenig Zustimmung, aber umso mehr Skepsis stößt. Wir müssen es ernst nehmen, wenn Staaten jetzt die Sorge haben, dass Grenzen mit der von Russland herangezogenen Begründung eines vorgeblichen Minderheitenschutzes und mit einem neuen Verständnis von nationalem Selbstbestimmungsrecht korrigiert werden.

Wie beurteilen Sie die Lage in der Ostukraine? Ist die Stimmung eindeutig prorussisch?

Nein, es gibt Umfragen, die zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in der Ost-Ukraine einen Anschluss an Russland ablehnt. Dennoch ist es entscheidend, dass die Regierung in Kiew klar macht, dass sie eine Politik nicht nur für einen Teil, sondern für alle Ukrainer verfolgt. Sie muss Präsenz in der Ost-Ukraine zeigen und die Menschen dort einladen, an der gemeinsamen Zukunft des Landes mitzuwirken.

Aber die Kundgebungen sind offenkundig mit Russland koordiniert. Moskau will also weiter eskalieren.

Es ist wichtig, dass wir nicht kopflos reagieren. Wir orientieren unsere Außenpolitik nicht an Gerüchten und Mutmaßungen, sondern an Tatsachen. Die OSZE-Mission in der Ukraine hilft uns, Fakten zu erhalten. Es spricht einiges dafür, dass pro-russische Provokateure unter den Demonstranten in der Ostukraine sind und sich an der Besetzung öffentlicher Gebäude beteiligen. So beunruhigend die Bilder aus Odessa, Lugansk oder Donezk sein mögen: Noch haben wir keinen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung im Osten der Ukraine. Wir sehen, dass sich viele darum bemühen, genau das zu verhindern. Umso mehr kommt es darauf an, dass wir so schnell wie möglich beide Seiten, Russland und die Ukraine, im Rahmen einer internationalen Kontaktgruppe an einen Tisch bringen.

Sind diese Eskalationen ein Grund, die Sanktionen gemäß dem Stufenplan der EU zu verschärfen?

Wir haben in der EU eine lange und nicht immer ganz einfache Diskussion über mögliche Sanktionen gegenüber Russland geführt. Der beschlossene Weg hat große Einigkeit und Entschlossenheit unter den 28 Mitgliedsstaaten erzeugt. Wir haben zwei Stufen der Sanktionen in Kraft gesetzt, dazu gehören auch Einschränkungen der Reisefreiheit und das Einfrieren von Konten einzelner russischer Staatsangehöriger und Politiker der Krim. Wir haben ebenso klar gesagt: Wenn Russland versucht, sich Teile der Ostukraine oder der Südukraine einzuverleiben, dann werden wir auch über wirtschaftliche Sanktionen entscheiden. Diese Politik gilt unverändert.

Aber unmittelbarer Handlungsbedarf besteht für Sie nicht?

Wir arbeiten an den Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine, an Unterstützungsmaßnahmen für eine Verwaltungsreform und an der raschen Umsetzung einer gemeinsamen europäischen Mission zur Unterstützung von Reformen in Justiz und Polizei. Das soll dazu beitragen, das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine wiederherzustellen.

Sie haben gesagt, dass man die Ukraine nicht zwingen sollte, sich zwischen Ost und West entscheiden zu müssen. Heißt das, dass Sie einen Beitritt der Ukraine zur EU und zur Nato selbst für die weitere Zukunft ausschließen?

Ich habe gesagt, dass wir uns zunächst einmal darauf konzentrieren sollten, einen politischen und wirtschaftlichen Kollaps des Landes zu verhindern. Dafür haben EU und der Internationale Währungsfonds konkrete Hilfe angeboten. Es geht jetzt darum, dass die Menschen in der Ukraine diese Hilfe auch spüren. Dazu muss die Regierung in Kiew die Korruption bekämpfen, und es müssen Voraussetzungen für eine gute Regierungsführung geschaffen werden. Diesen Prozess sollten wir nicht mit dem Druck auf die Ukraine verbinden, sich für eine Mitgliedschaft in Nato oder EU zu entscheiden. Was die Nato anlangt, halte ich es so wie der amerikanische Präsident, der gesagt hat, dass er die Ukraine nicht auf dem Weg in die Nato sieht.

Hat Russland das Recht auf eine Einflusszone in Osteuropa, die weitgehend identisch ist mit der früheren Sowjetunion abzüglich des Baltikums?

Die Welt hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges grundlegend verändert – für uns Deutsche zum Guten, indem die Wiedervereinigung möglich wurde. Niemand darf die Zeit zurückdrehen und die Zweiteilung der Welt wiederherstellen, einschließlich geopolitischer Räume, die entweder dem Osten oder dem Westen zugehörig sind. Dafür sorgt auch das Aufkommen neuer Akteure auf der internationalen Bühne. Staaten Asiens und Südamerika vergrößern ihren wirtschaftlichen Einfluss und ringen um politische Macht. Das stellt das überkommene geopolitische Denken weltweit in Frage – für jeden, auch für Russland.

Russland hat also kein Vetorecht bei der Entwicklung der Ukraine und anderer Staaten der früheren Sowjetunion?

Nein. Aber ob wir es wollen oder nicht, die Ukraine bleibt ein großes Land zwischen der Ostgrenze der EU und der Westgrenze Russlands mit engen politischen, wirtschaftlichen und menschlich-persönlichen Verbindungen auch zu Russland. Wir müssen alles daran setzen, dass die Ukraine beieinander bleibt und politisch wie wirtschaftlich gesundet. Ohne Russland wird dieser Weg kaum möglich sein. Die meisten ukrainischen Unternehmen sind auf den russischen Markt angewiesen. Schon deshalb dürfen diese Verbindungen nicht abgeschnitten werden. Deshalb bedeutet der Versuch, Russland einzubinden, kein Entgegenkommen und kein Geschenk, sondern entspricht den Interessen der Ukraine, aber auch unseren.

Sie plädieren also für einen konstruktiven Dialog mit Russland?

Die Frage unterstellt, dass wir andere taugliche Instrumente reichlich zur Verfügung hätten. Das sehe ich – mit Verlaub – nicht. Es sei denn, wir gingen davon aus, dass wir mit einer Politik von Abschottung und Sanktionen schon irgendwie Handelshemmnisse Russlands gegenüber der Ukraine beseitigen und die Gaspreise für die Ukraine senken können. Da ich diese Hoffnung nicht habe, setze ich mich mit aller Kraft dafür ein, dass schnellstmöglichst ernsthafte Verhandlungen unter Einbindung von Russland und der Ukraine zustande kommen.

Hat die Reise der drei Außenminister nach Kiew das Ende des Regimes Janukowitschs und damit mittelbar die Annexion der Krim provoziert? Hat also die EU die Eskalation mitverschuldet?

Wir sind zu einem Zeitpunkt nach Kiew gereist, als es bereits 80 Tote in Kiew gab. Als wir ankamen, schossen Ukrainer aufeinander. Das Sterben zu beenden und einen Bürgerkrieg zu verhindern, war wichtig genug. Keiner von uns Dreien hat sich Illusionen gemacht, dass dies bereits eine Lösung bringen würde. Aber natürlich brauchen wir jetzt weitere Initiativen, um die Ukraine als Staat zusammenzuhalten und ihr eine neue politische und wirtschaftliche Zukunft zu ermöglichen. Diese Aufgabe lässt sich nicht in sechs bis acht Monaten erledigen, das bedeutet Anstrengungen über mehrere Jahre hinweg. Dazu gehört auch, Russland einzubinden in eine internationale Kontaktgruppe, um es davon zu überzeugen, dass es nicht von Vorteil für Moskau ist, einen taumelnden Nachbarn Ukraine neben sich zu haben. Ob diese Überzeugungsarbeit gelingt, kann ich zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht einmal die Kontaktgruppe zustande gekommen ist, noch nicht sagen.

Man hat nicht den Eindruck, als sei Russland derzeit an einem Dialog interessiert. Wer steht mit Moskau noch im Kontakt?

Bundeskanzlerin Merkel und ich sind bemüht, mit Russland im Gespräch zu bleiben. Präsident Obama und der amerikanische Außenminister Kerry tun dasselbe. Wir bemühen uns intensiv darum, dass eine internationale Kontaktgruppe bestehend aus Russland, der Ukraine, den USA und der EU ihre Arbeit aufnehmen kann. Das ist noch keine Lösung, aber ein Anfang. Wir stehen vor einem klassischen Dilemma der Außenpolitik: Nach Beginn einer Krise steigen die Erwartungen auf eine rasche Lösung im Stundentakt der Agenturmeldungen. Das muss man aushalten. Ich sehe weiter eine Möglichkeit, Russland und die Ukraine im Rahmen einer Kontaktgruppe zusammenzubringen.

Sie haben vor kurzem gesagt, dass sich Deutschland künftig außenpolitisch „früher, entschiedener und substanzieller“ einbringen muss. Ist die Ukraine-Krise der Testfall für die neue Doktrin?

Nach der Wiedervereinigung haben viele in Deutschland vielleicht nicht an das Ende der Geschichte geglaubt, aber doch an den ewigen Frieden und eine alljährliche Friedensdividende, die regelmäßig zur Auszahlung kommt. Was gegenwärtig in der Ukraine geschieht, hat uns in der Tat auf den Boden der Realität zurückgeholt.

Ist Deutschland in einer Führungsrolle in der EU bei der Russlandpolitik?

Eine Führungsrolle in der EU wird regelmäßig gefordert und würde doch nie akzeptiert. Das ist auch leicht zu verstehen. Wir haben Institutionen geschaffen – in der Außenpolitik den Hohen Repräsentanten -, die den Wettbewerb um Führung und Dominanz vermeiden helfen. Dennoch sehe ich, dass auf den größten Mitgliedsländern gelegentlich auch größere Erwartungen ruhen. Denen werden wir nicht gerecht, wenn wir an der Seitenlinie stehen, das Spiel kommentieren und Haltungsnoten vergeben.

Als Ende Februar die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens in die Ukraine reisten und mit Präsident Janukowitsch eine Vereinbarung aushandelten, beanspruchten sie eindeutig die Führung.

Am 20. Februar sind auf den Straßen Kiews über 80 Menschen gestorben, in den Tagen zuvor waren es nicht wesentlich weniger. Als wir losfuhren, haben viele davor gewarnt, sich in einer so unübersichtlichen Situation nach Kiew zu begeben, denn keiner von uns wusste, was uns vor Ort erwarten und wer unsere Gesprächspartner sein würden. Die Gefahr, am Ende blamiert dazustehen, war groß. Doch in solch einer Situation muss man das mögliche Scheitern der diplomatischen Bemühungen in Kauf nehmen. Man darf nicht aus Furcht vor dem Risiko gar nichts tun.

Eine Außenpolitik, die keine Risiken eingeht, ist also keine Außenpolitik?

Außenpolitik muss auch für ungewöhnliche Formate und unkonventionelle Konstellationen offen sein, um in verfahrenen Situationen neue Wege zu schaffen. Darin liegen auch Risiken, ja! Aber die Risiken des Unterlassens sind allemal größer.

Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14.04.2014. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Die Fragen stellte Eric Gujer.

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