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„Eine Idee und ihre Zukunft“ - Ansprache von Europa-Staatsminister Michael Roth beim Festakt 70 Jahre Europa-Union Deutschland e.V.

11.01.2017 - Rede

--- es gilt das gesprochene Wort ---

Verehrte Gäste,

Herr Bundesfinanzminister,

Herr Vizepräsident des Europäischen Parlaments,

lieber Rainer Wendt,

liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter in der Europa-Union Deutschland,

Feste soll man bekanntermaßen feiern, wie sie fallen. Auch wenn uns als überzeugte Freundinnen und Freunde eines vereinten Europas derzeit nicht unbedingt nach Feiern zumute ist. Wir wollen es heute trotzdem tun und gemeinsam den 70. Geburtstag der Europa-Union Deutschland begehen!

Sie werden damit ein ganzes Jahrzehnt älter als die Römischen Verträge, deren sechzigsten Geburtstag wir in diesem Jahr begehen. Sie waren der EU damit sozusagen immer einen Schritt voraus.

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Und das schätze ich auch heute noch ganz besonders an der Europa-Union: Dass Sie uns Politikern immer wieder Beine machen und uns antreiben.

Um ganz ehrlich zu sein: Die europäische Integration hat sicher schon bessere Jahre erlebt als das zurückliegende Jahr. Wegducken gilt aber nicht, so heftig der Gegenwind derzeit auch sein mag.

Ich werde derzeit häufig eingeladen, zu Themen wie „Europa in der Krise“ oder – noch dramatischer – „Europa vor dem Abgrund“ zu sprechen. Ein Überbietungswettbewerb unterschiedlicher Horrorszenarien führt höchstens zu kollektiver Hysterie und Depression.

Sicher ist es auch einfacher, mit in den Chor einzustimmen, der über das Brüsseler Bürokratiemonster schimpft und die EU zum Sündenbock für jede erdenkliche Fehlentwicklung macht.

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Dabei trifft die EU damit nur in besonderem Maße, was auch nationale Politik in weiten Teilen ereilt: Verachtung. Weder der Politik im Allgemeinen, unserer Demokratie und schon gar nicht der EU werden noch zugetraut, überzeugende Lösungen im Sinne des Gemeinwohls zu finden. Die Distanz zwischen Gewählten und Wählern nimmt trotz der Zunahme direkter Kommunikationsmöglichkeiten zu. Wir tragen alle miteinander Verantwortung dafür, dass Europa wieder gelingt. Und es lohnt sich allemal, für Europa einzustehen. Und das Gute ist: Auch die Mehrheit der Deutschen ist doch nach wie vor der Überzeugung, dass es verstärkter Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bedarf. Das ist sicher auch der Verdienst der Europa-Union Deutschland!

Überzeugte Europäerinnen und Europäer fallen eben nicht vom Himmel oder wachsen auf den Bäumen. Europäer werden - ja, das kann man lernen. Mit dem Verstand, aber auch dem Herzen. Sie, liebe Europa-Union, sprechen und streiten über Europa. Europa braucht eine vitale Zivilgesellschaft mit Vereinen und Verbänden wie der Europa-Union wie die Luft zum Atmen.

Bürgerinnen und Bürger, die sich einmischen, mitmachen und der Politik auch mal den Spiegel vorhalten, sind weit mehr als das Salz in der Suppe. Sie sichern das Überleben Europas. Danke dafür!

Genau deshalb möchte ich uns gerade heute bei aller Nachdenklichkeit auch ermuntern, hoffnungsfroh und optimistisch zu bleiben. Nur damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es geht mir gar nicht um Schönfärberei. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als ob derzeit in der Europäischen Union alles rund liefe, als ob die Karawane einfach so weiterziehen sollte. Es stimmt schon: Derzeit ist die EU in keinem guten Zustand. Aber es liegt ja letztlich in unseren Händen, Europa mit vereinten Kräften wieder in die Spur zu bringen.


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Die EU muss sich bewähren: Das Thema Flucht und Migration, die unzähligen Krisen und Konflikte in unserer Nachbarschaft, der islamistische Terror im Herzen Europas, die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen vor allem im Süden unseres Kontinents und der drohende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU werden uns sicher noch weit über das Jahr 2017 hinaus begleiten.

70 Jahre Europa-Union Deutschland: Einige von Ihnen werden sich vielleicht noch an diese Zeiten erinnern, in denen die Idee eines geeinten, friedlichen Europas noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit war.

Gerade als Deutsche können wir gar nicht dankbar genug sein, dass couragierte Europäerinnen und Europäer den Glauben an dieses geeinte Europa nicht verloren haben. Nazi-Deutschland hat den gesamten Kontinent mit unvorstellbarem Leid überzogen. Damals durften wir am allerwenigsten damit rechnen, im Kreise unserer Nachbarn wieder mit offenen Armen empfangen und eben nicht ausgeschlossen zu werden. Als Friedensprojekt hat sich die EU damit zweifelsohne bewährt.

Sie hat uns allen in den vergangenen Jahrzehnten Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert. Sie ist der Garant für Demokratie und gelebte Vielfalt.

Selbstverständlich kommt uns deshalb eine ganz besondere Verantwortung zu, den Laden auch in den heutigen Krisenzeiten zusammenzuhalten. Wir haben so viel Solidarität, Generosität, Offenheit und Freundschaft erfahren. Das verpflichtet uns zu jeder Anstrengung, ideell und materiell, Europa zu retten.

Die Frage nach der Zukunft Europas ist derzeit eine echte Eine-Million-Euro-Frage. Denn Europa steht am Scheideweg: Zwischen einem Kontinent, auf dem nationale Egoismen wieder Einzug halten. Oder einem Kontinent, der solidarisch zusammenhält und politisch an einem Strang zieht. Es gibt sicher keinen Automatismus, welchen Weg Europa in den kommenden Jahren gehen wird – weder in die eine noch in die andere Richtung.

Wir dürfen niemals vergessen: Unser geeintes Europa war und ist die logische Antwort auf die „Katastrophe des Nationalismus“. Und jetzt soll die Rückkehr ins nationale Schneckenhaus plötzlich wieder die Lösung für alle Probleme sein?

Wer Europa ablehnt, der hat die Globalisierung schlichtweg nicht verstanden. Was Populisten und andere vorgaukeln wollen, ist doch ein krasser Trugschluss: Nationale Alleingänge machen nichts besser, aber vieles schlechter. Denn es sind doch unsere Nationalstaaten, die in den Zeiten der Globalisierung im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen stoßen.

Globalisierung ist kein Schicksal, dem wir uns ohnmächtig ergeben müssen. Nein, Globalisierung lässt sich gestalten – sozial, demokratisch und nachhaltig. Nur mit und über Europa gewinnen wir unsere politische Handlungsfähigkeit zurück. Europa ist und bleibt unsere Lebensversicherung in den stürmischen Zeiten der Globalisierung.

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Lassen Sie uns heute also den Blick nach vorne richten – und nicht über das „ob“, sondern wieder mehr über das „wie“ unserer gemeinsamen Zukunft in Europa nachdenken:

Der Brexit ist ein tiefer Einschnitt und ein Weckruf, für den es keine Blaupause gibt. Aber eines kann ich Ihnen garantieren: Der Brexit bedeutet ganz sicher nicht das Ende der EU. Die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten haben klargestellt: Wir stehen zusammen, für uns ist und bleibt die EU der unverzichtbare Handlungsrahmen.

Mit dem „Bratislava-Prozess“ zeigen die 27 Staaten, dass sie nach dem Brexit-Votum den Blick nach vorne richten. Bis zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März 2017 sollen eine Reihe von konkreten Schritten erarbeitet werden.

Damit ist der Grundstein für mehr Zusammenhalt und mehr Solidarität gelegt.

Und es gibt durchaus auch weitere Hoffnungsschimmer. Wir sind ja hier in der Friedrichstadtkirche an einem ganz besonderen Ort, der uns auch zeigen kann: Die Aufnahme geflüchteter Menschen fordert uns und sie verläuft auch nicht frei von Anstrengungen auf beiden Seiten, aber sie kann gelingen. Was wäre Berlin ohne die Hugenotten, protestantische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, die im 17. und 18. Jahrhundert in der preußischen Hauptstadt eine neue Heimat fanden?

Erste wichtige Schritte, was die Solidarität innerhalb der EU betrifft, sind bereits gemacht: Bei der Wiedererlangung der Kontrolle über den Zugang an unseren Außengrenzen werden wir uns gegenseitig als Mitgliedstaaten unter Koordinierung von FRONTEX noch stärker unterstützen. Und warum begreifen wir die Einigung auf die Einrichtung einer gemeinsamen Europäischen Grenz- und Küstenwache nicht endlich als Meilenstein? Oder ist Ihnen etwa ein anderer dauerhafter multinationaler Außengrenzschutz bekannt? Mir nicht!

Durch den verbesserten Außengrenzschutz schaffen wir mehr Sicherheit des Einzelnen. Offene Binnengrenzen in Europa – das kann dauerhaft nur funktio-nieren, wenn die EU-Staaten an den Schengen-Außengrenzen wirksam die Grenzen sichern. Wir müssen wissen, wer wann und wie zu uns kommt.

Auch die migrationspolitische Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transit-staaten ist mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil europäischer Außen- und Entwicklungspolitik geworden.

Die Umsetzung des Abkommens mit der Türkei funktioniert trotz der Schwierigkeiten im bilateralen Verhältnis und zur EU. Das alles haben wir jedoch nicht richtig zu kommunizieren vermocht. Das Abkommen ist ein großer huma-nitärer Akt der EU, denn wir helfen doch den Flüchtlingen in der Türkei. Ich kann deshalb das Gerede vom „schmutzigen Deal“ nicht nachvollziehen.

Noch nicht zufrieden sein können wir mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Hier wollen wir bis März entscheidend vorankommen, das betrifft auch die Solidaritätsmechanismen zwischen den EU-Mitgliedstaaten.

Auch in Deutschland hat es etwas Zeit gebraucht, von einer grundlegenden Reform des Asylsystems überzeugt zu werden. Aber wir waren eben auch bereit, unsere Position kritisch zu befragen und neu auszurichten.

Ich habe bereits von der Friedensmacht EU gesprochen. Die außen-, aber auch sicherheitspolitische Zusammenarbeit hat für die Bürgerinnen und Bürger einen ganz offensichtlichen Mehrwert. Nicht umsonst gehört sie auch im europaskeptischen Großbritannien zu den Politikbereichen mit der größten Akzeptanz.

Das verwundert nicht: Die Realität um uns herum ist eben nicht so friedlich wie unsere eigene. Deshalb ist die EU weltweit auch ein Sehnsuchtsort:

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Ein Garant für das, wovon Menschen in unserer europäischen Nachbarschaft und auch weltweit träumen.

Aus dem Friedensprojekt EU muss ein gesamteuropäisches Friedensprojekt werden. Das muss unser Anspruch sein! Nur so können wir ernsthaft mehr Verantwortung für Frieden, Stabilität und Demokratie weltweit übernehmen.

Und wir sind in den zurückliegenden Monaten auf einige gemeinsame Nenner gekommen, wenn ich mal an die Globale Strategie denke, aber auch an den jüngsten europäischen Konsens für mehr Sicherheit und Verteidigung.

Das Bild im Bereich Wirtschaft und Soziales ist durchaus gemischt. Portugal beispielsweise ist auf gutem Weg, aber auch andernorts wie in Spanien oder auch Griechenland gibt es Hoffnung auf weitere wirtschaftliche Erholung. Im Dezember haben die Staats- und Regierungschefs die Verlängerung des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) befürwortet.

Besonders erfreulich: Auch die Zahl der jungen Europäerinnen und Europäer unter 25 Jahren, die erwerbslos sind, ist seit Einführung der Jugendbeschäftigungs-initiative um 1,4 Millionen gesunken. Doch nach wie vor ist in einigen Mitglied-staaten die junge Generation massiv von Arbeitslosigkeit betroffen.

Auch für diese junge Generation muss Europa wieder zu einer konkreten Hoffnung werden. Auch das macht Europa aus: Ein Wohlstandsversprechen für ganz viele und nicht für einige wenige.

Wir brauchen nachhaltiges Wirtschaftswachstum, mehr sozialen Zusammenhalt, mehr wirtschaftliche und soziale Konvergenz in Europa. Wir müssen mehr in Forschung und Ausbildung investieren, damit jeder Mensch eine berufliche Chance hat und wir unsere Möglichkeiten nicht ungenutzt lassen. Schritt für Schritt vollen-den wir damit die Wirtschafts- und Währungsunion. Nur so können wir das Vertrau-en in die EU als gemeinsamen Raum des Wohlstands und der sozialen Stabilität wiederherstellen.

Und dann gibt es da noch etwas, das sich nicht mit Zahlen fassen lässt, sondern jeden Tag aufs Neue gelebt werden muss.

Erst kürzlich lag auf meinem Tisch das Buch des Niederländers Peter Stienz „Typisch Europa: Ein Kulturverführer in 100 Stationen“. Und im Klappentext stand zutreffend: „Das Buch, das Europa jetzt braucht: Eine Liebeserklärung an unsere gemeinsame Kultur“. Und ich würde hier ergänzen: eine Liebeserklärung an unsere Werte.

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz gegenüber Minderheiten jeglicher Art sowie Presse- und Meinungsfreiheit – all das sind Europas Markenzeichen. Es sind eben diese Werte, die uns im Innern stark machen und uns zusammenschweißen. Was wir in Europa in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam erreicht haben, ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion: Europa ist vor allem eine einzigartige Werteunion. Kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt zeichnet uns aus. Das mag gelegentlich anstrengend sein.

Aber es bereichert uns vor allem und macht uns stark in einer globalisierten Welt. Genau diese Vielfalt beflügelt Ideen, Kreativität und neue Impulse.

Deshalb freue ich mich besonders, dass die documenta in diesem Jahr nicht nur in meiner nordhessischen Heimat Kassel, sondern erstmals auch in Athen stattfindet. „Von Athen lernen“: Das hat uns auch im Auswärtigen Amt überzeugt.

Und genau dafür lohnt es sich zu kämpfen – frei nach dem Motto von Ovid: „Glücklich, wer, was er liebt, tapfer zu verteidigen wagt.“ Wir brauchen – allen Krisen im Innern der EU und in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zum Trotz – ein Europa, das Verstand und Herz der Bürgerinnen und Bürger anzusprechen vermag.

Den Verstand spricht die Europäische Union an, wenn sie in der Lage ist, die Bewährungsproben für unsere Zukunft zu meistern und Antworten auf die drängenden Probleme unseres Kontinents zu finden. Wenn das gelingt, dann gibt es genügend rationale Argumente für Europa.

Aber Europa muss auch eine Herzensangelegenheit sein. Und damit unsere Herzen für Europa schlagen, brauchen wir Solidarität, Mut, ein Fünkchen Zuversicht und auch mal ein bisschen Emotion und Leidenschaft. Ja, und dafür brauchen wir auch Netzwerke wie die „Europa-Union Deutschland“. Sie haben sich um Europa verdient gemacht. Und dafür danke ich Ihnen.

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