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Neue Herausforderungen für die europäische Sicherheit und Verteidigung

08.11.2011 - Rede

Rede von Staatsminister Werner Hoyer bei der 10. Berliner Sicherheitskonferenz am 8. November 2011

Rede von Staatsminister Werner Hoyer bei der 10. Berliner Sicherheitskonferenz am 8. November 2011

-es gilt das gesprochene Wort-

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Die unmittelbare, existentielle Bedrohung durch sowjetische Nuklearwaffen, wie sie in der Welt des Kalten Kriegs bestand, gehört der Vergangenheit an. Geschichte sind auch die klaren Frontverläufe und die eindeutige Lokalisierbarkeit der Gefahrenquellen. Monokausale Wirkungszusammenhänge nach dem einfachen Schema von Aktion und Reaktion spiegeln die aktuelle Bedrohungslage immer weniger wider.

Doch irren sich diejenigen, die bisweilen der simplen Logik jener Tage mit einem gehörigen Maß an Nostalgie hinterher sehen.

Denn keine der aktuellen Herausforderungen an unsere Sicherheit ist in Umfang und Vernichtungskraft mit tausenden Nuklearsprengköpfen vergleichbar, die im Falle eines offenen Schlagabtauschs zwischen NATO und Warschauer Pakt Europa permanent unbewohnbar gemacht hätten.

Das nukleare Gleichgewicht des Schreckens war eine Gefährdung unserer Lebensgrundlagen, wie es sie in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben hatte. Die Überwindung des Ost-West-Antagonismus ist daher eine der herausragenden Leistungen der internationalen Politik. Der Zugewinn an Sicherheit für die Menschen in Europa kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die Herausforderungen an die europäische Sicherheit im 21. Jahrhundert können heute nicht annähernd so prägnant auf den Punkt gebracht werden wie zur Zeit des Kalten Krieges. Die neuen Bedrohungen sind vielgestaltig, hochkomplex und bisweilen amorph.

Das neue Strategische Konzept der NATO vom November 2010 beinhaltet eine Liste sicherheitspolitischer Fragestellungen, auf die wir Antworten finden müssen. Dazu gehören die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel, Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Cyberangriffe, Energie- und Rohstoffsicherheit, Umwelt- und Versorgungssicherheit sowie Sicherheitsaspekte in Bezug auf neue Technologien.

Der Wandel im sicherheitspolitischen Umfeld ist zumeist nicht-militärischen Ursprungs und häufig auf diverse Ursachen zurückzuführen, die auch im ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich liegen. Hinzu kommt, dass die handelnden Akteure vielfach nicht-staatlichen Charakters sind und asymmetrisch agieren.

Aus diesem Grund müssen neue Sicherheitslösungen auf unterschiedliche Aspekte eingehen. Diese Entwicklungen haben zu einer wachsenden Vernetzung von Sicherheit geführt. Angesichts der globalen Natur der Herausforderungen ist zudem evident, dass sie nicht von der NATO, der EU oder einer anderen internationalen Organisation allein bewältigt werden können.

Ich möchte auf zwei der eben genannten neuen Herausforderungen im Sicherheitsbereich eingehen: Cyber-Sicherheit und Energiesicherheit.

Der Cyber-Raum ist gleichermaßen neues Medium wie auch Instrument. Eine Bedrohungsanalyse muss daher auch berücksichtigen, dass Spionage, Sabotage, Betrug oder Manipulation, die wir aus der realen Welt kennen, nun auch und zum Teil mit neuer Qualität im Cyber-Raum stattfinden.

Die neuen Cyber-Attacken – Angriffe von sicherheitspolitischer Relevanz – stammen nicht mehr nur von einzelnen Hackern. Sie kommen vor allem von staatlichen Akteuren, Streitkräften und Nachrichtendiensten. Dabei geht es sowohl um Datennetze als Medium von Angriffen, etwa auf kritische Infrastrukturen, als auch um die Netze als Ziel, da diese selbst zu kritischer Infrastruktur geworden sind.

Die Cyber-Bedrohung wird in ihrer neuen Qualität bisher noch nicht hinreichend verstanden, um ihr umfassend begegnen zu können. Die internationale Gemeinschaft steht vor der schwierigen Herausforderung, bewährte Konzepte der Vertrauens- und Sicherheitsbildung nunmehr auch an die Cyber-Dimension anzupassen und fruchtbar zu machen. Auch internationale Kontrolle und rechtliche Verhaltensnormen müssen angepasst werden.

In gewisser Hinsicht stellt das Thema Cyber die internationale Politik heute vor ähnliche Herausforderungen, wie einst der Umgang mit Nuklearwaffen. Es geht darum, das technisch Mögliche durch ein Gerüst politischer, rechtlicher, moralischer Normen so einzugrenzen, dass Risiken minimiert werden.

Cyber-Angriffe sind aus mehreren Gründen eine attraktive Waffe im Arsenal von Armeen und Geheimdiensten. Zum einen fällt es im Cyberbereich leicht, den Ausgangsort von Attacken zu verschleiern, indem Spuren verwischt oder manipuliert werden. Aggressoren im Netz können nicht oder nur mit erheblichem Aufwand identifiziert werden.

Durch diese Nicht-Zurechenbarkeit sinken die Kosten für den Angreifer, da er nicht zwangsläufig mit Vergeltungsmaßnahmen oder anderen Sanktionen rechnen muss. In der Anonymität des virtuellen Raums kann er beliebig viele verdeckte Angriffe ausführen, bis der erste gelingt.

Im Cyberspace ist es außerdem nur schwer möglich, nützliche und schädliche Merkmale auseinanderzuhalten. Angreifer verwenden die gleichen Datenmerkmale, wie es handelsübliche Anwendungen tun. Das erschwert ihre Enttarnung und Erkennung.

Mit der Nicht-Zurechenbarkeit eng verbunden ist die Gefahr folgenschwerer Missverständnisse und Eskalationen: Einige unserer Verbündeten haben deutlich gemacht, dass sie auf einen Cyber-Angriff nicht weniger robust reagieren würden als auf konventionelle Bedrohungen. Soweit sich aber der Ursprung einer Attacke überhaupt einem Staatsgebiet zuordnen lässt, bedeutet dies noch nicht, dass dort der eigentliche Angreifer lokalisiert wurde. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Drittstaat oder eine Terrororganisation falsche Spuren legt, um einen Keil zwischen Staaten zu treiben oder Fehlreaktionen auszulösen.

Zum anderen lässt sich im Cyber-Bereich mit geringem Einsatz von Mitteln eine massive Wirkung erzielen. Auch wenn eine Attacke technisch umfangreich vorbereitet werden muss, ist der Umfang potentieller Schäden noch weitaus erheblicher. Die Kosten-Nutzen-Analyse fällt also derzeit noch eher zugunsten des Angreifers aus.

Eine erfolgreiche Abwehr gegen Cyber-Angriffe muss auf einem vernetztem Handeln basieren. Da in Deutschland ca. 90 % aller digitalen Datennetze in der Hand privater Betreiber sind, müssen und werden Bundesregierung und Industrie eng verzahnt zusammenarbeiten, um künftig Cyber-Sicherheit zu gewährleisten.

Zur Optimierung der operativen Zusammenarbeit aller staatlichen Stellen und zur besseren Koordinierung von Schutz- und Abwehrmaßnahmen gegen Cyber-Angriffe haben wir bereits ein Nationales Cyber-Abwehrzentrum eingerichtet.

Eine ähnlich enge Abstimmung gilt es nun auch auf internationaler Ebene umzusetzen, etwa durch allgemein anerkannte Verhaltensregeln für staatliche Akteure im Cyberspace und enge Zusammenarbeit bei der Sicherung nationaler Netze. Denn ein Netzwerk ist in seiner Gesamtheit immer nur so sicher wie jeder der angeschlossenen Einzelteilnehmer für sich.

Im neuen Strategischen Konzept der NATO wurde Cyber-Sicherheit als eine der wesentlichen zukünftigen Herausforderungen eingestuft. Kern der daraufhin entwickelten Cyberabwehrstrategie des Bündnisses ist der Schutz NATO-eigener Netze.

Ebenso wichtig ist die Berücksichtigung von Fragen der Cyber-Sicherheit im gesamten Aufgabenspektrum der NATO und die Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen und Partnerstaaten. Die Entwicklung internationaler Verhaltensregeln im Cyberspace wird von den Verbündeten unterstützt.

Der Europäische Rat hat 2008 Cyber erstmals als Sicherheitsbedrohung identifiziert. Die EU-Kommission benannte Ende 2010 die Erhöhung der Sicherheitsstandards für die Internetnutzung als wesentlichen Schwerpunkt. Seither wurden verschiedene Initiativen zur Harmonisierung der Gesetzgebung im Kampf gegen Cybercrime und verschiedene Instrumente zum Schutz kritischer Infrastruktur auf den Weg gebracht.

Die europäische IT-Sicherheitsagentur ENISA hat erst vor wenigen Tagen gemeinsam mit dem Department of Homeland Security die erste transatlantische Cyber-Sicherherheitsübung durchgeführt. Die eintägige Übung „Cyber Atlantic 2011“ hat anhand simulierter Krisenszenarien erforscht, wie EU und USA im Fall von Cyber-Attacken auf kritische Netzinfrastruktur kooperieren könnten.

Über die eben skizzierten Bedrohungen aus dem Cyberraum dürfen wir jedoch ein wesentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren: Das Internet ist ein machtvolles Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung und der Emanzipation des Individuums. Durch die Reduzierung oder gar Minimierung von Risiken stellen wir sicher, dass diese positiven Eigenschaften auch künftig voll zur Geltung kommen können.

Die zunehmende Zahl von Hackerangriffen auf Regierungssysteme und Netzwerke staatlicher und nicht-staatlicher Akteure hat zu immer ausgefeilteren Schutz- und Verteidigungsmechanismen geführt. Es wäre aber das falsche Signal, sich damit zufrieden zu geben. Denn kein Sektor ist ähnlich dynamisch wie der IT-Sektor. Die Bemühungen zur Gewährleistung von Cybersicherheit in all ihren Aspekten müssen daher kontinuierlich fortgeführt werden.

Der Zugang zu energetischen Ressourcen und weiteren Rohstoffen ist ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg unserer Industrie. Er spielt bei der Gestaltung unserer bilateralen und multilateralen Beziehungen eine immer bedeutendere Rolle. Zudem kann die von Deutschland angestrebte Energiewende hin zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft nur gelingen, wenn Rohstoffe für die Produktion von High-Tech-Produkten in ausreichender Menge zur Verfügung stehen.

Bei der Gestaltung unserer Rohstoffaußenpolitik haben wir drei zentrale Entwicklungen zu berücksichtigen:

1. Die Nachfrage nach Rohstoffen wächst rapide. Der Bedarf etwa an Gallium, das für die Herstellung von Solarzellen und Leuchtdioden verwendet wird, könnte bis 2030 um das 20-fache anwachsen. Auch bei anderen Metallen wird die Nachfrage in den nächsten Jahren erheblich anziehen.

2. Die wachsende Nachfrage führt schon heute zu steigenden Preisen – dies auch als Folge von Rohstoffspekulationen, die auch diesen Bereich inzwischen ereilt haben. Allein im Jahr 2010 sind die Rohstoffpreise in Euro um über 30 % gestiegen. Bei nicht-energetischen Rohstoffen betrug der Anstieg über 40 %.

3. Der Zugang zu wichtigen High-Tech-Rohstoffen wird schwieriger. Die Förderung von Seltenen Erden oder Lithium ist auf nur wenige Länder konzentriert. Zum anderen räumen immer mehr rohstoffreiche Staaten der Versorgung ihrer heimischen Industrie den Vorrang vor Exporten ein. Die Folge für deutsche Unternehmen: Der Zugang zu Rohstoffen wird teurer und schwieriger.

Zusammen mit unseren Partnern in der EU setzen wir uns für die freie Handelbarkeit von Rohstoffen auf transparenten Märkten ein. Gleichzeitig streben wir im Rahmen unserer Rohstoffaußenpolitik neue Formen der Kooperation mit wichtigen Rohstoffproduzenten und -abnehmern an.

Dabei sehen wir in der Zusammenarbeit im Rohstoffbereich einen Kristallisationspunkt für eine engere Koordinierung auch in anderen Bereichen: Wir wollen Rohstoffpartnerschaften auf breiter Basis gründen und durch Technologietransfer, die Modernisierung des Rohstoffsektors oder die Ansiedlung weiterverarbeitender Industrie im Partnerland eine Win-Win-Situation schaffen.

Das Thema der Rohstoffsicherheit steht längst auf der Agenda von EU, WTO, G8, G20 oder der Vereinten Nationen. Dabei ist klar: Genauso wie bei Energie wollen wir auch bei Rohstoffen nicht, dass diese zu einem Instrument der Machtprojektion werden. Wir setzen auf Kooperation, nicht auf Konfrontation.

Auch die NATO hat sich des Themas angenommen und sieht den Schutz von Energietransport und Energietransitrouten zur Sicherung der Versorgung mit „globalen öffentlichen Gütern“ als neue strategische Herausforderung.

Durch die wachsende Abhängigkeit vieler NATO-Mitgliedstaaten von ausländischen Energieversorgern und Verteilungsnetzwerken nehmen Zahl und Ausmaß der globalen Versorgungswege stetig zu. Dadurch erhöht sich gleichzeitig auch die Anfälligkeit für terroristische oder kriminelle Aktivitäten.

Der Kampf gegen die Piraterie am Horn von Afrika, der sowohl von der EU im Rahmen der Operation ATALANTA als auch der NATO mit Operation OCEAN SHIELD forciert wird, hat die Durchsetzung humanitärer Hilfe für die notleidende Bevölkerung in Somalia zur Hauptaufgabe. Beide Einsätze dienen aber gleichzeitig auch der Sicherung strategisch wichtiger und leicht zu gefährdender Handels- und Versorgungswege und damit der Energie- und Rohstoffsicherheit, da Piraten auch derartige Transporte angreifen.

Die genannten Beispiele zeigen: Gestalt und Substanz der Sicherheitspolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind nicht vergleichbar mit den Strukturen und Bedrohungen zu Beginn des Kalten Kriegs.

Die Herausforderungen sind heute nicht einfacher geworden, sie sind vielschichtiger, komplexer und in vielfältiger Weise miteinander verflochten. Wir müssen tragfähige Antworten finden. Die Umsetzung neuer Konzepte in NATO und EU hat gerade erst begonnen. Das Thema wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erhalten bleiben.

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