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„Türkei ist Schlüsselland in der Flüchtlingskrise“

02.04.2016 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier spricht im Interview über das umstrittene EU-Türkei-Abkommen, die Flüchtlingsfrage sowie über die Hoffnung auf Frieden in Syrien. Erschienen in der Heilbronner Stimme am 02.04.2016.

Herr Steinmeier, der türkische Präsident Erdogan strotzt vor Selbstbewusstsein. Er ist in der Flüchtlingskrise der wichtigste Partner der EU. Tritt Europa ihm gegenüber kritisch genug auf?

Ob manche das wollen oder nicht: Die Türkei ist ein wichtiges Partnerland beim Umgang mit dem Bürgerkrieg in Syrien genauso wie bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme. Eine möglichst partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei in diesen Fragen bleibt wichtig. Das bedeutet aber doch nicht und rechtfertigt auch nicht die Kritik, dass wir kritischen Themen aus dem Weg gingen.

Die Grünen sprechen von einer fatalen Abhängigkeit Deutschlands von der Türkei. Können Sie die Bedenken nachvollziehen?

Man mag es gut oder schlecht finden, dass die Türkei ein Schlüsselland in der Flüchtlingskrise ist. Das ist aber − schon mit Blick auf die geographische Lage − eine Tatsache, die wir nicht ignorieren können. Mit dem EU-Türkei-Abkommen haben wir eine Vereinbarung, die auf beiderseitigen Interessen fußt und beiderseitige Verpflichtungen enthält. Falls man also von Abhängigkeit sprechen möchte, wäre sie zumindest gegenseitig. Die Türkei hat wie wir ein Interesse an einer partnerschaftlichen Kooperation und der Bewältigung der Flüchtlingsströme aus Syrien.

Die Türkei hat sich im Rahmen des Abkommens mit der EU verpflichtet, ab Montag die meisten Flüchtlinge zurückzunehmen, die von der Türkei nach Griechenland übersetzen. Erwarten Sie, dass dieses Verfahren ab dem ersten Tag funktioniert?

Ich erwarte, dass alle Seiten mit ganzer Kraft die Umsetzung des Abkommens vorantreiben. Dazu gehört natürlich die Rücknahme von Flüchtlingen durch die Türkei. Dazu gehört auf europäischer Seite, dass wir unsere Verpflichtungen gegenüber der Türkei einhalten. Und dazu gehört auch, dass die EU Griechenland bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise tatkräftig unterstützt.

Das Abkommen mit der Türkei sieht Visa-Erleichterungen und weitere EU-Beitrittsgespräche vor. Sich die Türkei als EU-Mitglied vorzustellen, fällt angesichts Erdogans Gebarens schwer. Steht für Sie außer Frage, dass die Beitrittsgespräche in einer Mitgliedschaft münden?

Ich bin nicht sicher, ob die Türkei selbst derzeit diese Frage so klar für sich beantworten kann. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei werden wie mit allen anderen Staaten ergebnisoffen geführt. Dabei gibt es Bedingungen, die die Beitrittskandidaten erfüllen müssen, ebenso wie Werte und Normen, die geteilt und übernommen werden müssen. Wir werden in den weiteren Verhandlungen sehen, ob die Türkei das tun kann und auch will.

Das Flüchtlingswerk UNHCR berichtet von unhaltbaren Zuständen in den griechischen Flüchtlingscamps − und bezeichnet sie als Haftanstalten. Darf der Rest Europas tatenlos zuschauen?

Wir sind alles andere als tatenlos. Nicht erst seit es die Bilder aus Idomeni gibt, sind wir vor Ort und leisten in enger Zusammenarbeit mit dem UNHCR humanitäre Hilfe. Das Deutsche Rote Kreuz stellt mit Mitteln des Auswärtigen Amts eine medizinische Basisversorgung für über 10.000 Flüchtlinge in der Gegend von Idomeni zur Verfügung. Und wir haben in der EU beschlossen, dieses Jahr bis zu 300 Millionen Euro für humanitäre Soforthilfen bereitzustellen. Wir sind uns mit dem UNHCR auch einig, dass bei der Umsetzung der EU-Türkei-Vereinbarung die internationalen humanitären und rechtlichen Standards zum Schutz der Flüchtlinge gewahrt werden müssen. Das betrifft die humanitäre Lage in den Camps, aber auch die individuelle Registrierung und Prüfung von Asylanträgen. Klar ist: Die volle Umsetzung dieser Vereinbarung ist eine Mammutaufgabe, die uns noch große Anstrengungen abverlangen wird.

Brauchen die Griechen bei der Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens mehr europäische Hilfe?

Das liegt doch auf der Hand! Wer geordnete Verhältnisse an den EU-Außengrenzen will, darf Griechenland damit nicht allein lassen. Wir haben von Beginn an immer wieder darauf gedrängt, dass eine europäische Lösung auch die Unterstützung derjenigen Mitgliedsstaaten beinhalten muss, die aufgrund der Geographie am stärksten von den Flüchtlingsströmen belastet sind. Es ist gut, dass sich beim EU-Gipfel nun alle auf dieses Prinzip verpflichtet haben. Allein Deutschland und Frankreich haben 200 Asylexperten für Griechenland angeboten, dazu kommen jeweils 200 zusätzliche Polizeibeamte für Frontex.

Wird nach der Schließung der Balkanroute Libyen wieder zum Brennpunkt der Flüchtlingsströme? Wird Europa als nächstes einen Deal mit den Warlords dort machen?

Europa darf nicht wegsehen, wenn sich in Libyen, wenige hundert Kilometer von seiner Südgrenze entfernt, im Schutz von Chaos und Bürgerkrieg IS-Terroristen und Schleuserbanden breit machen. Dauerhaft wird man den Terrorbanden und der Schleuserkriminalität nur Herr werden, wenn Libyen wieder ein handlungsfähiger Staat wird. Der deutsche UN-Sondergesandte Martin Kobler hat mit den libyschen Parteien ein Friedensabkommen ausgehandelt, das in allen Lagern große Unterstützung gefunden hat, trotz der Sabotageversuche einiger Hardliner. Am Mittwoch ist der Kern der neuen Einheitsregierung in der Hauptstadt Tripolis angekommen. Gemeinsam mit den EU-Partnern und den Vereinten Nationen unterstützen wir sie jetzt dabei, dass sie so bald wie möglich ihre Geschäfte aufnehmen und den Wiederaufbau staatlicher Strukturen in Angriff nehmen kann.

Was muss passieren, damit Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren? Glauben Sie wirklich, dass die Verhandlungen in Genf in absehbarer Zeit Frieden bringen?

Seit über einem Monat hält nun in großen Teilen Syriens die Waffenruhe, auf die wir uns in München mit den internationalen und regionalen Mächten verständigt haben. Zum ersten Mal seit fünf Jahren gibt es einen Hoffnungsschimmer, dass eine friedliche Lösung für Syrien möglich werden kann. Mit einem schnellen Durchbruch bei den Friedensgesprächen können wir dennoch nicht rechnen. Wir werden einen langen Atem brauchen und den gemeinsamen Druck der internationalen Gemeinschaft für eine Einigung. Aber wenn es gelingt, den Waffenstillstand zu festigen, die Versorgung der Menschen in ganz Syrien zu ermöglichen und Fortschritte in den Friedensverhandlungen zu erzielen, dann kann das mit der Zeit auch eine Wende bei den Fluchtbewegungen bringen.

Wird Syriens Präsident Assad nach seinem Erfolg gegen IS in Palmyra doch noch zum Partner des Westens?

Wenn die Waffenruhe dazu beiträgt, dass sich Assads Truppen nun ernsthaft dem Kampf gegen die Terrormilizen von IS widmen statt gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen, dann ist das gut, aber es ersetzt nicht eine politische Lösung des Syrien-Konflikts. Im Gegenteil: Es zeigt, wie wichtig eine politische Verständigung auch für einen nachhaltigen Erfolg gegen den Terror ist. Wie eine zukünftige Regierung Syriens aussehen soll, darüber müssen die Syrer sich nun in Genf am Verhandlungstisch einigen. Ich glaube nicht, dass Assad derjenige ist, der nach fünf Jahren Krieg und Hunderttausenden Toten Syrien wirklich zu Versöhnung und Stabilität führen kann.

Das Interview führte Karsten Kammholz. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Heilbronner Stimme.

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