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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Gedenkveranstaltung für die Seeschlacht am Skagerrak in Kiel/Laboe

31.05.2016 - Rede

--- es gilt das gesprochene Wort ---

Eure Königliche Hoheit,
lieber Markus Meckel,
sehr geehrter Herr Held,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

nicht weit von hier liegt der Kieler Nordfriedhof. Mehr als 3.000 Soldatengräber findet man dort, darunter auch unzählige von britischen Soldaten. Wo sonst, wenn nicht auf einem Soldatenfriedhof, wird das unvorstellbare Leid des Krieges zumindest ansatzweise begreifbar? Wo sonst, wenn nicht am Grab eines gefallenen Soldaten, verwandeln sich abstrakte Opferzahlen in die vielen berührenden Einzelschicksale von Millionen Menschen, die in zwei Weltkriegen ihr Leben lassen mussten?

Und auch hier am Marine-Ehrenmal in Laboe spüren wir diese innere Beklemmung, wenn uns eine der furchtbarsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts ganz nahe kommt. Wir halten inne, wenn wir das Läuten der Schiffsglocke des deutschen Schlachtkreuzers Seydlitz hören, der vor 100 Jahren in der größten Seeschlacht aller Zeiten mitkämpfte. Nun hängt die Glocke hier am Eingang zum Turm des Ehrenmals. Jedes Läuten erinnert uns an die mehr als 6.000 britischen und fast 3.000 deutschen Matrosen, die in der Schlacht am Skagerrak ihr Leben verloren haben. Im Gedenken an die Toten sind 850 Holzkreuze errichtet worden.

An Orten wie diesen ist es stets dieselbe Frage, die uns nicht loslässt: Wie konnte das geschehen? Eine befriedigende Antwort zu geben, ist auch heute noch sehr schwer. Vielleicht gelingt es uns, wenn wir uns daran zurückerinnern, wie Zeitzeugen damals den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebt haben.

Einer von ihnen war Harry Graf Kessler. Ende Juli 1914 hielt er sich für ein Theaterprojekt in London auf: Gemeinsam mit seinem Freund Auguste Rodin war er beteiligt an einer Inszenierung der Ballets Russes. Ein britisch-französisch-russisch-deutsches Kunstprojekt.

Für den europäischen Charakter ihrer Arbeit hatten die Künstler im Jahr 1914 jedoch kaum einen Sinn. Für sie war das, was sie taten, ganz selbstverständlich. Bei aller im Zeitgeist liegenden Überbetonung des Nationalen waren sie sich damals über ihr gemeinsames europäisches Fundament einig.

Als Kessler und Rodin sich trennten, verabredeten sie gleich das nächste Treffen – mehr als drei Wochen nach den Schüssen von Sarajewo. Für sie war es damals schlicht nicht vorstellbar, dass es wirklich zu einem Krieg in der Mitte Europas kommen könnte.

Doch die Wirklichkeit schrieb eine andere Geschichte: Wenige Tage später wurde aus dem Künstler ein Soldat. Kessler fand sich als treuer Offizier des Kaiserreichs bei den deutschen Truppen in Belgien wieder. Er tat damit, wie es in der Sprache der Zeit hieß, seine Pflicht. Deutschland hatte die Neutralität des kleineren Nachbarn Belgien mit Füßen getreten. Der ganze Zynismus des „Rechts des Stärkeren“ wurde damit bereits am ersten Kriegstag schonungslos offenbart.

Mit dem Angriff auf Belgien im August 1914 zog die kaiserliche Regierung auch Großbritannien unweigerlich in das Kriegsgeschehen mit hinein. Großbritannien war Belgien völkerrechtlich zum Beistand verpflichtet. In Europa, so die berühmten Worte von Außenminister Lord Grey, gingen in diesen Tagen die Lichter aus.

Was nun folgte, zählt zu den dunkelsten Stunden der Menschheitsgeschichte. Es waren die unvorstellbaren Schrecken des ersten industrialisierten Krieges mit ihren unermesslichen Opfern. Und nur weil die deutschen Nationalsozialisten 25 Jahre später einen noch viel grausameren Krieg entfesselten, darf doch nicht in Vergessenheit geraten, was in den Jahren von 1914 bis 1918 geschah.

Noch einmal: Wie konnte das geschehen? Heute kennen wir Antworten, wenn auch sicher nicht alle. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler bringt es in seinem Buch über den „Großen Krieg“ treffend auf den Punkt: „Der Erste Weltkrieg ist ein Kompendium für das, was alles falsch gemacht werden kann.“

Es gab ein Versagen der Politik, die einer blinden militärischen Logik den Vortritt ließ. Erinnern wir uns an den Bau der deutschen Hochseeflotte in den Vorkriegsjahren: Großbritannien empfand schon die bloße Existenz der deutschen Flotte als militärische Provokation. Und doch erwies sich diese im Krieg für die deutsche Seite letztlich als völlig nutzlos.

Denn wenn sie militärisch auch stark genug war, die Schlacht am Skagerrak nicht zu verlieren, so war sie doch bei weitem nicht in der Lage, einen Waffenstillstand oder gar einen Frieden zu erreichen. Dafür hätte es ganz anderer, nämlich politischer Mittel bedurft. Ganz besonders tragisch empfinde ich es daher, wie sinnlos und absurd das Opfer der Matrosen in der Schlacht am Skagerrak war.

Doch nicht nur in der deutschen Marinepolitik, sondern weit darüber hinaus verharrte man in Europa in den Verhaltensmustern des 19. Jahrhunderts – nur mit den moderneren, noch brutaleren Waffen des 20. Jahrhunderts.

Statt den Konflikt zu entschärfen und neues Vertrauen zu schaffen, folgte man einer politischen Un-Kultur der Provokation. Vermeintliche nationale Interessen sollten um jeden Preis durchgesetzt werden. Politisches Bewusstsein für die Risiken und Folgen des eigenen Handelns war faktisch nicht vorhanden – bis es schließlich zu spät war. Der ehemalige französische Außenminister Laurent Fabius beschrieb es so: „Damals hat man den Krieg nicht genug gefürchtet.“ Und nicht zuletzt darin liegt ein wesentliches Versagen der Diplomatie vor und im Ersten Weltkrieg.

Heute ist das anders. Zumindest in Europa. Mit der Distanz von hundert Jahren erkennt man manchmal kaum noch eine Parallele zwischen dem Europa von 1916 und der Europäischen Union des Jahres 2016. An die Stelle des fragilen Gleichgewichts der Mächte von damals ist heute eine europäische Rechts- und Wertegemeinschaft getreten.

In Europa regiert glücklicherweise nicht mehr das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts. Heute zielen wir nicht mehr mit Waffen aufeinander, sondern wir verhandeln in den Brüsseler Verhandlungsräumen über politische Kompromisse – manchmal hart, aber stets gemäß den Regeln, die wir miteinander vereinbart haben. Die EU ist das erfolgreichste Friedens- und Demokratieprojekt der Welt. Dafür hat sie im Jahr 2012 auch zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten.

Natürlich zeigen der Umgang mit der Flüchtlingsfrage, soziale und wirtschaftliche Verwerfungen und manchmal bürokratische Übertreibungen: Auch heute ist in Europa bei weitem nicht alles perfekt. Nein, ganz im Gegenteil. Europa besser zu machen, bleibt eine dauernde Aufgabe für uns alle.

Darum ist das Gespräch, darum ist auch der Streit über Europas Zukunft so wichtig – das gilt ganz besonders mit unseren britischen Partnern und Freunden. Europa braucht Großbritannien! Großbritannien braucht aber auch die EU. Und wir wünschen uns, dass wir trotz aller gelegentlichen Gegensätze beieinander bleiben.

Eure Königliche Hoheit,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

fast zeitgleich zu unserer Veranstaltung hier in Laboe findet auf den Orkney-Inseln ein feierlicher Gedenkgottesdienst mit Bundespräsident Gauck und dem Herzog von Edinburgh statt. Bereits vorgestern wurde in Wilhelmshaven, dem Heimathafen der deutschen Hochseeflotte von 1916, der Schlacht am Skagerrak gemeinsam mit britischen Vertretern gedacht. Am vergangenen Sonntag kamen wir in Verdun zusammen nicht nur, um an furchtbare Kriegsgräuel und 300.000 Tote zu erinnern. Wir bekräftigten abermals unser Versprechen, stets für ein vereintes Europa und eine friedlichere Welt einzutreten. An vielen Orten Europas wird also in diesen Tagen die Erinnerung lebendig. Dafür sollten wir dankbar sein.

Dieses Gedenken vereint uns in Trauer. Aber unsere Erinnerung zeugt zugleich auch von Hoffnung. Denn wir haben aus den tragischen Seiten und Abgründen unserer gemeinsamen Geschichte gelernt. Ja, das hat lange gedauert und war nicht frei von Rückschlägen. Aber hundert Jahre später dürfen wir feststellen: aus Feinden wurden Partner, ja Freunde. Vereint in Europa. Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft des heutigen Tages.

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