Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

„Der Glaube an eine bessere Welt kann Berge versetzen, aber nur die Vernunft kann uns vor gefährlichen Irrwegen bewahren“

05.11.2016 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Bedeutung der „Kraft des Faktischen“ für die demokratische Gesellschaft. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (05.11.2016).


Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Bedeutung der „Kraft des Faktischen“ für die demokratische Gesellschaft. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (05.11.2016).

***

„Interessiert sich noch jemand für die Wahrheit?“ So titelte eine deutsche Zeitung über den US-Präsidentschaftswahlkampf und diagnostizierte einen „Virus des Absurden“. In der Tat lässt einen die Chuzpe, ja die Ruchlosigkeit fast sprachlos zurück, mit der im grellen Licht der Öffentlichkeit Fakten verbogen und abgestritten, Expertenwissen diskreditiert, ja wie schlicht gelogen wird, im Westen genauso wie im Osten, und auch jenseits des Ärmelkanals. Auch hierzulande lässt sich eine immer aggressivere Abneigung gegen Fakten beobachten. Die Wahrheit wird nicht mehr nur absichtlich verfälscht, viel schlimmer: sie scheint gar nicht mehr zu zählen.

Über „Wahrheit und Lüge in der Politik“ schrieb Hannah Arendt schon vor einem halben Jahrhundert. Was also ist neu? Ich sehe drei große Trends: Erstens ein Gefühl des Überwältigt-Seins angesichts der schieren Komplexität unserer vernetzten Welt. Zweitens die Schwierigkeit, die Zusammenhänge und Abwägungsprozesse dieser zusammengerückten und dadurch noch widersprüchlicher scheinenden Welt zu vermitteln. Und schließlich die dramatisch veränderte Aneignung von Information und Wissen in unserer digitalisierten Welt.

In dem Vierteljahrhundert seit der deutschen Einheit ist nicht nur Deutschland zusammengewachsen, parallel hat sich die weltweite Vernetzung der Produktions- und Wertschöpfungsketten rasant beschleunigt und viele Länder Asiens, Lateinamerikas und auch Afrikas erfasst. Der damit verbundene Prozess der „kreativen Zerstörung“ hat enormen Wohlstand geschaffen, aber auch gefährliche Blasen produziert, Ungleichheit vergrößert, auch innerhalb unserer Gesellschaften, und dramatisch augenfällig gemacht.

Die digitale Revolution, und mit ihr das Schrumpfen von Zeit und Raum, erzeugt einen nicht endenden Schwall von Informationen aus dieser neuen, schwer zu verstehenden Welt. Darauf sind wir weder intellektuell noch kulturell vorbereitet. Die Fähigkeit, sich in andere Wirklichkeiten und Wahrnehmungen hineinzudenken und einzufühlen, hält einfach nicht mehr Schritt.

Diese objektive Überforderung produziert Gegenreaktionen: Angst vor Identitätsverlust, Rückbesinnung auf Nation, Ethnie, Religion, auf das, was leichter Sicherheit und festen Boden unter den Füßen verschafft. Identität ist für den Menschen lebenswichtig, in der Entgrenzung der globalisierten Welt gewinnt sie noch an Bedeutung. Wenn sie gepaart ist mit Abgrenzung, mit Ausgrenzung, mit der Ablehnung des Fremden, erst recht mit Angst vor der Zukunft und dem Bild einer vermeintlich großartigen Vergangenheit, dann wird diese Reaktion gefährlich. Dann verliert sie den Blick für die Wirklichkeit.

Dass die Komplexität unserer Umwelt enorm gewachsen ist, erlebt auch die Außenpolitik. Unsere Fähigkeiten, diese Komplexität zu durchdringen und nicht nur kurzfristig zu reagieren, sondern vorausschauend klug zu planen, stoßen an Grenzen.

Noch schwerer fällt es uns, diese Komplexität in unseren Gesellschaften zu vermitteln. Wie soll ich die täglichen Schreckensbilder des furchtbaren Kriegs in Syrien abwägen gegen die erheblichen Fortschritte in Bildung, Gesundheit und Armutsbekämpfung in großen Teilen der Welt? Wie kann ich die unterschiedlichen Traditionen, Interessen, und Wahrnehmungen anderswo auf der Welt in Einklang bringen mit unseren Maßstäben und Werten, die wir universell verwirklicht sehen wollen - natürlich nicht irgendwann, sondern sofort?

Wenn wir vernünftige Lösungen nicht nur aushandeln, sondern auch auf gesellschaftlichen Rückhalt stützen wollen, muss es uns gelingen, die Abwägungsprozesse der Diplomatie anschaulich und glaubwürdig zu kommunizieren.

Das Internet verschafft uns Zugang zu einer nie gekannten Fülle von Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen. Aber die Flut an Informationen dürfen wir nicht mit Wissen verwechseln, schon gar nicht mit Weisheit. Wissen braucht nachprüfbare Fakten und gesicherte Zusammenhänge. Weisheit braucht Erfahrung und Urteilskraft. In den sozialen Medien liefert uns die Informationsmaschine Internet tagtäglich das Gegenteil. Sich selbst bestätigende Online-Gemeinschaften nehmen nur noch auf, was sie ohnehin schon zu wissen glauben. ‚Gefühlte Wahrheiten‘ treten an die Stelle von überprüften Fakten.

Häme, Hass und Härte in den sozialen Medien gehen an unserer Gesellschaft nicht spurlos vorüber: Menschen setzen ihre Ansichten mehr und mehr absolut, blenden Zweifel aus und halten auch gröbste Vereinfachungen wieder für wahr. Und dann sorgen auch noch ausländische „Trolle“ für gezielte Desinformation, und automatisierte „Twitter-Bots“ beeinflussen millionenfach öffentliche Meinungen.

So wird es immer schwerer zu unterscheiden, was stimmt und was nicht. „Postfaktisch“ ist aber nicht nur ein flottes Label für die neueste Ausprägung der Postmoderne. Darin steckt eine tödliche Gefahr für unser politisches Gemeinwesen. Der Appell an die Kraft der Fakten ist überlebenswichtig für unsere demokratische Gesellschaft. Nur so erhalten wir unsere Fähigkeit zum produktiven, wahrheitssuchenden Dialog.

Was also können wir tun? Zunächst einmal müssen wir unsere eigenen Schwächen kennen. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann hat nachgewiesen, wie sehr wir dazu neigen, uns gut bekannte Informationen als wahr anzunehmen, sie nicht zu hinterfragen. Er nennt das „cognitive ease“. Wir müssen unser Bild immer wieder überprüfen.

Wir müssen in unsere Urteilskraft investieren, in jene Institutionen und Systeme, die in unseren Gesellschaften „Wahrheit produzieren“: Schulen, Wissenschaft, Justiz, aber auch die Medien. Wir dürfen die Komplexität nicht zu einem Holzschnitt vergröbern, sondern müssen auf Unterscheidungsfähigkeit und Genauigkeit achten.

Wir brauchen die Einsicht in die Begrenztheit unserer eigenen Möglichkeiten. Wir sind mit der Welt in all ihrer Vielfalt, aber auch ihrer Heillosigkeit stärker konfrontiert denn je. Daraus entspringt auch ein Gefühl der Hilflosigkeit im Angesicht von Leid, Armut und Gewalt, denen wir niemals genug entgegenzusetzen vermögen.

Demut ist alles andere als Resignation. Die Komplexität unserer Welt bringt neben Ungewissheit auch Fülle und Vielfalt. Wenn wir diese Komplexität richtig verstehen, können wir sie auch prägen und verändern.

Demokratien brauchen aufgeklärte und streitbare Demokraten. Bildung, gerade auch politische Bildung ist die beste Versicherung gegen Manipulation und Manipulierbarkeit. Bildung braucht Angebote, sie braucht aber auch die Anstrengungsbereitschaft des Einzelnen. Es ist eine der Versuchungen des Internets, schwer zu erwerbenden Sachverstand durch ein rasches, radikales Urteil zu ersetzen. Aber politisches Urteil und geistige Anstrengung gehören in unserer komplizierten Welt notwendig zusammen.

Der Glaube an eine bessere Welt kann Berge versetzen, aber nur die Vernunft vermag uns vor gefährlichen Irrwegen bewahren. Wir brauchen Neugier, Zuversicht und Mut, und einen genauen, prüfenden Blick, der um die Kraft und den Nutzen der Vernunft weiß, um in der Überfülle und dem Unheil unserer Welt eine gerechtere, friedlichere Zukunft zu gestalten.

Verwandte Inhalte

Schlagworte

nach oben