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„Deutschland: kein europäisches Nettozahler-, sondern ein Nettogewinner-Land“

22.03.2017 - Interview

Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (22.03.2017).

Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (22.03.2017).

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Wenn wir es ernst meinen mit unseren Treueschwüren zu Europa, dann sollten wir aufhören, uns die falschen Geschichten über Europa zu erzählen. Es sind eben nicht nur die Gegner Europas von rechts- und linksaußen, die uns weismachen wollen, dass die europäische Einigung gegen nationale Interessen gerichtet sei. Das tun in unterschiedlichsten Formen seit langem auch proeuropäische Parteien. Es gibt eben nicht erst seit dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ‚fake news‘.

In Deutschland wird von Politik, Medien und Teilen der deutschen Wirtschaft immer wieder behauptet, unser Land sei der ‚Lastesel‘ der Europäischen Union. Deutschland sei ‚Nettozahler-Land‘, das weit mehr in Europa einzahle als es jemals wieder herausbekomme. Konsequenterweise sind praktisch alle Bundesregierungen der letzten drei Jahrzehnte bei den Verhandlungen über die Finanzplanung der Europäischen Union für eine Verringerung unserer ‚Nettozahler-Position‘ eingetreten – vorzugsweise zusammen mit den euroskeptischen Briten. In den letzten Verhandlungen hat das dazu geführt, dass Mittel für die europäischen Strukturfonds gekürzt wurden und damit weniger Mittel für viele der ärmeren Regionen zur Verfügung standen. Auch für Ostdeutschland. Das wiederum wurde dann gleich wieder Europa angekreidet.

Im offiziell so europafreundlichen Deutschland wird so seit langer Zeit eine verzerrte Sichtweise Europas tief in das politische Alltagsbewusstsein eingegraben. Investitionen in Europas Zusammenhalt und Zukunft wurden zu einer Bürde für die Deutschen umdefiniert. Die rechtsradikale Übernahme dieses Narrativs lautet dann, dass angeblich der ‚Schuldkomplex Deutschlands‘ uns dazu verleite, zu viel Geld der hart arbeitenden Deutschen für die ‚faulen Europäer‘ auszugeben. Und dass wir nach Lesart von AfD-Funktionären am besten gleich die ganze Erinnerungskultur in Deutschland – gemeint ist das Erinnern an den Überfall unserer Nachbarländer im II. Weltkrieg und den Holocaust – beenden.

Die Wahrheit ist, dass Deutschland kein europäisches Nettozahler-, sondern ein Netto-Gewinner Land ist. Natürlich stellen wir mehr Steuergelder für den europäischen Haushalt zur Verfügung, als wir aus den europäischen Fördertöpfen zurückbekommen. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Rechnung: Wir exportieren fast 60 Prozent unser Waren und Dienstleistungen in die Europäische Union und nicht einmal 10 Prozent nach China (und in die USA). Millionen von Arbeitsplätzen hängen davon ab, dass es den Menschen in anderen EU-Ländern so gut geht, dass sie sich unsere Produkte leisten können – denn billig sind sie Gott sei Dank aufgrund ihrer hohen Qualität und relativ hoher Löhne ja nicht. Jeder Euro, den wir also für den EU-Haushalt zur Verfügung stellen, kommt – direkt oder indirekt – mehrfach zu uns zurück. Eine Investition in Europas Zukunft ist immer auch eine Investition in das Wohlergehen unserer eigenen Kinder und Enkel.

Auch der angebliche Souveränitätsverzicht der Nationalstaaten für den europäischen Einigungsprozess ist eine falsche Geschichte. In Wahrheit gewinnen wir Europäer durch Europa die Souveränität zurück, die wir als Nationalstaaten in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der Asien, Lateinamerika und Afrika wachsen und wir Europäer schrumpfen, gar nicht wahren könnten.

Noch so eine Geschichte: Wir haben in den letzten Jahren Partnerstaaten gedrängt, es doch bitte wie Deutschland zu machen und Sozialreformen mit dem Abbau der staatlichen Defizite zu verbinden. Die Wahrheit ist: Genau so haben wir es nicht gemacht. Sondern wir haben erst die notwendigen Reformen im Land durchgeführt – Stichwort: ‚Agenda 2010‘ von SPD-Kanzler Gerhard Schröder – und in dieser Zeit sogar mehr Schulden gemacht als die europäischen Budget-Regeln zuließen. Weil wir wussten, dass mit drastischen Einsparungen das Wirtschaftswachstum einbrechen und die Arbeitslosigkeit steigen würden. Stattdessen haben wir parallel zu den schwierigen Sozialreformen massiv investiert: in Ganztagsschulen, in erneuerbare Energie und in Forschung und Entwicklung. Im Ergebnis sind wir besser aus der Krise herausgekommen als alle anderen, und bauen heute Schulden ab und halten die europäischen Stabilitätsregeln locker ein. Warum verschleiern wir diese Erfahrung und empfehlen unseren Nachbarn Rezepte, die spürbar zu höherer Arbeitslosigkeit und damit letztlich auch zu steigender Verschuldung führen? Im Kern muss das heißen, die Reduktion europäischer Stabilität auf eine reine Sparpolitik zu beenden. Wer sein Land reformiert, muss mehr Zeit zum Abbau der Defizite und Hilfen bei Investitionen bekommen können.

Solche falschen Geschichten gibt es natürlich nicht nur in Deutschland, sondern auch in unseren Nachbarländern, häufig über uns. Aber nicht Deutschland trägt Schuld daran, dass anderswo undurchschaubare Steuer- und Justizsysteme und auch Korruption und administratives Versagen zu mangelnder Investitionsbereitschaft und damit zu geringerem Wachstum führen.

Wer Zustimmung zu Europa will, darf eben nicht die falschen Geschichten erzählen. Die größte Volkswirtschaft Europas, der bevölkerungsreichste Mitgliedsstaat und der größte Gewinner der europäischen Einigung – Deutschland – hat eine ganz besondere Verantwortung für die richtige europäische Erzählung.

Deshalb ist es wichtig, mit falschen Narrativen zu brechen. Deutschland kann das tun. Es sind netto 14-15 Milliarden Euro, um die unsere Zahlungen in den Haushalt die direkten Rückflüsse im Schnitt pro Jahr übersteigen. Viel Geld, kein Zweifel. Aber wer sich die Ausgabepositionen des Bundeshaushaltes anschaut, wird schnell feststellen, dass eine solche Summe vergleichsweise keine überragende Bedeutung für uns hat. Jedenfalls dann nicht, wenn man die großen Sonntagsreden über die Bedeutung Europas dazu mal ins Verhältnis setzt. Und pro Kopf zahlen einige Partner zum Teil deutlich mehr ein, wie die Schweden und die Niederländer.

Wie wäre es also, wenn wir bei der nächsten Debatte über Europas Finanzen etwas ganz „Unerhörtes“ tun? Statt für eine Verringerung unserer Zahlungen an die Europäische Union zu kämpfen, die Bereitschaft zu signalisieren, sogar mehr zu zahlen. In Europa zu investieren, weil es eine Investition in die eigene Zukunft und die unserer Kinder und Enkel ist. Denn wir werden in der Welt von morgen nur dann eine Stimme haben, wenn es eine gemeinsame europäische Stimme gibt.

Massiv in Europa zu investieren, also in Bildung, Forschung und Entwicklung, in die modernste digitale Infrastruktur der Welt und in Wachstum und Arbeitsplätze wäre etwas, was der Rest Europas von der deutschen Politik seit langem nicht gehört hat. Und wir würden dann übrigens auch über Bedingungen reden, unter denen wir unsere Investitionen in Europa erhöhen könnten: Es geht ja gerade nicht um „mehr vom gleichen Europa“, sondern um ein besseres, ein stärkeres Europa. Mit einer gemeinsamen Außenpolitik, einer gemeinsamer Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, europäischem Grenzschutz und einem Binnenmarkt, der zu einer sozialen Marktwirtschaft wird. Und auch über eine andere Steuerpolitik muss geredet werden. Es kann nicht sein, dass jeder Bäckermeister höhere Steuersätze zu zahlen hat als Konzerne wie Starbucks, Amazon oder Apple. Nur weil in Europa Steuerdumping auf legale Weise erfolgen kann. Last, but beileibe not least: Natürlich muss finanzielle Solidarität in Europa mit politischer Solidarität für Europa und unsere gemeinsamen Werte einhergehen.

Narrative machen Politik, Politik macht Narrative. Ich will dafür kämpfen, dass es die richtigen Narrative für unser Europa sind, und keine ‚fake news‘.

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