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„Die Außengrenzen müssen funktionieren“

06.11.2015 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung zur Flüchtlingskrise sowie zur Situation in Syrien und zum Verhältnis zu Russland. Erschienen am 06.11.2015.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung zur Flüchtlingskrise sowie zur Situation in Syrien und zum Verhältnis zu Russland. Erschienen am 06.11.2015.

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Die Türkei nimmt in der Flüchtlingskrise eine zentrale Rolle ein. Teilen Sie die Sorge, dass nach dem klaren Wahlsieg der AKP die autoritären Tendenzen in dem Land noch stärker zunehmen werden?

Zunächst stellen wir fest, dass die Wahl überraschend eindeutig zugunsten der AKP und damit zugunsten von Präsident Erdogan ausgefallen ist. Die Meinungsumfragen sahen anders aus. Die absolute Mehrheit für die AKP bringt gleichzeitig eine große Verantwortung für die neue Regierung mit sich. Wir sollten realistisch sein. Dass sich die Konflikte und Spannungen der letzten Monate, die das Land vor eine Zerreissprobe gestellt haben, gleich auflösen, das wäre wünschenswert, ist aber eben wenig realistisch. Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass Präsident Erdogan aus einer Position der Stärke heraus jetzt ein deutliches Signal setzt, die Polarisierung zu überwinden und den Friedensprozess mit den Kurden wieder in Gang zu bringen. Das wäre auch für die Stabilität in der Region wichtig.

Was erwarten Deutschland und die EU in der Flüchtlingskrise von der Türkei?

Die Türkei ist und bleibt ein wichtiges Schlüsselland für die Zuwanderung nach Europa. Sie liegt auf der Route vieler Flüchtlinge aus Syrien, aus afrikanischen Ländern und Menschen aus Zentralasien. Ohne Vereinbarungen mit der Türkei wird sich der Flüchtlingsstrom in die EU deshalb auch nicht in geordnete Bahnen lenken und begrenzen lassen. Die EU hat einen Aktionsplan mit der Türkei vereinbart, den wir durch einen bilateralen Migrationsdialog flankieren. Fakt ist: Wir dürfen keine Zeit verlieren bei der Umsetzung der gemeinsamen Projekte.

Die Türkei verlangt Gegenleistungen. Wie stehen Sie zu den Forderungen Erdogans?

Möglicherweise haben wir es in der EU als zu selbstverständlich hingenommen, dass die Türkei schon seit Jahren mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und ihnen Schutz geboten hat. Die Türkei erwartet dafür zu Recht Anerkennung. Dabei geht es nicht nur um moralischen Zuspruch. Ich habe Verständnis dafür, dass die Türkei finanzielle Unterstützung im Gegenzug für die Zusicherung erwartet, syrische Flüchtlinge in der Nähe ihres Heimatlandes vernünftig zu versorgen.

Kann der Visumszwang für Türken gelockert oder ganz aufgehoben werden, wie es Erdogan verlangt?

Erleichterungen des Reiseverkehrs durch eine Liberalisierung der Visa-Regelungen können jedenfalls Teil eines Gesamtpaketes sein. Das gilt auch für Forderungen, neue Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der EU zu eröffnen.

Das führt automatisch zu der Frage, ob die Türkei mit ihren autoritären Tendenzen überhaupt zur EU passt.

Die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel kann dazu beitragen, dass wir mit der Türkei auch zu Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Justizverfassung wieder intensiver ins Gespräch kommen. Das kann auch in unserem Interesse sein, und im Übrigen auch im Interesse der Menschen in der Türkei, die sich eine Annäherung an Europa wünschen. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass wir die Augen verschließen vor den Defiziten, die es gibt.

Es ist einen Versuch wert, den Zustrom der Flüchtlinge mit Hilfe der Türkei zu begrenzen. Aber was geschieht, wenn dieser Versuch misslingt? Wird Deutschland seine Grenzen dann weiter für Flüchtlinge aus aller Welt offen halten?

„Alle Schleusen auf“ ist nicht die deutsche Politik. Wir haben klar gemacht, dass wir denjenigen, die wirklich unseren Schutz brauchen, auch helfen. Menschen, die keinen Anspruch auf Asyl in unserem Land haben, müssen dagegen Deutschland auch wieder verlassen. Wofür wir unbedingt sorgen müssen, ist dass die EU-Außengrenzen wieder funktionieren. Die Lösung kann doch nicht darin bestehen, dass Mauern an den Grenzen zu Österreich oder der Schweiz hochgezogen werden. Die Wahrheit ist, dass es für dieses Problem keine einfachen Lösungen gibt. Wer den Menschen etwas anderes erzählt, ist unehrlich.

Welche Lösungen gibt es denn außer einer möglichen Übereinkunft mit der Türkei?

Wir müssen Verschiedenes gleichzeitig anpacken. Auf nationaler Ebene haben wir Gesetze verabschiedet, um Asylverfahren zu beschleunigen und Rückführungen zu erleichtern. Auf europäischer Ebene helfen wir den Staaten an der Südgrenze, Aufnahmezentren einzurichten, in denen konsequent alle ankommenden Flüchtlinge registriert werden, was Voraussetzung für jede Form von Steuerung und Verteilung ist. Wir brauchen dringend einen dauerhaften europäischen Verteilungsschlüssel. Es kann nicht sein, dass Deutschland gemeinsam mit einer Handvoll anderer EU-Staaten das Gros der Flüchtlingsbewegung allein schultert. Und natürlich brauchen wir noch mehr gemeinsame Standards bei den Asylregeln, die von allen eingehalten werden müssen. Das Europäische Asylunterstützungsbüro EASO ist ja schon der Embryo einer europäischen Asylbehörde. Hier sollten wir mutige Schritte der Integration angehen.

Die EU strebt ein einheitliches Asylrecht an. Muss Deutschland dann Abstriche an den eigenen, sehr großzügigen Regelungen machen?

Nein - das deutsche Grundrecht auf Asyl wird bestehen bleiben. Alle EU-Länder haben die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben. Das muss der Massstab sein für eine weitere Harmonisierung des Asylrechts, die ich nachdrücklich unterstütze.

Deutschlands Umgang mit den Flüchtlingen stößt in einigen europäischen Staaten auf Unverständnis – Stichwort „moralischer Imperialismus“. Macht das Deutschland einsam in Europa und erschwert es die gewünschte europäische Solidarität? Beschädigt das auf längere Sicht das für Deutschland historisch wichtige Verhältnis zu Ostmitteleuropa?

Mit Kampfbegriffen und gegenseitigen Schuldzuweisungen kommen wir nicht weiter. Ich glaube, es wird durchaus wahrgenommen, dass sich Deutschlands Unterstützung für Flüchtlinge und unsere Solidarität mit den am meisten betroffenen Partnerstaaten nicht auf aufmunternde Worte beschränkt. Im Gegenteil: Wir haben tausende Flüchtlinge bei uns aufgenommen, wir unterstützen die von der Flüchtlingskrise betroffenen Staaten und Institutionen personell, finanziell und politisch, in dem wir uns für die Lösung von Konflikten einsetzen, die eine zentrale Quelle der Fluchtbewegung sind. Und nicht zu vergessen: zehntausende Freiwillige engagieren sich in Deutschland Tag und Nacht, um den Flüchtlingen nach ihrem Ankommen in Deutschland das Leben leichter zu machen. Aber kein Land der Welt, auch nicht Deutschland, kann die Flüchtlingskrise allein lösen. Europa als Ganzes ist gefragt. Deshalb setzen wir für eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa ein. Damit stehen wir im Übrigen alles andere als allein da. Umso mehr müssen wir Deutschen vermeiden, uns als Oberlehrer aufzuspielen – auch weil wir wissen, dass wir wirtschaftlich gerade besser dastehen als andere und uns deshalb manches leichter fällt.

Die Zahl der Flüchtlinge ist auch deshalb so hoch, weil die EU nicht in der Lage ist, ihre eigenen Außengrenzen wirksam zu kontrollieren.

Das trifft leider zu. Die Philosophie des Schengen-Raumes bestand darin, den Schutz der Binnengrenzen abzubauen, wenn der Schutz der Außengrenzen verstärkt wird. Der Abbau hat stattgefunden und die Europäer hat es gefreut. Das zweite Prinzip wurde stark vernachlässigt. Das muss sich ändern. Diesem Ziel dient auch die verabredete Aufstockung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Aber selbst wenn all dies gelingt, und wir auch mit der Türkei eine Einigung erreichen, wird sich die Krise nur dauerhaft lösen lassen, wenn wir uns nicht nur mit dem Symptomen beschäftigen. Wir müssen noch intensiver ein Kernproblem bearbeiten: den Konflikt in Syrien.

Haben Sie die Hoffnung, dass das jüngste Syrien-Treffen in Wien mehr Erfolg haben wird als die gescheiterten Konferenzen in Genf?

Immerhin gibt es zum ersten Mal Hoffnung, dass alle für eine Lösung erforderlichen Partner für die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zu gewinnen sind. Russland und die USA haben in Wien gut zusammengearbeitet. Sowohl in Washington als auch in Moskau wächst die Erkenntnis, dass man sich in Syrien gegenseitig braucht und dass Syrien kein Schauplatz einer direkten Konfrontation der Großmächte werden darf. Aber es ist auch gut, dass Iran und Saudi-Arabien in Wien zusammen am Verhandlungstisch saßen – immerhin zwei Länder, zwischen denen seit vielen Jahren diplomatische Funkstille herrschte. Von Wien ging das Signal aus, dass es so wie bisher in Syrien nicht weitergehen kann.

Welche Rolle soll Assad künftig spielen?

In Wien ist es gelungen, sich von dieser strittigen Frage nicht lähmen zu lassen und sich auf andere Themen zu konzentrieren. Wir haben uns geeinigt, dass Syrien als einheitlicher und säkularer Staat erhalten bleiben soll. Es werden lokale Waffenstillstände und ein Verfassungsprozess angestrebt, bei dem es dann auch zur Bildung einer Übergangsrats der bestehenden Regierung und der bisherigen Opposition kommen soll. An Wahlen sollen auch Exil-Syrer teilnehmen dürfen, die in ihrer Mehrheit wohl zu den Gegnern Assad gehören. Das alles ist keine Garantie dafür, dass vor Ort die Kämpfe jetzt aufhören. Doch noch vor wenigen Wochen hätte ich solche weitreichenden Vereinbarungen nicht für möglich gehalten.

Ist Russland in Syrien jetzt ein Hoffnungsträger?

Zunächst einmal hat das militärische Eingreifen Russlands den Konflikt noch komplizierter gemacht. Der russische Einfluss ist so groß, dass Lösungen nicht ohne Russland gefunden werden können. Wir brauchen Russland, um den Konflikt politisch zu entschärfen. Aber Russland braucht auch uns, um nicht in diesem syrischen Konflikt gefangen zu sein.

Welche Folgen hat diese Feststellung für das Verhältnis Deutschlands und der EU zu Russland, das durch den Ukraine-Konflikt vergiftet wurde?

Die Annexion der Krim durch Russland bleibt eine Verletzung des Völkerrechts und ist nicht geheilt. Allerdings haben sich auch im Ukraine-Konflikt Dinge verändert. Es gibt jetzt seit zehn Wochen einen Waffenstillstand, der weitgehend eingehalten wird. Fortschritte sind auch beim Abzug der leichten und schweren Waffen festzustellen. Die von den Separatisten geplanten Lokalwahlen im Donbass, die den gesamten Minsk-Prozess gefährdet hätten, wurden auf Druck Putins abgesagt. Es bleibt alles mühsam und wir sind auch hinter dem Zeitplan. Aber eine gewisse Stabilisierung wurde erreicht.

Sind die Fortschritte schon so weitgehend, dass man die Sanktionen schrittweise aufheben kann, wie es der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel verlangt?

Ich habe immer gesagt, Sanktionen sind kein Selbstzweck, sondern sollen eine Veränderung bewirken. Es wird jetzt ernsthaft an der Umsetzung von Minsk gearbeitet. Und wenn die Regionalwahlen im Donbass so stattfinden, wie es in Minsk vereinbart wurde, wären wir einen großen Schritt weiter. Daran werden am Freitag in Berlin beim Normandie-Treffen arbeiten. Es sind noch weitere dicke Bretter zu bohren. Jetzt kommt es darauf an, dass beide, Moskau und Kiew, weiter die Umsetzung von Minsk vorantreiben. Wir müssen sehen, wo wir stehen, wenn das Thema Sanktionen wieder auf der Tagesordnung steht.

www.nzz.ch

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