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Rede von Außenminister Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, Abgeordnetenhaus von Berlin

02.05.2015 - Rede

--- Es gilt das gesprochene Wort ---

Herr Präsident,

Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete!

Herr Regierender Bürgermeister,

lieber Michael,

verehrte Senatorinnen und Senatoren!

Exzellenzen,

Mitglieder des diplomatischen Corps!

Liebe Gäste, meine Damen und Herren!

Frühling in Berlin!

„Es ist ein wunderschöner Tag, die Sonne strahlt am blauen Himmel, man riecht den Frühling.“ So beschreibt der Zeitzeuge Arno Kiehl Berlin am 2. Mai 1945.

Der Himmel war blau – und was war unter diesem Himmel?

Der Große Tiergarten ist ein Schlachtfeld. Sogar zwischen den Bäumen der einstigen Oase der Berliner hat der Kampf gewütet. Jetzt ist der Reichstag eingenommen.

Der junge sowjetische Soldat Ivan Aleksandrov meißelt mit einem kleinen Hämmerchen seinen Namen ins Mauerwerk. Wenige Meter entfernt, vor dem ausgebrannten Hotel Adlon, lagern Hunderte verwundeter Soldaten auf dem Mittelstreifen von Unter den Linden. Auf dem einstigen Prachtboulevard wird ein Notlazarett errichtet. Für viele kommt die Hilfe zu spät.

Etwas weiter, am Ufer der Spree: In den Ruinen des Monbijou-Schlosses versteckt sich, halb verhungert, eine Gruppe von Jugendlichen. Sie wollen nicht verheizt werden im sinnlosen, menschenverachtenden „Volkssturm“ Hitlers. Und doch wissen sie: Bis zuletzt –schon während die sowjetischen Maschinengewehre in den Straßenschluchten krachten– haben SS-Schergen ihre eigenen Landsleute ermordet, die dem zynischen „letzten Aufgebot“ entrinnen wollten. Jetzt ist es still, die Granaten explodieren nicht mehr. Die jungen Männer stecken die Köpfe hervor: Ist es sicher, sich wieder herauszuwagen? Ihr Blick schweift über die Spree in Richtung Schlossplatz. Trümmer, soweit ihr Auge reicht.

Berlin, am 2. Mai 1945!

***

70 Jahre später: Es ist der 2. Mai 2015. Wieder Frühling in Berlin. Wieder blauer Himmel. Heute morgen zumindest…

Der Tiergarten steht in frischem Laub. Die Kirschbäume blühen. Am Rande des Parks diskutiert eine bunt gemischte Jugendgruppe aus aller Herren Länder über ihre Berliner Entdeckungen. Sie essen ihr Picknick und sitzen auf großen grauen Betonblöcken, den Stelen des Holocaust-Mahnmals. Und so fällt ihr Gespräch auch auf Deutschland und seine Geschichte.

Nebenan der Reichstag. Irgendwo im Mauerwerk ist immer noch Ivan Aleksandrovs Name zu finden. Im Deutschen Historischen Museum können Sie derzeit sogar seinen Hammer und Meißel ansehen. Doch über diesen Reichstagsmauern beugen sich jetzt Besucher aus Nah und Fern über das Glas der Kuppel und schauen hinunter in die Herzkammer der deutschen Demokratie.

Und am Ufer der Spree – dort, wo die jungen Leute sich versteckt hatten, wird jetzt in den Mai getanzt. Bunte Lichterketten, ein Biergarten und ein hölzerner Tanzboden direkt am Wasser. Eine Besuchergruppe aus Argentinien staunt im Vorbeigehen: Die Deutschen können Tango tanzen?

Und dann lassen auch sie den Blick über den Fluss schweifen und sehen, gleich hinter den prächtigen Insel-Museen, die Kräne auf dem Schlossplatz. Hier entsteht das Humboldt-Forum – ein Ort, wo die Welt mit ihren Menschen, ihrem Wissen, ihren Kulturen zusammenkommen und verschmelzen wird.

***

Meine Damen und Herren,

stellen Sie sich vor, das wären zwei Fotoalben! „Berliner Frühling 1945“ und „Berliner Frühling 2015“. Diese beiden Alben liegen vor Ihnen – Ist es nicht beinahe unglaublich, dass wir es mit derselben Stadt zu tun haben!

In einem Menschenleben ist das geschehen: von der totalen Verwüstung, die Deutschland über sich selbst und über die Welt gebracht hat, zu einer weltoffenen, attraktiven, pulsierenden Hauptstadt!

In einem Menschenleben ist das geschehen, und einige sind heute unter uns, die all das selbst durchlebt haben. Liebe Zeitzeugen: Wir freuen uns, dass Sie heute gekommen sind. Ihre Anwesenheit ist uns, den Nachgeborenen, so unendlich wertvoll und wir heißen Sie besonders herzlich in unserer Mitte willkommen!

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Wenn ich diese beiden Fotoalben vor mir sehe, 1945 und 2015, und auf die erstaunliche Entwicklung blicke, die diese Stadt genommen hat, dann spüre ich zweierlei. Große Freude. Und tiefe Dankbarkeit.

Und dann frage ich mich: Was alles ist geschehen, dass es so werden konnte? Was ist geschehen zwischen diesen beiden Momentaufnahmen und was bedeutet es für die Rolle, die diese Stadt, die dieses Land heute zu erfüllen hat?

Zuallererst gilt ganz ohne Zweifel das, was Michael Müller bereits betont hat: Das Kriegsende, der 2. Mai am Schulenburgring und schließlich der 8. Mai in Karlshorst, war für Deutschland eine Befreiung! Auch wenn es lange gedauert hat, bis das der Selbstwahrnehmung der Mehrheit in Deutschland entsprach. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ hat Ingeborg Bachmann geschrieben. Richard von Weizsäcker hat sie den Deutschen zugemutet! Und damit hat sein Wort von der Befreiung selbst befreiend gewirkt für unser Land.

Doch diese Befreiung, von der Weizsäcker sprach, war eben nicht nur die Befreiung von etwas – von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft– sondern sie war zugleich eine Befreiung zu etwas. Indem wir befreit wurden von Rassenwahn und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, vom dunkelsten Irrweg unserer Geschichte, wurden wir befreit zu ‚mehr Licht‘ auf unserem Weg nach vorn; zu Wachsamkeit und zur Selbstverpflichtung für diejenigen menschlichen und politischen Prinzipien, die Deutschland auf so beispiellose Art und Weise geschändet hatte.

In unserer Befreiung also liegt zugleich unsere Verantwortung – die Verantwortung des „Nie wieder“!

In diesen zwei Worten ist verdichtet, was Schuld, Aufgabe und Verantwortung für uns Deutsche heute bedeuten - eingeschlossen darin, die Erfahrung einer schrecklichen Vergangenheit als Mahnung an künftige Generationen weiterzugeben und denen entgegenzutreten, die sie ignorieren. Nie wieder darf Rassenhass und Hass gegen Minderheiten Platz finden in unserer Gesellschaft!

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Von Deutschland ist das Leid des nationalsozialistischen Terrors wie das des Krieges ausgegangen: all die Toten, die Vertreibungen und das beispiellose Menschheitsverbrechen der Shoah. Und ausgerechnet diesem Land ist es vergönnt gewesen, über die letzten sieben Jahrzehnte hinweg, langsam und schrittweise wieder hineinzuwachsen in die internationale Gemeinschaft der Völker und ins Herz des vereinten Europas.

Kein Ort verkörpert diese glückliche Entwicklung so bildhaft wie die Weltstadt Berlin heute, im Jahr 2015. Eine Entwicklung, für die wir zutiefst dankbar sein dürfen. Denn sie ist uns auch deshalb vergönnt gewesen, weil viele Opfer dem Land der Täter die Hand gereicht haben. Wir leben heute in Freundschaft mit unseren Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegnern. Diese Freundschaft gilt es zu fördern und zu bewahren! Keiner hat uns daran so erinnert wie der große Deutsche, der diese Stadt und unser Land so tief geprägt hat: Willy Brandt. Nichts hat seine Mahnung an Gültigkeit verloren.

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Eine Freundschaft ist in besonderer Weise Ausdruck dieser glücklichen Entwicklung, sie ist im Grunde fast ein Wunder – die Freundschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel. In wenigen Tagen begehen wir das 50. Jubiläum der diplomatischen Beziehungen unser beiden Staaten – und das ist guter Anlass, sich des Wunders dieser Freundschaft neu zu vergewissern. Nach den beispiellosen Verbrechen der Shoah, die Sie und Ihre Familien, verehrte Frau Deutschkron, Frau Friedlaender und Frau Mann, hier in Ihrer Heimatstadt Berlin am eigenen Leibe erleiden mussten, nach der systematischen Vernichtung allen jüdischen Lebens, sehen wir heute das Wunder auch in unserer Stadt: Jüdisches Leben blüht wieder auf! Viele junge Israelis kommen jedes Jahr nach Berlin, es gibt jüdische Theater, Festivals, Synagogen, Kulturzentren – sogar ordentliche Bagels kriegt man heute in Berlin, sagen manche… Blühen kann jüdisches Leben wieder in Berlin, verehrte Frau Deutschkron, Frau Friedlaender und Frau Mann, weil Sie uns neues Vertrauen geschenkt haben. Das ist uns bewusst! Und es ist uns Verpflichtung, zu pflegen und zu wahren, was neu gewachsen ist, und unsere Stimme zu erheben gegen jede Form von Antisemitismus in unserem Land!

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Es erfüllt mich mit Demut und mit Dankbarkeit, dass wir Deutsche an einem Tag wie heute nicht allein sind in unserem Gedenken. Sondern wir gedenken gemeinsam mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Gemeinsam mit jenen Ländern, denen Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft unsägliches Leid zufügt hat und die in der Befreiung Europas bis in die letzten Kriegstage hinein große Opfer gebracht haben. Erst vor drei Tagen haben wir auf dem großen Friedhof von Halbe vor den Toren der Stadt weitere 120 Tote bestattet, darunter auch sowjetische Soldaten, die noch ihr Leben lassen mussten, kurz bevor das große Morden endlich zu Ende ging!

Wenn ich in diese Runde schaue, wenn ich den Botschafter der USA, den Botschafter Russlands, die Vertreter unserer europäischen Freunde, und die Vertreter unserer Partner in der ganzen Welt in unserer Mitte begrüßen darf: Dann weiß ich, dass das „Nie wieder“ für uns Deutsche auch bedeutet: „Nie wieder allein“!

Exzellenzen, Vertreter und Gäste aus aller Welt: Die Hand, die Sie und Ihre Heimatländer uns Deutschen gereicht haben – die lassen wir nicht mehr los!

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„Nie wieder allein“ – Das ist für mich als deutscher Außenminister nicht nur eine Mahnung unserer Geschichte, sondern zugleich ein Aufruf für die Zukunft. Es ist der Aufruf an deutsche Außenpolitik, uns zu engagieren für Verständigung zwischen den Völkern, für politische Lösungen in Konflikten und den Erhalt von friedenssichernden Strukturen.

Gerade Deutschland, dessen entfesselter Nationalismus die Welt ins Unheil gestürzt hat, gerade Deutschland, das seither behutsam und schrittweise wieder eingebunden wurde in die europäische und internationale Friedensordnung – gerade wir müssen heute -vielleicht mehr als andere- Verantwortung übernehmen für den Erhalt einer internationalen Ordnung. Einer Ordnung, die Frieden sichert, die aber unter unter Druck gerät in dieser Welt voller Konflikte und Gegensätze; einer Welt, die in diesen Monaten geradezu aus den Fugen zu geraten scheint.

Und wo sonst in Deutschland wird Verständigung so alltäglich erprobt, werden Gegensätze überwunden und neue Ideen und Spielregeln für das globale Zusammenleben entwickelt wie hier in Berlin?! Berlin, Weltstadt und Hauptstadt zugleich. Eine Stadt, die Menschen aus aller Welt anzieht und zugleich ihre eigenen Bewohner zur Begegnung mit der Welt herausfordert. Eine Stadt, in der Erinnerungskultur genauso zum Alltag gehört wie Arbeit an der Zukunft.

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Meine Damen und Herren,

so vielschichtig diese Stadt, so vielschichtig ist die Erinnerung an einem Tag wie heute.

Wir trauern um die Verstorbenen, die Opfer in Berlin und alle Opfer jenes Krieges, der von hier in alle Welt ausgegangen ist.

Wir würdigen die, die als Zeitzeugen unter uns sind und uns an die Hand nehmen.

Wir sind dankbar, dass wir gemeinsam mit denen gedenken dürfen, die aus Gegnern zu Freunden geworden sind.

Wir vergewissern uns unserer Verantwortung für das „Nie wieder“, für Frieden und Verständigung in dieser viel zu oft so unfriedlichen Welt.

Und indem wir des dunkelsten Kapitels in der Geschichte Berlins gedenken, schöpfen wir Kraft und Zuversicht für eine friedlichere Zukunft, wie Oskar Maria Graf sie am Kriegsende in Versen zu fassen suchte:

„Das Ende brach zusammen hinter mir,

Anfang hat morgenfrisch die Tore aufgetan.

Der Boden unter meinen Füßen klingt,

und hoffend straffen sich die Schritte.“

Vielen Dank.

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