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„Einen Unterschied machen in einer oft unruhigen Welt“

02.10.2015 - Interview

Namensartikel von Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die deutsche Außenpolitik anlässlich des Tags der Deutschen Einheit. Erschienen in der Sonderausgabe „The Berlin Times in cooperation with DIE WELT“ (02.10.2015)

Machten tektonische Platten Geräusche wenn sie sich verschieben, wäre der Lärm in Europa in den Jahren 1989 und 1990 ohrenbetäubend gewesen. In diesen Jahren verschoben sich zwar nicht die Erdplatten, aber die Weltordnung geriet kräftig aus den Fugen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten löste ein Beben aus, das weltweit Risse in das Mauerwerk des Kalten Krieges zeichnete. Mit der Frage der deutschen Wiedervereinigung ging es um nichts weniger, als um die Entwicklung „einer neuen Architektur für ein neues Zeitalter“, wie der amerikanische Außenminister James Baker es Ende 1989 in Berlin ausdrückte.

Viele in Westeuropa sahen der Wiederentstehung Deutschlands auf der Bruchlinie des Kalten Krieges mit Skepsis entgegen. Dennoch unterzeichneten am 12. September vor 25 Jahren Frankreich, Großbritannien, die USA und die Sowjetunion gemeinsam mit den beiden deutschen Staaten den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Dass sie damit dem wiedervereinigten Deutschland seine volle außenpolitische Souveränität zurückgaben, kam einem ordentlichen Vertrauensvorschuss in die neu entstehende gesamtdeutsche Außenpolitik gleich. Seinen Platz hat Deutschland seither gesichert und ausgebaut: Allen Sorgen zum Trotz ruht es weiterhin fest verankert in der Europäischen Union und der transatlantischen Partnerschaft. Wie kein zweites Land hat es dabei vom Wandel der letzten Jahrzehnte profitiert, allen voran von der politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas. Diese hat für unser Land zu einem zuvor ungekannten und nur wenigen anderen vergönnten Maß an Sicherheit, Freiheit und Wohlstand geführt.

Darüber haben wir vielleicht vorübergehend überhört, dass die Welt nicht zur Ruhe gekommen war. Das viel zitierte „Ende der Geschichte“ ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Das Ächzen und Stöhnen der tektonischen Platten der Weltpolitik ist immer noch deutlich zu vernehmen, sie sind heute stärker in Bewegung als je zuvor. Ganz unterschiedliche Entwicklungen, die 1990 vielleicht zu erahnen, nicht aber abzusehen waren, treiben diese weltpolitischen Umwälzungen voran: die Globalisierung und die damit verbundene Vernetzung, Digitalisierung und wirtschaftliche Beschleunigung, der Aufstieg ambitionierter Spieler wie China und Indien, der Einfluss nicht-staatlicher aber weltweit agierender Akteure wie Großkonzerne und Terrorgruppen, religiöser Fundamentalismus, Klimawandel und jetzt gerade ganz akut eine Migration historischer Dimension – die Liste ist lang und unübersichtlich. Und immer neue Eruptionen erschüttern den Globus: der Bürgerkrieg in Syrien, der islamistische Terror im Irak, der Zerfall Libyens und des Jemens, der Ukrainekonflikt. Allmählich wird uns immer klarer, dass sie immer noch zu den Folgen zählen, die der Einsturz der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges verursacht hat. Sie Nachbeben zu nennen, würde zwar ins Bild passen, der Dramatik der täglichen Krisen aber nicht gerecht werden.

Eine besonders heftige Eruption erschüttert Europa mit der großen Flüchtlingswelle, die in diesem Sommer auch Deutschland mit voller Wucht erreicht hat. Die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland ist beeindruckend – dennoch fragen sie sich bei aller Solidarität zu Recht, was zu tun ist, um diese Aufgabe auch auf lange Sicht bewältigen zu können. Klar ist: Europa muss schutzbedürftigen Flüchtlingen Schutz gewähren, ganz gleich in welchem Land sie ankommen. Klar ist aber auch: Kein Land allein kann das schaffen. Wir stehen hier vor einer der größten Bewährungsproben für Europa.

Die Flüchtlingskrise und ihre Ursachen sind nur ein Beispiel unter vielen Fragen, zu deren Beantwortung internationale Partner heute vom wohlhabenden und starken Deutschland zu Recht einen Beitrag erwarten. Deutschland ist schlicht zu groß geworden, um sich weg zu ducken, und zu sehr vernetzt mit der Welt, um sich herauszuhalten. Diesem Anspruch stellen wir uns mit konkreten Beiträgen – beispielsweise mit der Übernahme des Vorsitzes im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in diesem und des Vorsitzes in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im nächsten Jahr. Wer hätte auch ein größeres Interesse an einer stabilen und friedlichen Entfaltung der Weltpolitik als Deutschland? Kaum ein zweites Land ist weltweit wirtschaftlich, menschlich und kulturell derart vernetzt und in seiner wirtschaftlichen und politischen Stabilität derart abhängig von funktionierenden internationalen Spielregeln.

Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und durch die Ereignisse im Osten der Ukraine sind diese Spielregeln stark in Frage gestellt worden. Europas Friedensordnung stand auf der Kippe. Wir haben uns von Anfang an trotz aller Rückschläge und großem Gegenwind für eine Entschärfung des Konflikts eingesetzt. Wir sind noch lange nicht über den Berg. Noch immer wird in der Ostukraine gekämpft, noch immer sterben Menschen. Das Minsker Abkommen ist deshalb kein Allheilmittel, und bei weitem nicht perfekt. Es bietet aber zumindest einen Rahmen für direkte Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien. Deutschland wird sich gemeinsam mit Frankreich auch in Zukunft für eine stabile, friedliche und souveräne Ukraine einsetzen.

Die Tatsache, dass die Welt in Bewegung bleibt, bedeutet auch, dass wir sie entsprechend unserer Vorstellungen mitgestalten können. Die erfolgreichen Atomverhandlungen mit Iran haben gezeigt, dass bei aller globalen Unübersichtlichkeit beharrliches Engagement einen greifbaren Unterschied machen kann. Das Wiener Abkommen schließt nicht nur den Griff Irans nach der Atombombe dauerhaft und nachprüfbar aus. Es kann auch einen Anstoß zu neuen Gesprächen und Anstrengungen für mehr Zusammenarbeit in der Region geben und so vielleicht auch Ansatzpunkte für die Lösung der schwierigen Lage in Syrien und im Irak aufzeigen.

Das Beispiel Iran macht auch Mut, da es demonstriert, dass Deutschland starke und verlässliche Partner hat, mit denen wir auch schwierigste Herausforderungen gemeinsam angehen können, allen voran die USA und die Europäische Union samt ihrer Mitgliedstaaten. Angesichts der Größe der globalen Gestaltungsaufgaben bleibt die EU der einzig realistische außenpolitische Rahmen, in dem wir wirklich effektiv handeln und internationale Ordnung mitgestalten können. Weder bei dem Abkommen von Wien zum iranischen Atomprogramm, noch dem von Minsk zum Ukrainekonflikt, hätte deutsche Diplomatie ohne ihre europäische Einbettung die gleiche Wirkung entfaltet. Umso wichtiger ist, dass sich deutsche Außenpolitik ihre europäische Haltung und einen „europäischen Reflex“ bewahrt.

Die Welt verändert sich rasant und wird so bald nicht zur Ruhe kommen. Daher muss sich auch die deutsche Außenpolitik ständig weiterentwickeln. Wo und wie wir Verantwortung übernehmen, müssen wir dabei immer wieder aufs Neue ergründen. Es bleibt Aufgabe deutscher Außenpolitik gemeinsam mit seinen engsten Partnern einen Unterschied in einer oft unruhigen Welt zu machen.

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