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„Konflikte lösen sich nicht über Nacht per Handauflegen“

22.08.2014 - Interview

Im Interview mit der „Sächsischen Zeitung“ spricht Außenminister Steinmeier über Grundsätze deutscher Außenpolitik sowie die Lage in Irak, Syrien und der Ukraine. Erschienen am 23.08.2014.

Im Interview mit der „Sächsischen Zeitung“ sprach Außenminister Steinmeier über Grundsätze deutscher Außenpolitik sowie die Lage in Irak, Syrien und der Ukraine. Erschienen am 23.08.2014.

Herr Minister, die Bundesregierung will die Kurden im Nord-Irak im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ mit deutschen Waffen versorgen. Wie können wir uns den Moment vorstellen, in dem Sie sagen: Wir kommen hier mit dem normalen Programm nicht mehr weiter. Mit Hilfslieferungen und Diplomatie ist es nicht getan?

Solche Entscheidungen trifft man nicht über Nacht und nicht aus Befindlichkeiten heraus, sondern auf der Basis eines Lagebildes aus dem Nordirak, das sich in den letzten Wochen dramatisch verschärft hat. Es wurde klar, dass niemand, auch nicht die für ihren Mut und ihre Kampfkraft bekannten kurdischen Streitkräfte, die terroristischen Horden des IS aufhalten konnten. Das liegt auch an der reichen Beute an schwerem militärischem Gerät, die IS in der letzten Zeit in Syrien und im Irak gemacht hatte und bei seinem Vormarsch zum Einsatz bringt. Es bestand und es besteht die Gefahr, dass IS das irakische Staatswesen hinwegfegt und im Mittleren Osten regelrecht einen Flächenbrand auslöst. Mehr noch: Mir haben die Flüchtlinge, die ich vor einer Woche in Erbil getroffen habe, von der jedes Maß überschreitenden Brutalität des Vorgehens berichtet – Menschen werden regelrecht abgeschlachtet, Frauen und Mädchen auf Sklavenmärkten verkauft.

Deswegen reicht es nicht, Zelte und Decken zu schicken?

Auf dieser Grundlage haben wir entschieden, mehr tun zu müssen als humanitäre Hilfe zu leisten. Hilfe für die Flüchtlinge ist wichtig – und wir werden sie fortsetzen –, aber sie ist nicht genug. Wir müssen den Vormarsch von IS stoppen und verhindern, dass diese Horden allergrößtes Unheil in der ganzen Region anrichten, notfalls auch mit Waffen.

In Syrien war die Lage ja vergleichbar - Zehntausende Tote, schreckliche Grausamkeiten, unendliches Leid der Zivilbevölkerung. Und trotzdem haben sich Deutschland und die internationalen Partner nicht zu einem Engagement wie jetzt im Irak entschließen können. Wird die aktuelle Entscheidung, den Kurden auch militärisch zu helfen, auch von dem schlechten Gewissen beeinflusst, in Syrien versagt zu haben?

Nein. Jeder Konflikt ist ein Fall für sich. Man muss genau hinschauen: Der Bürgerkrieg in Syrien hat sich gänzlich anders entwickelt – zunächst war es ein Konflikt zwischen dem Assad-Regime und einer demokratischen Opposition. Schnell radikalisierten sich Teile der Opposition, die daraus folgenden Zersplitterungsprozesse schritten so weit fort, dass sich schließlich eine Vielzahl von Oppositionsgruppen gegenseitig bekämpft hat –- politisch und militärisch. Insofern bestand gar nicht die Möglichkeit, ähnliche Entscheidungen zu fällen wie jetzt im Irak.

Aber im Irak ist die Lage unübersichtlich. Niemand weiß genau, wer dort in Zukunft auf wen schießt – dann aber möglicherweise mit deutschen Waffen.

Natürlich sind unsere Entscheidungen nicht ohne Risiko. Wir müssen sorgfältig und mit Augenmaß abwägen: Ich teile das Ziel, Rüstungsexporte so weit wie möglich zu beschränken. Wir dürfen aber angesichts der von IS ausgehenden großen Bedrohung für den ganzen Mittleren Osten und für die von IS verfolgten und vertriebenen Menschen nicht in schulterzuckende Gleichgültigkeit verfallen. Es besteht das Risiko, dass der Verbleib von gelieferten Waffen nicht mit letzter Sicherheit kontrollierbar sein wird, Waffen könnten auch in die falschen Hände geraten.

Und trotzdem…?

Das alles haben wir abgewogen – und in dieser völlig außergewöhnlichen Situation entschieden, aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen von der grundsätzlich richtigen restriktiven Linie für Waffenlieferungen abzuweichen. Es wäre einfach falsch, den Kurden nur anerkennend auf die Schulter zu klopfen für ihren mutigen Kampf gegen den IS zu danken. Wir müssen sie auch in die Lage versetzen, diesen Kampf erfolgreich zu führen.

Das heißt: Aus Ihrer Sicht ist das keine grundsätzliche Veränderung der deutschen Außenpolitik?

Genau. Das ist weder ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel noch eine Abkehr von einer an politischen Lösungen orientierten Außenpolitik. Es ist die richtige, aus unserer Sicht verantwortbare Entscheidung in einer akuten Bedrohungslage, die unsere Werte und Interessen unmittelbar berührt.

Aber es ist ein tiefer Einschnitt.

Ja, so wie die Entscheidungen über eine Beteiligung Deutschlands an den militärischen Konflikten auf dem Balkan 1999 und in Afghanistan 2002 – dort Ja –, im Irak 2003 – damals Nein – Wegmarken unseres außenpolitischen Reifeprozesses nach der Wiedervereinigung waren. Wir müssen lernen, mit den unvermeidlichen Widersprüchen, Risiken und Dilemmata umzugehen, die eine verantwortliche Außenpolitik in einer Welt in Unordnung zwangsläufig mit sich bringt, ohne immer gleich kategorische Antworten geben zu wollen.

Verschafft das gegenwärtige große außenpolitische Engagement Deutschland international mehr Gewicht? Ist das ein willkommener Nebeneffekt dieses intensiven Krisenmanagements?

Es ist ein Missverständnis, dass Deutschland nach einem „größeren Gewicht“ sucht. Mein Befund ist, dass wir wegen unserer wirtschaftlichen Größe und Stärke, unserer Lage im Herzen Europas und unserer außerordentlich großen politischen Stabilität auch in Krisenzeiten vielleicht mehr politisches Gewicht haben als jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten – ob wir das wollen oder nicht. Ich bin überzeugt: Es gibt 25 Jahre nach der deutschen Einheit keine deutsche Sonderrolle mehr, hinter der wir uns verstecken könnten. Wir sind Partner in Europa – mit gleichen Rechten, aber auch mit gleichen Pflichten. Von uns wird erwartet, dass wir unserer Verantwortung gerecht werden. Das versuchen wir zu tun, derzeit vornehmlich bei der Bewältigung der Ukraine-Krise, aber auch darüber hinaus.

Sie waren im Irak, am nächsten Tag Gastgeber einer Ukraine-Friedenskonferenz, dann steht wieder der Nahe Osten auf der Tagesordnung, Sie verhandeln über mögliche Waffenlieferungen, die SPD will sich alles von Ihnen erklären lassen. Und angeblich haben ja auch Spitzenpolitiker ein Familienleben. Gibt es Momente, in denen Sie sagen: Geht’s nicht auch ’ne Nummer kleiner?

Wie so viele Deutsche wünschte ich mir, dass die Zahl der Krisen geringer und dass es dort, wo Krisen herrschen, auch für uns weniger bedrohlich wäre. Aber leider ist das zurzeit nicht so. Besonders die Krise in der Ukraine – in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Osteuropa – macht mir größte Sorgen. Die deutsche Politik und der Außenminister müssen sich darum kümmern – im Augenblick mit wenig Rücksicht auf ein Privatleben.

Es könnte ja auch sein, dass Sie ein erfülltes Leben haben, weil Sie gerade jetzt wirklich gefordert sind und auch etwas gestalten können. Hat ihre Arbeit im Moment vielleicht auch eine solche, positive Seite?

Glücksgefühle habe ich gerade nicht, dazu sind die Nachrichten von den vielen Krisenherden einfach zu schlecht. Aber ich bin gerne zurückgegangen in die Außenpolitik. Leider sind wir im Augenblick weniger mit großen Gestaltungsaufgaben und fast ausschließlich mit Krisenmanagement beschäftigt. Wir müssen Schlimmeres verhüten: Alles, was wir auf den Weg bringen können, um Waffen zum Schweigen zu bringen und weitere Opfer zu vermeiden, ist wichtig. Die großen Herausforderungen für unsere außenpolitische Zukunft, wie Reformen der Europäischen Union, neue Perspektiven für das transatlantische Verhältnis, auch die Entwicklung neuer politischer Ansätze zwischen Europa und Russland – das bleibt im Augenblick bedauerlicherweise zurück.

Irak, Ukraine, Naher Osten – von anderen Krisen reden wird gar nicht – ist die Welt aus den Fugen? Oder kommt einem das im Zeiten der 24-Stunden-Liveberichte auf allen Kanälen nur so vor?

Uns sind auch entfernte Regionen der Welt durch das Internet näher gerückt. Der tägliche Blick auf die Online-Seiten und die ständig aktualisierten Nachrichten liefern im Minutentakt die Bilder von Krieg, Schrecken und Grausamkeiten auf unsere Bildschirme und in unsere Wohnzimmer. Der Nahe Osten, der Gaza-Krieg, die Krisen im Mittleren Osten, die Kriege in Afrika, vor allem aber der Konflikt in der Ukraine – ich verstehe, dass die Menschen den Eindruck haben, die Welt sei völlig aus den Fugen geraten.

Das heißt?

Jammern hilft nicht, Ohnmachtsgefühle erst recht nicht. Viele der Konflikte sind verworren und können sicher nicht über Nacht per Handauflegen, sondern nur mit viel Geduld und der beharrlichen Suche nach politischen Ansätzen gelöst werden. Das tun die Ägypter in der Gaza-Krise derzeit gemeinsam mit den Amerikanern in Kairo, wir versuchen das mit großem Einsatz in der Ukraine-Krise gegenüber Kiew und Moskau.

Und Sie kommen nicht vom Fleck…

Der Blick auf beide Krisen zeigt, dass Rückschläge auf diesem Wege immer wieder vorkommen. Aber man darf sich nicht entmutigen lassen. In beiden Konflikten sehe ich dennoch Möglichkeiten für politische Lösungen. Die Auseinandersetzung mit dem IS im Irak ist von ganz anderer Natur.

Während wir hier miteinander sprechen, erhalten Sie SMS, müssen mit Amtskollegen und Hilfsorganisationen telefonieren und andauernd entscheiden. Haben Sie irgendwann auch Gelegenheit zu fragen: Was mache ich hier eigentlich? Tue ich das Richtige?

Sie haben recht: Für Muße ist im Augenblick wenig Gelegenheit. Aber es ist ganz wichtig, dass man sich rückkoppelt, dass man Optionen wägt und den eigenen Ansatz überdenkt. Deshalb kommt es darauf an, nicht zum Einzelspieler zu werden, sondern die Expertise von Mitarbeitern und Externen zu nutzen. Bevor wir nach außen tätig werden, diskutieren wir intern immer wieder, welche Ideen vielversprechend sind, welche wenig Aussicht auf Erfolg haben, wie und mit wem wir voran gehen. Unser Ziel bleibt, die Welt friedlicher, stabiler und sicherer zu machen – auch in unserem eigenen Interesse.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Sächsischen Zeitung. Das Gespräch führte Sven Siebert.

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