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Auf Flanderns Feldern: Erinnern für die Zukunft

31.07.2017 - Interview

Beitrag von Außenminister Gabriel in Erinnerung an die dritte Flandernschlacht, die am 31.07.1917, heute vor 100 Jahren, begann. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 31.07.2017.

„Liebe Mutter“, schreibt Otto, ein unbekannter deutscher Soldat im September 1917, „Du weißt nicht, was Flandern bedeutet: endloses Ertragen, Blut, Fetzen menschlicher Körper, heroischen Mut und Pflichterfüllung bis zum Tod“. Otto ist einer von mehr als einer halben Million Soldaten, die aus der dritten Flandernschlacht nicht heimkehrten - darunter Briten, Australier, Neuseeländer, Südafrikaner, Kanadier, Iren, Belgier und Franzosen und Deutsche. Sie begann am 31. Juli 1917, heute vor 100 Jahren. Ein monatelanger, mörderischer Stellungskrieg um wenige Kilometer Geländegewinn. Ypern, diese zauberhafte mittelalterliche Tuchmacherstadt, dem Boden gleichgemacht. Ganze Landstriche verwüstet. Nur der Mohn blühte noch auf dem aufgewühlten Schlachtfeld.

Die ans Revers gesteckte poppy, die Mohnblüte, ist das Symbol einer lebendigen Erinnerungskultur in den Staaten des Commonwealth. Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 ist dort bis heute ein nationaler Gedenktag von großer Bedeutung, die Erinnerung an das Grauen des ersten Weltkriegs noch sehr lebendig. Das ist in Deutschland lange anders gewesen. Bei uns Deutschen ist die Erinnerung an den ersten „totalen Krieg“ schon bald von den Erfahrungen in einem noch brutaleren Zweiten Weltkrieg überschattet worden, mit dem Nazi-Deutschland Europa überzog, der vor nichts mehr Halt machte, Städte, Dörfer und die Zivilbevölkerung der europäischen Völker zum Angriffsziel machte, und am Ende das eigene Land in eine Trümmerwüste verwandelt und unseren Kontinent buchstäblich an den Rand des Untergangs gebracht hatte. Der Versuch, nach 1918 einen stabilen Frieden in Europa zu schaffen, war gescheitert. Der Hass, der auf den Schlachtfeldern Flanderns gesät wurde, machte dauerhaften Frieden unmöglich. Die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg stand auf den tönernen Füßen von Revanche und Nationalismus.

Erst nach nationalsozialistischer Diktatur, einem weiteren Krieg und der Zivilisationskatastrophe des Holocaust geschah nach 1945 im Westen des geteilten Deutschland das, was Jürgen Habermas die „vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens“ genannt hat. Voraussetzung war, dass dieser „Westen“ uns Deutschen auf den Trümmern des von Nazi-Deutschland angezettelten Kriegs die Hand der Versöhnung entgegen streckte. Dass, anders als in Versailles, die Besiegten in die neue Ordnung integriert wurden. Dass wir erkannt hatten, dass ungezügelter Nationalismus und ewige Staatenrivalität dem Frieden in Europa im Wege standen. Was müssen das für mutige und weitsichtige Männer und Frauen gewesen sein, die kurz nach Kriegsende ausgerechnet Deutschland zurück an den europäischen Tisch eingeladen haben!

Das Friedensversprechen hat Europa eingelöst. Mehr als 70 Jahre, fast ein ganzes Menschenleben lang, hat es auf europäischen Boden keinen großen Krieg mehr gegeben. Nur gut eine Autostunde von den riesigen Soldatenfriedhöfen in Flandern entfernt, in der Hauptstadt Belgiens, haben heute im pulsierenden Brüssel die Europäische Union und die NATO ihren Sitz. Die europäische Integration war auf friedlichen Interessenausgleich und Wohlstand angelegt. Das ist gelungen, in einer Weise, die die Gründungsväter und -mütter der europäischen Einigung sich noch nicht einmal erträumen konnten.

Und dennoch dürfen wir uns auf diesen Erfolgen nicht ausruhen. Bei aller Weitsicht und Courage der Väter und Mütter unserer europäischen Friedensordnung war die Europäische Union nicht als weltpolitischer Akteur angelegt. Um aber auch im 21. Jahrhundert den Frieden in Europa zu wahren und unsere europäischen Werte zu verteidigen, brauchen wir ein starkes und geeintes Europa, auch nach außen, auch als globale Gestaltungsmacht. In einer Welt, in der sich die Gewichte verschieben, werden wir nur dann eine Stimme haben, wenn es eine gemeinsame europäische Stimme ist.

Wir wissen, dass eine Steigerung von Militärausgaben nicht gleichbedeutend mit mehr Sicherheit ist. Wir wissen, dass die großen Konflikte und Krisen unserer Zeit nicht militärisch, sondern nur politisch zu lösen sind. Deshalb setzen wir das Thema Abrüstung auf die internationale Agenda, wo andere in Ost und West wieder nur auf Aufrüstung setzen. Deshalb werden wir nicht aufgeben, beharrlich und geduldig daran zu arbeiten, den Konflikt in der Ostukraine mit den Mitteln der Diplomatie zu überwinden und dafür immer wieder um Unterstützung unserer Partner zu werben.

Unsere Stärke ist es, Krisen und Konflikte eben nicht nur militärisch anzugehen. Der Einsatz von militärischer Gewalt ist ultima ratio. Wir haben viele Instrumente zur Hand und mit jüngsten Entscheidungen weiter gestärkt: Wir wollen und wir können diplomatische und militärische, zivile und polizeiliche Mittel aufeinander abgestimmt zur Anwendung bringen. Wir nehmen Krisenprävention und Konfliktnachsorge ernst und sind bereit, dafür noch mehr Mittel bereitzustellen.

Die Soldatengräber Flanderns sind uns Mahnung und Ansporn zugleich, mit Entschlossenheit und Mut für eine zukunftsfeste Europäische Union und eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu arbeiten. Wenn das unbeschreibliche Leid zweier Weltkriege überhaupt irgendeinen Sinn haben kann, dann den, erkannt zu haben, dass unser aller Schicksal in Europa untrennbar miteinander verbunden ist und wir nur gemeinsam eine gute und friedliche Zukunft haben können.

Dafür wirklich alles zu tun, schulden wir nicht zuletzt all den Toten auf den Schlachtfeldern Europas, die, wie es der kanadische Soldat John McCrae in seinen in der englischsprachigen Welt wohl bekanntesten Gedichtzeilen über den Schrecken des Ersten Weltkriegs schrieb, „nur Tage vorher noch lebten, Sonnenaufgang und Untergang sahen, liebten und geliebt wurden und nun auf Flanderns Feldern liegen.“

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