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Türkei: „Betroffene sollen wissen, dass sie nicht allein sind“

08.08.2017 - Interview

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview zur Lage der deutschen Inhaftierten in der Türkei. Weitere Themen: US-Sanktionsgesetz gegen Russland, Außenpolitik der US-Regierung. Erschienen in den Westfälischen Nachrichten (08.08.2017).

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview zur Lage der deutschen Inhaftierten in der Türkei. Weitere Themen: US-Sanktionsgesetz gegen Russland, Außenpolitik der US-Regierung. Erschienen in den Westfälischen Nachrichten (08.08.2017).

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Herr Außenminister, Syrien, Ukraine, Nordkorea, Brexit - Trump, Putin, Erdogan. Sie sind erst seit einem guten halben Jahr im Amt. Wissen Sie noch, wo Ihnen der Kopf steht?

So ein Dickicht an Krisen und Konflikten haben wir tatsächlich selten erlebt. Umso wichtiger ist es, dass man selbst einen klaren Blick behält, sich über seine Prinzipien und seine Positionen im Klaren ist. In diesen Zeiten ist Haltung gefragt. Das meine ich nicht nur persönlich als deutscher Außenminister, das meine ich auch in Bezug auf die Europäische Union. Wir brauchen Weitsicht und eine gemeinsame Stimme, um in dieser Welt in Aufruhr zu bestehen.

Welche der vielen Krisenherde hat aus Ihrer Sicht die größte Brisanz?

Ich führe da keine Rangliste. Jedes der Themen, das sie angesprochen haben, ist brisant und birgt im wahrsten Sinne des Wortes Sprengstoff. Aber etwas, das mich persönlich besonders berührt – und das fehlte gerade in ihrer Aufzählung - ist die Hungerkrise in Afrika. Ich war in den letzten Monaten häufiger dort. Wenn Sie die hungrigen Kinder sehen, die überfüllten Lager, die Familien, die nichts mehr haben außer ein paar Habseligkeiten, die sie in einer geschlossenen Hand halten können: Das lässt einen nicht mehr los. Ich habe deswegen entschieden, dass wir noch mehr für diese Region machen müssen. Nicht nur Nothilfe – das auch – vor allem brauchen die Menschen dort eine realistische Perspektive auf ein Leben in Stabilität und Frieden. Deswegen fahre ich heute nach Uganda und in den Südsudan, um zu schauen: Was brauchen die Leute dort? Wie geht es voran? Wo können wir weiter helfen?

Im Verhältnis USA-Russland droht die Wiederkehr des Kalten Krieges. Moskau spricht von „Handelskrieg“. Was heißt das für Deutschland?

Es ist für Europa nie gut, wenn das Verhältnis zwischen Russland und den USA schlecht ist. Auch für Syrien, Libyen, die Ukraine, den Kampf gegen ISIS und viele weitere Themen brauchen wir Zusammenarbeit von Russen und Amerikanern. Gegenüber Russland muss man, wo nötig, klar, geschlossen und stark auftreten – aber eben auch mit Angeboten zum Dialog und zur Zusammenarbeit. Und für uns, den so genannten „Westen“, ist es wichtig, dass wir zusammenhalten. Das Sanktionsgesetz, das der US-Kongress letzte Woche erlassen hat, ist dafür eher schädlich. Unsere Stärke im Umgang mit Russland nach der Annexion der Krim war, dass zwischen die Europäische Union und die USA in Sachen Sanktionen kein Blatt Papier passte. Das setzen wir mit solchen Maßnahmen aufs Spiel. Ich rate dringend dazu, dass sich Präsident Trump eng mit uns abstimmt, bevor Sanktionen tatsächlich in Kraft gesetzt werden. Und Sanktionen gegen europäische Unternehmen, das geht gar nicht!

Eiszeit herrscht derzeit auch in den deutsch-türkischen Beziehungen. Sie mussten sogar ihren Nordsee-Urlaub unterbrechen. Wie groß ist ihr Zorn über die Entwicklungen in der Türkei?

Ich bin eher enttäuscht als zornig. Die türkische Regierung ist dabei, die Fortschritte der letzten Jahrzehnte erbarmungslos zurückzudrehen. Die Türkei entfernt sich unter der jetzigen Regierung immer schneller von den Grundfesten der Demokratie und europäischen Werten. Nehmen Sie die Pressefreiheit: Die Prozesse gegen Cumhüriyet-Journalisten zeigen ja, dass es damit in der Türkei nicht mehr weit her ist. Dass diese Journalisten sich ihren Mut nicht nehmen lassen, weiter publizieren, dafür habe ich allergrößten Respekt. Wir haben lange versucht, der türkischen Regierung geduldig deutlich zu machen, auf welchen gefährlichen Weg sie sich begibt. Das hat jedenfalls nicht zu Änderungen geführt. Wer unbescholtene Deutsche auf unbegrenzte Zeit die Freiheit nimmt, sollte nicht darauf setzen, dass wir anderswo so tun als wäre nichts geschehen.

Gibt es derzeit noch berechtigte Hoffnung, den deutschen Journalisten Deniz Yücel und auch andere deutsche Inhaftierte aus türkischen Gefängnissen frei zu bekommen?

Mich macht es persönlich betroffen, dass Peter Steudtner, aber auch Mesale Tolu, Deniz Yücel und andere Deutsche monatelang ohne jede Anklage in Haft sitzen. Die türkische Regierung beruft sich dabei immer wieder auf die Unabhängigkeit der Justiz, was gelinde gesagt unehrlich ist, wenn man die Rufmordkampagne der türkischen Regierung und Medien gegenüber diesen Deutschen sieht. Mir ist wichtig, dass die Betroffenen wissen, dass sie nicht allein sind. Wir setzen uns ein, immer wieder. Unser Ziel bleibt, dass sie freikommen. Unsere Forderungen geben wir ganz sicher nicht auf.

Gibt es ein Ende der Geduld mit Herrn Erdogan? Und was bedeutet das für einen EU-Beitritt der Türkei? Oder: Sind Deutschland einmal mehr die Hände gebunden, um massiven politischen Druck auf Ankara aufzubauen?

Wir waren über lange Zeit äußerst geduldig, haben immer wieder die Hand ausgestreckt und dafür weitere Ohrfeigen eingestrichen. Denken Sie mal an die unsäglichen Nazi-Vergleiche. Das ist jetzt vorbei, denn offensichtlich reagiert diese türkische Regierung nur auf Druck. Wir haben deshalb unsere Türkeipolitik neu ausgerichtet. Wir mussten nach der Festnahme von Peter Steudtner unsere Reisehinweise verschärfen und schauen uns die Instrumente der Wirtschaftsförderung ganz genau an, national wie auf europäischer Ebene. Wenn dann weniger Deutsche Urlaub in der Türkei machen, erleiden natürlich erstmal die Menschen Einbußen, die in der Tourismusbranche arbeiten. Das tut mir persönlich sehr leid. Ich will deshalb auch ganz klar sagen: Für mich sind die türkische Regierung und die Türkei zwei Paar Schuhe. Die Türkei ist und bleibt ein großartiges Land. Aber ganz offensichtlich dreht die türkische Regierung das Land von der EU weg.

Eine klare außenpolitische Linie im Umgang mit US-Präsident Donald Trump ist derzeit nicht zu erkennen. Stimmt diese Beobachtung?

Die klare Linie fehlt doch eher bei Donald Trump und seinen Leuten im Weißen Haus. Man weiß ja kaum noch, wer gerade dort ist, weil ständig jemand gefeuert wird. Da haben Sie selbst als Trainer von Schalke 04 momentan einen sichereren Job … Unsere Haltung ist klar: Wir sind bereit zur Kooperation – auf Basis unserer Interessen und der Werte, die unsere Beziehungen immer ausgezeichnet haben: Toleranz, freie Meinung, freier Handel, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Aber wir sind weder unterwürfig noch naiv. Wenn es darauf ankommt, werden wir uns zu behaupten wissen. Das gilt auch für das aktuelle Sanktionsgesetz.

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Interview: Michael Giese und Wolfgang Kleideiter.

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