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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth beim Empfang „Aktion gegen den Hunger“ in der französischen Botschaft

09.06.2016 - Rede

--- es gilt das gesprochene Wort ---

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit mehr als fünf Jahren reißen die Schreckensnachrichten aus Syrien nicht ab. Was im Frühjahr 2011 so hoffnungsvoll als Arabischer Frühling begann, endete für die Menschen in Syrien in einer unaufhörlichen Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Damals im März 2011 konnte niemand ahnen, dass sich aus der anfänglichen Euphorie der staatlichen Umbrüche in der arabischen Welt einmal ein so blutiger Konflikt mit dramatischen Auswirkungen für die gesamte Region entwickeln würde.

Lassen Sie mich mit einigen Zahlen ein Schlaglicht auf die derzeit größte humanitäre Krise weltweit werfen: Über 400.000 Menschen haben in dem Bürgerkrieg ihr Leben verloren. Knapp fünf Millionen sind in die Nachbarländer geflohen, mehr als eine Million weiter in Richtung Europa.

In Syrien gibt es fast sieben Millionen Binnenvertriebene – viele von ihnen mussten bereits zum wiederholten Male ihr Zuhause verlassen. Weit über die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist mittlerweile auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter auch sechs Millionen Kinder. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Syrien ist um 20 Jahre gesunken.

Hinter diesen abstrakten Zahlen stehen bewegende menschliche Schicksale. Hinter diesen Zahlen steht eine fortgesetzte und inakzeptable Missachtung des humanitären Völkerrechts. Die Konfliktparteien greifen gezielt Schulen, Krankenhäuser, aber auch Anlagen der Elektrizitäts- und Wasserversorgung an. Diese feigen Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind eine Schande!

Eines der größten Probleme, mit dem sich die internationale Gemeinschaft in Syrien konfrontiert sieht, ist, dass die humanitäre Hilfe häufig nicht dort ankommt, wo sie so dringend gebraucht wird.

Fast fünf Millionen Menschen leben in sogenannten „schwer erreichbaren Gebieten“. Sie können nur sporadisch mit humanitärer Hilfe versorgt werden. Noch viel dramatischer steht es um die 600.000 Menschen, die sich in den als belagert eingestuften Gebieten aufhalten: Sie haben teilweise seit mehreren Jahren überhaupt keine humanitäre Hilfe mehr erhalten.

Die Situation in einigen dieser Gebiete ist für uns kaum vorstellbar: Menschen, die sich von Gras und Blättern ernähren müssen, um nicht zu verhungern. Kinder, die sterben, weil ihnen der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt wird. Menschen, die nach Jahren der Belagerung unter schwersten Traumatisierungen leiden.

Diese Bilder, diese Meldungen lassen uns nicht kalt. Diesem Leid darf die internationale Gemeinschaft, dürfen wir nicht tatenlos zusehen. Aber welche konkreten Ansätze können wir verfolgen, um das unermessliche Leid der Menschen in Syrien zu lindern?

Ich möchte drei wichtige Elemente kurz beleuchten:

Erstens: Wir müssen im Interesse der notleidenden Menschen alle Möglichkeiten nutzen, um ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz versuchen von Damaskus aus über die Frontlinien hinweg Menschen zu erreichen, die sich in nicht vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten aufhalten.

Gleichzeitig wird die Versorgung grenznaher Gebiete zur Türkei im Norden und zu Jordanien im Süden über Lieferungen aus diesen Nachbarländern ergänzt. Im Juli 2014 hat der Sicherheitsrat die Hilfsagenturen der Vereinten Nationen ermächtigt, auch ohne Zustimmung des syrischen Regimes grenzüberschreitende Hilfe zu leisten. Deutschland – und einige andere Geber – fördern bereits seit 2012 grenzüberschreitende Projekte humanitär tätiger Nichtregierungsorganisationen.

In Fällen, in denen alle anderen Optionen versagen, muss als ultima ratio auch die humanitäre Versorgung aus der Luft in Betracht gezogen werden. So geschehen bei der vom IS eingeschlossenen Stadt Deir-ez-Zoor, in der seit April mittels einer technisch extrem anspruchsvollen und bis dato beispiellosen Operation über 100.000 Menschen per Luftbrücke mit Nahrungsmitteln versorgt werden.

Angesichts der katastrophalen humanitären Zugangsmöglichkeiten bemühen wir uns, auch andere belagerte Gebiete mit dem Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft zu erreichen.

Zweitens: Humanitären Mindeststandards muss in Syrien stärker Geltung verschafft werden. Dazu ist es zwingend erforderlich, den Druck auf das syrische Regime und auf andere Konfliktparteien aufrechtzuerhalten.

Deutschland engagiert sich mit rund 20 weiteren Staaten und der EU im Rahmen der Internationalen Kontaktgruppe zu Syrien. Auf Initiative von Außenminister Steinmeier hat die Gruppe am 12. Februar 2016 am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz eine Vereinbarung geschlossen, in der uneingeschränkter Zugang zu den belagerten Gebieten gefordert wird.

Seither konnten rund 265.000 Menschen mindestens einmal mit humanitärer Hilfe erreicht werden. Immerhin! Damit ist die Lage heute deutlich besser also noch im Jahr 2015. Dennoch bleibt der Fortschritt unzureichend. Viele Menschen, die wir Anfang des Jahres versorgen konnten, benötigen dringend weitere Hilfslieferungen. Und rund 140.000 Menschen blieben auch in diesem Jahr völlig von humanitären Hilfslieferungen ausgeschlossen.

Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer? Die Antwort bleibt, wie so oft, dem Betrachter überlassen. Klar ist aber: Trotz einiger Fortschritte gibt es überhaupt keinen Grund, sich zufrieden zurückzulehnen. Alle Staaten müssen ihren Einfluss geltend machen, um auf die Konfliktparteien einzuwirken, damit der humanitäre Zugang zu Krisengebieten sichergestellt wird.

Drittens: Der humanitäre Bedarf in Syrien hat auch in finanzieller Hinsicht nie gekannte Dimensionen angenommen. In ihrem diesjährigen Hilfsplan haben die Vereinten Nationen einen Finanzbedarf von 3,2 Mrd. USD veranschlagt. Zur Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens werden weitere 4,6 Mrd. USD benötigt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz plant weitere 160 Mio. Euro für seine humanitäre Arbeit in Syrien ein.

Dieser finanzielle Bedarf muss gedeckt werden. Hier stehen wir alle im Wort. Die Vereinten Nationen, die internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung sowie humanitäre Nichtregierungsorganisationen müssen in die Lage versetzt werden, die notwendigen Hilfsmaßnahmen vollumfänglich und zeitgerecht umzusetzen.

Deutschland nimmt seinen Teil der Verantwortung an. Seit 2012 haben wir insgesamt 934 Mio. Euro für humanitäre Hilfe in Syrien und den Nachbarländern zur Verfügung gestellt. Damit sind wir der drittgrößte Geberstaat in der Syrienkrise.

Bereits im Oktober 2014 haben wir mit der Ausrichtung der Berliner Konferenz zur syrischen Flüchtlingslage die internationale Aufmerksamkeit auf die Auswirkungen des Syrienkonflikts in der Region gelenkt. Als Ko-Veranstalter der Geberkonferenz im Februar dieses Jahres in London setzte Deutschland mit der Zusage von 2,3 Mrd. Euro – davon über eine Milliarde Euro für humanitäre Hilfe – erneut ein Signal. Viele andere Staaten sind diesem Beispiel gefolgt: die Zusagen von rund 11 Mrd. Euro sind vielversprechend. Jetzt geht es darum, die zugesagten Gelder auch rasch bereitzustellen. Worten müssen Taten folgen!

In Syrien engagieren sich vor allem lokale Partner wie der Syrisch-Arabische Rote Halbmond und Vertreter der Zivilgesellschaft. Lokale Akteure verfügen oftmals über bessere Zugangsmöglichkeiten, sind in ihren Einsatzgebieten gut vernetzt und arbeiten sehr flexibel und kosteneffizient. Die Kapazitäten dieser Partner zu stärken, bleibt daher eine vorrangige Aufgabe. Dazu leisten wir einen finanziellen Beitrag zu den humanitären Gemeinschaftsfonds der Vereinten Nationen, die wiederum Projekte lokaler Partner finanzieren und entsprechende Schulungsmaßnahmen durchführen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

klar ist aber eben auch: Humanitäre Hilfe kann die Konflikte in Syrien nicht lösen, sie kann den Krieg nicht beenden. Nur eine politische Lösung kann den Krieg beenden und damit die Grundlage für den Wiederaufbau Syriens legen.

Auch hier bindet sich Deutschland eng in die internationalen Strukturen ein. Wir sehen unsere Aufgabe in der Unterstützung des VN-Sondergesandten de Mistura. Wir beteiligen uns intensiv an Gesprächen zur Einhaltung der Waffenruhe sowie zu dem Prozess, der zu einem politischen Übergang in Syrien führen soll.

Syrien wird keine Zukunft mit Assad haben. Die Führung des Regimes ist bislang nicht in ernsthafte Friedensgespräche eingestiegen. Der Unwille, an einer politischen Lösung mitzuwirken, zeigt sich auch in der Fortsetzung des Kriegs gegen die eigene Bevölkerung und dem weiterhin sehr eingeschränkten humanitären Zugang zu vielen Orten des Landes. Das Assad-Regime nimmt sehenden Auges in Kauf, dass unschuldige Männer, Frauen und Kinder elendig sterben - im Bombenhagel, an fehlender medizinischer Versorgung, Hunger und Durst.

Der Weg zu einer politischen Lösung des Konflikts in Syrien ist beschwerlich und immer wieder von Rückschlägen geprägt. Aber er ist und bleibt der einzige Weg hin zu einer dauerhaften Befriedung des Landes. Eine politische Lösung muss die territoriale Integrität des Landes ebenso umfassen wie ein pluralistisches politisches System, wirtschaftliche Entwicklung und Wiederaufbau. Darauf wirken wir hin, daran wirken wir mit.

Frieden, Stabilität, Wiederaufbau, wirtschaftliche Entwicklung, aber auch Versöhnung und Aufarbeitung, das sind aus unserer Sicht die wesentlichen Ziele, die dem Land und seiner Bevölkerung erstmals seit Jahren wieder eine positive Perspektive geben würden.

Humanitäre Hilfe kann politische Lösungen niemals ersetzen. Aber es bleibt unsere ethische und moralische Verpflichtung, humanitäre Hilfe zu leisten – auch und gerade dann, wenn politische Lösungen nicht unmittelbar in Sicht sind, um die Not der betroffenen Menschen zu lindern. Mein Dank gilt allen, die uns in unserem Engagement so tatkräftig unterstützen.

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