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Menschen bewegen

09.04.2016 - Interview

Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, erschienen in der „Welt“ am 09.04.2016.

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Ob Bürgerkrieg in Syrien, Ukrainekonflikt, Flüchtlingskrise oder die Serie der Terror-Anschläge von Paris über Istanbul bis Brüssel – die Vielzahl der Krisen, mit denen wir es zu tun haben, macht deutlich, dass der Welt im Augenblick eine überwölbende Ordnung fehlt. Fast scheint es, als sei der permanente Krisenmodus der neue Normalfall. Insbesondere das barbarische Treiben von ISIS zeigt, in welchem Ausmaß religiöse oder pseudo-kulturelle Ideologien und Interessen die Konflikte in der Welt überlagern.

Auf diese neue Unübersichtlichkeit müssen wir mit dem gesamten außenpolitischen Instrumentarium reagieren – auch und vor allem mit den Mitteln der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Ihr kommt in dem Spannungsbogen zwischen Krisenmodus und der Auseinandersetzung mit neuen Ordnungsmodellen eine unverzichtbare Rolle zu. Denn gegen die beschriebene Ideologisierung hilft nur Differenzierung: genaueres Hinschauen und Hinhören und vor allem gemeinsamer kultureller Austausch und Bildungsarbeit. Kultur bereitet im vorpolitischen Raum erst den Boden, auf dem politische Verständigung und damit Krisenprävention und Krisenbewältigung möglich sind. Sie schafft Freiräume, innerhalb derer gesellschaftliche Themen aufbereitet und friedlich verhandelt werden.

Diese künstlerischen und wissenschaftlichen Freiräume zu schützen ist ein politischer Auftrag. Für unsere Außenpolitik bedeutet es, dass wir über das hinausgehen müssen, was uns aus unserer eigenen Perspektive naheliegend erscheint. Dafür brauchen wir einen umfassenden Blick, der die Träume und Traumata der Gesellschaften miteinbezieht, mit denen wir es zu tun haben. Nur dann können wir Entwicklungen in ihrer Tragweite erfassen, verarbeiten und zum Aufbau von lebendigen Zivilgesellschaften und damit tragfähigen Ordnungsstrukturen beitragen.

So verstanden sind Kultur und Bildung eingeübte und gelebte Menschlichkeit. Es geht um das gemeinsame Erarbeiten, das Ermöglichen von und den Zugang zu Bildung und Kultur - in unseren Partnerländern, aber auch hier bei uns. Das gilt insbesondere auch mit Blick auf schwierige Partner. Mir ist bewusst, dass dies im Einzelfall auch zu kontroversen Debatten führt – Saudi-Arabien ist hierfür ein Beispiel. Und doch sind diese Grenzgänge unausweichlich, wenn es darum geht, gesellschaftliche Öffnung und Wandel zu unterstützen. Die Dinge lediglich aus der Berliner Komfortzone heraus zu kommentieren, reicht dafür nicht aus. Wenn wir etwas bewirken möchten, müssen wir den Dialog suchen und das enorme Potential von Kultur und Bildung einsetzen.

Und genau darum geht es mir: um eine Kulturpolitik, welche die soziale Kraft von Kultur stärkt. Wir setzen hier deutliche Zeichen: mit der Verstetigung unseres Programms zum Aufbau der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft, mit der Philipp Schwartz Initiative zugunsten von bedrohten Wissenschaftlern in Konfliktregionen, mit dem Stipendienprogramm „Leadership for Syria“ für syrische Studenten, mit dem besonderen Engagement unserer Mittler in der Flüchtlingskrise und mit den vielen Maßnahmen zum Erhalt des kulturellen Erbes weltweit.

Auf das, was wir bereits erreicht haben, wollen wir weiter aufbauen. Die Nachricht der Befreiung von Palmyra zeigt, welche symbolische Kraft dem kulturellen Erbe der Menschheit zufällt – und wie stark auch die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt verknüpft ist mit dem, was Menschen als ihren gemeinsamen kulturellen Ursprung empfinden. Stätten wie Palmyra in Syrien oder Kloster Corvey, dem ich vor kurzem die Anerkennung als Weltkulturerbe überreicht habe, haben eines gemeinsam: Sie tragen bis heute maßgeblich zur Herausbildung von Identität bei. Sie geben Menschen Orientierung. Genau deshalb haben wir mit dem Deutschen Archäologischen Institut und vielen anderen Partnern das sog. „Stunde Null“-Projekt aus der Taufe gehoben, im dessen Rahmen die Schätze antiker Stätten digitalisiert und syrischen und irakischen Archäologen Fortbildung ermöglicht wird. Das Projekt dient dazu, identitätsstiftendes kulturelles Erbe in Syrien und Irak zu bewahren. Es geht darum, zivilgesellschaftliche Ansätze, die im wahrsten Sinne des Wortes einen Staat machen können, zu stärken. Und es geht darum, in gemeinsamer Arbeit neue Perspektiven für eine Region zu entwickeln, Perspektiven, die diese Region dringend braucht.

An diesem Beispiel zeigt sich, wie sehr Innen- und Außenpolitik miteinander verzahnt sind: so wie die Menschen, die vor Jahrzehnten als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, unsere Gesellschaft kulturell geprägt haben, so werden auch die vielen Menschen, die aktuell Zuflucht in unserem Land suchen, unsere Gesellschaft beeinflussen. Gerade in der Kulturarbeit nach außen brauchen wir deshalb einen koproduktiven Ansatz, denn wenn die gemeinsame kulturelle Praxis schon im Inland beide Seiten verändert und neue Perspektiven entstehen lässt, sollte dies durch die kulturelle Praxis im Ausland ähnlich sein.

Das Forum „Menschen bewegen“ wird genau hier ansetzen: in der kommenden Woche sollen im Rahmen verschiedener Veranstaltungen erstmals das breite Spektrum und die gemeinsamen Erfolge der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik präsentiert und mit der kulturellen Praxis in Deutschland zusammengeführt werden. Unser Ziel ist es, nicht nur neue Denkanstöße für die Auswärtige Kulturpolitik zu gewinnen, sondern auch einen gemeinsamen kulturpolitischen Diskurs zu entwickeln, der dieses Spektrum einbezieht und sich seine Erfahrungen zunutze macht.

Wir holen hierfür die 2008 von mir initiierte Partnerschul-Initiative PASCH nach Berlin, die durch die Förderung der deutschen Sprache das Verständnis von Deutschland in der Welt befördert, aber eben auch unser Verständnis dessen, was andere Gesellschaften an- und umtreibt. Mittlerweile bilden 1.800 PASCH-Schulen weltweit rund 600.000 Schülerinnen und Schüler aus – mehr als in Rheinland-Pfalz. Mit einer sog. „Langen Nacht der Ideen“ wollen wir zudem an über einem Dutzend Standorten kultureller Praxis in Berlin in einer Art Mini-Laboratorien den Beitrag der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik für ein künftiges Humboldt-Forum aufzeigen. Von der Digitalisierung bis zur Inklusion durch Kultur, vom Gaming bis zum Kolonialismus greifen wir kulturpolitische Zukunftsthemen auf und verzahnen sie mit der Auswärtigen Kulturpolitik. In der Station am Gleisdreieck werden wir schließlich gemeinsam mit prominenten Kulturschaffenden wie Hermann Parzinger oder dem saudischen Künstler Abdulnasser Gharem neue Wege und Anstöße für unsere Arbeit im Ausland, aber eben auch Möglichkeiten der Rückspiegelung dieser Arbeit nach Deutschland ausloten. Dazu gehört auch die gemeinsame Arbeit mit Flüchtlingen. Die Erfahrungen, die unsere Mittler und Partner durch ihre jahrzehntelange kulturelle Praxis im Ausland gewonnen haben, die Fähigkeit zur kulturellen Empathie über ethnische, religiöse und sonstige Grenzen hinweg, sind eine Schlüsselkompetenz. Deshalb wollen wir anlässlich des Forums die Expertise der auswärtigen Kulturpolitik für die Integration von Flüchtlingen in Deutschland über ein sog. Kulturpatenprogramm nutzbar machen.

Mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik schaffen wir Diskursräume, um Spannungen auf- und abzuarbeiten. Wir vernetzen Gesellschaften und schützen kulturelle Identitäten. Wir bewegen Menschen. Kultur- und Bildungsarbeit erfordert gerade in Krisenzeiten einen langen Atem, zumal sie nicht automatisch in eine Friedensdividende mündet. In einer konfliktbeladenen Welt auf der Suche nach einer neuen Ordnung ist sie wichtiger denn je.

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