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Rede von StM Gernot Erler anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität für National- und Weltwirtschaft Sofia, 16. November 2007

20.11.2007 - Rede

Für seine Verdienste um deutsch-bulgarische Beziehungen wurde Staatsminister Gernot Erler mit der Ehrendoktorwürde der Wirtschaftsuniversität Sofia sowie dem höchsten bulgarischen Orden ausgezeichnet. In seiner Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde betonte er Bulgariens konstruktive Rolle in Europa: „Bulgarien hat genug politisches Potenzial, um sich bei den strategischen Interessen der EU unentbehrlich zu machen und Anerkennung zu finden.“

Rede von Staatsminister Gernot Erler anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität für National- und Weltwirtschaft Sofia, 16. November 2007

- Es gilt das gesprochene Wort -

Exzellenzen,

Sehr geehrter Herr Rektor / Sehr geehrte Frau Rektor,

Sehr geehrter Herr Dekan / Sehr geehrte Frau Dekan,

Meine sehr geehrten Damen und Herren Professoren und Lehrende,

Sehr geehrte Studentinnen und Studenten,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Der heutige 16. November ist für mich ein besonderer Tag. Ich erfahre heute eine doppelte Ehrung: Der bulgarische Staatspräsident verleiht mir den Orden Stara Planina 1. Stufe. Und die Universität für Weltwirtschaft ehrt mich mit der Ehrendoktorwürde. Ich möchte gleich zu Beginn meiner Ausführungen, die ich unter den Titel „Bulgariens europäische Volljährigkeit: Notizen eines Wegbegleiters“ stellen möchte, Ihnen herzlich dafür danken und Ihnen sagen, dass ich mich über diesen neuen Eintrag in mein persönliches Bulgarien-Tagebuch sehr freue. Und ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich so schlecht bulgarisch spreche und einen russischen Akzent nicht verbergen kann, weil das leider bis heute die einzige slawische Sprache geblieben ist, in der ich mich verständlich machen kann. Aber ich habe die Hoffnung, dass sie wenigstens sinngemäß meine Worte verstehen werden!

Um auf mein persönliches Bulgarien-Tagebuch zurückzukommen: heute erfolgt nicht der erste Eintrag und es wird auch sicherlich nicht der letzte sein. Bulgarien beschäftigt mich seit 20 Jahren, ziemlich exakt, seitdem ich im Jahre 1987 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde und damit für mich ein neues Lebens-Kapitel als Berufspolitiker begann. Meine erste Aufgabe, die ich im deutschen Parlament übernahm, war der Vorsitz der Deutsch-Bulgarischen Parlamentariergruppe, den ich 12 Jahre lang wahrgenommen habe. Alleine dadurch habe ich das Land Bulgarien durch zahlreiche Delegationsreisen kennengelernt und Bekanntschaft mit vielen bulgarischen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur schließen können.

Ich wollte aber den Kreis derer erweitern, die die aufregende Entwicklung Bulgariens ab 1989 als Freunde und Sympathisanten begleiteten. Deshalb habe ich im April 1996 das „Deutsch-Bulgarische Forum“ gegründet, dessen Vorsitzender ich bis heute bin. Zusammen mit Gleichgesinnten aus Politik, Wirtschaft, Hochschulen und Kultur wollte ich die deutsche Öffentlichkeit besser über Bulgarien informieren, eine institutionelle Plattform für bulgarisch-deutsche Begegnungen schaffen und Gästen aus Bulgarien ein breiteres Auditorium bieten. Die Resonanz war sehr positiv, und bald entstand auch unser bulgarischer Counterpart, das Bulgarisch-Deutsche Forum in Sofia. Aber dann kam der Winter 1996/97, als wir von großen Versorgungsnöten bei unseren bulgarischen Freunden hörten, besonders im Sozialbereich und bei der medizinischen Versorgung. Plötzlich wurde das Deutsch-Bulgarische Forum vorübergehend zu einer humanitären Hilfsorganisation, rief zu Spenden auf, sammelte mehr als eine Million Deutsche Mark und organisierte Hilfskonvois für die Freunde in Not. Heute ist das bereits Geschichte.

1998 kam es in Deutschland zu einem Regierungswechsel, nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl und seine konservative Regierungspartei CDU für 16 Jahre lang die deutsche Politik geprägt hatten. In den sieben Jahren der neuen, von der SPD geführten rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer, war ich als Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion für den gesamten Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik verantwortlich. Schon wenige Monate nach dem Regierungswechsel zog der tragische Kosovokrieg – der vierte blutige Balkankrieg der 90er Jahre, den Europa nicht verhindern konnte – für einige Jahre viel Aufmerksamkeit auf Südosteuropa. Bulgarien wurde in dieser Phase zum EU-Beitrittskandidaten, und dieses Thema beschäftigte bis zu dem historischen Datum des 1. Januar 2007 alle Freunde Bulgariens in Deutschland, auch das Deutsch-Bulgarische Forum, fast ausschließlich. Im Jahr 2000 wurde ich außerdem zum Präsidenten der Südosteuropa-Gesellschaft in München gewählt, einer der größten deutschen Wissenschafts- und Mittlergesellschaften mit annähernd 800 Mitgliedern, die sich als Akademiker mit 14 verschiedenen Ländern Südosteuropas befassen. Für mich brachte das eine noch intensivere Beschäftigung mit Bulgarien und seinen Nachbarn mit sich, vor allem durch internationale Konferenzen, Symposien und Veranstaltungen. So werde ich auch heute Nachmittag, gemeinsam mit dem bulgarischen Parlamentspräsidenten Georgi Pirinskij, eine internationale Konferenz zum Thema „Regional Cooperation in the Black Sea and Danube Regions: Adressing Challenges und Providing Perspectives“ eröffnen und darf dort das Eingangsreferat halten, sowohl als Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft wie als Vertreter der Bundesregierung. Denn seit November 2005 gehöre ich als Staatsminister im Auswärtigen Amt der neuen Bundesregierung an und bringe natürlich in diese neue Aufgabe auch mein intensives Interesse für Südosteuropa und Bulgarien ein.

Meine Damen und Herren,

Sie können sich sicher vorstellen, dass viele Bilder und Geschichten aus den letzten zwei Jahrzehnten in meinem Kopf sind. Ob das meine erste politische Dienstreise 1988 als junger Abgeordneter in den Süden Bulgariens und ins türkische Edirne war, wo ich mich mit dem tragischen Exodus der türkischen Bulgaren im Zusammenhang mit der Namens-Assimilierungspolitik des Schiwkow-Regimes beschäftigte, ob das Momente großer politischer Triumphe oder Niederlagen bei den zahlreichen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit 1989 waren, bei denen ich dabei sein durfte, oder am Ende die großen Freudenfeiern über den EU-Beitritt im Lande selbst, aber auch in Berlin. Es wäre verlockend, sich diesen farbigen Erinnerungen hinzugeben. Ich möchte aber diesen Anlass und diesen Ort lieber nutzen, um mit Ihnen über einige auf die Zukunft bezogene Beobachtungen und Überlegungen zu sprechen. Ausdrücklich sind das natürlich meine persönlichen Überlegungen und nicht etwa offiziöse Verlautbarungen der deutschen Bundesregierung.

Mein erstes Schlüsselwort soll „Beschleunigung“ heißen. Als ziemlich genau vor 18 Jahren, am 10. November 1989, die Ära Schiwkow zu Ende ging, hatte ein einziger Mann an der Spitze der Bulgarischen Kommunistischen Partei und an der Spitze der bulgarischen Regierung 35 Jahre lang die Geschicke des Landes geprägt. Seitdem ist an Jahren ziemlich genau die Hälfte der Schiwkow-Ära an uns vorübergezogen – aber mit 6 Parlamentswahlen, mit 4 Staatspräsidenten und inzwischen 9 verschiedenen Ministerpräsidenten. An die Stelle der Kontinuität ist die Kontinuität des Wechsels getreten. An diese Dynamik mussten sich nicht nur die politischen Eliten Bulgariens gewöhnen. Hinter diesen lapidaren Zahlen steckt auch eine enorme Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels und der Transformation sämtlicher Lebensregeln und Lebensumstände. Alle Menschen in Bulgarien waren und sind davon betroffen. Natürlich die einen mehr und die anderen weniger. Aber ich glaube nicht, dass es in Bulgariens Geschichte eine vergleichbare Phase gibt. Mehr Veränderung in vergleichbar kurzer Zeit hat es nie gegeben. Der Mensch ist aber, so sagt man bei uns in Deutschland, ein „Gewohnheitstier“. Das Gewohnte und Vertraute gibt ihm Sicherheit, Veränderungen empfindet er als Stress.

Von der Sache her waren die erlebten Veränderungen zumindest zweischneidig: Dem Mehr an politischer Wahlmöglichkeit, an Informationschancen und an Mannigfaltigkeit einer neuen Konsumwelt stand ein Weniger an sozialer und materieller Sicherheit sowie an Orientierung entgegen. In das Orientierungsvakuum nach der Auflösung des Warschauer Pakts und der Lockerung der traditionellen Bindungen stieß dann schließlich die EU-Perspektive vor. Aber das war eigentlich kein Angebot, sondern die unverfrorene Aufforderung, ein komplettes Gesellschaftssystem, das sich anderswo bewährt hatte, zu kopieren und zu übernehmen – buchstäblich Blatt für Blatt, und man hat nachgezählt und ist auf etwa 300 000 bedruckte Seiten für den „acquis communautaire“, also das offizielle Lehr- und Aufgabenbuch des EU-Beitritts, gekommen. Diesem Lehr- und Aufgabenbuch zu folgen, hieß, überall die Menschen aufzuschrecken aus ihren Gewohnheiten, ihnen neue Verhaltensweisen abzuverlangen, ohne ihnen aber klar sagen zu können, wann denn die versprochenen konkreten Lebensverbesserungen eintreten würden. Das konnte nicht populär sein. Und ich werde nie meinen Respekt verlieren für all meine bulgarischen Politikerkollegen, die – aus verschiedenen Parteien kommend – diesen Weg trotz aller Risiken gegangen sind, wobei sie bei den fast durchgängig vorzeitigen Wahlen regelmäßig von den Wählern für ihre Konsequenz bestraft und abgewählt wurden. Neben meinem Respekt dafür werde ich mir aber auch eine schmunzelnde Erinnerung daran bewahren, wie perfekt meine Kolleginnen und Kollegen darin waren, auf berechtigte Mahnungen mit wortreichen und blumigen Ankündigungen in der Art zu reagieren, schon morgen werde alles passieren – obwohl dieses „morgen“ bei einigen noch ausstehenden Aufgaben bis heute nicht eingetroffen ist. Ich habe in diesem bulgarischen „Mañana-Prinzip“ immer eine sympathische Strategie der Stress-Minderung gesehen!

Mein zweites Schlüsselwort heißt „Entsolidarisierung“. Natürlich muß man aufpassen, nicht in die Falle einer romantischen Nostalgie zu verfallen, wenn man über den Status quo ante spricht, also das Bulgarien vor dem November 1989. Da gab es eine Nomenklatura, die weder rücksichtsvoll noch solidarisch ihre Privilegien genoss. Aber der Rest der Gesellschaft blieb im Lebensstandard recht eng beieinander – eine Art erzwungene und flächendeckende Bescheidenheit. Mit der Botschaft des Wettbewerbs und der Privatisierung konnten dann längst nicht alle etwas anfangen. Eine wachsende Minderheit entwickelte aber ihre eigene Interpretation der neuen Verhältnisse. Ihre Devise lautete, sich rasch und rücksichtslos die gesellschaftlichen Werte anzueignen und das Erbeutete mit beiden Ellenbogen entschlossen zu verteidigen. Aus der Vogelperspektive könnte es wie eine übersteuerte Kurskorrektur ausgesehen haben. In der Praxis entstanden eben auch leistungsloser Reichtum, provozierender und zu Schau gestellter Luxus, kriminelle Wirtschaftsstrukturen und korruptionsbereite Verwaltungsstrukturen. Das Kampfartige dieser Prozesse, die sich auch als nachgeholte ursprüngliche Akkumulation beschreiben lassen, übertrug sich auf das Politische. In der entstehenden Parteienlandschaft hatte ein ganz wesentlicher Grundzug demokratischer Gesellschaften, nämlich der politische Grundkonsens, keine Chance. Das Beutedenken ging so weit, dass bei jedem Machtwechsel das politische Personal in Politik und Administration bis zum Pförtner und zur Reinemachefrau farbgerecht ausgetauscht wurde. Wahlkämpfe wurden buchstäblich zum Existenzkampf – und so wurden sie auch geführt. Ich besinne mich an bulgarische Delegationsbesuche in Deutschland, bei denen Vertreter von Regierung und Opposition vertreten waren. Beide Seiten scheuten sich nicht, sich vor den erschrockenen Gastgebern gegenseitig jedes Existenzrecht und jede Ehre abzusprechen. Schüchterne Fragen, ob es nicht besser wäre, im Ausland gemeinsam – eben auf der Basis eines Mindestmaßes von politischem Grundkonsens – die Interessen des eigenen Landes zu vertreten, stießen auf völliges Unverständnis.

Die Missverständnisse über privaten Besitz, Wettbewerb und politische Macht scheinen zählebig zu sein und haben partiell Bulgariens EU-Beitritt überlebt. Ich erschrecke, wenn ich aus dem jüngsten Kommunalwahlkampf Berichte über offenen Stimmenkauf höre, die so detailliert sind, dass sie sogar Preise nennen, oder von Geschäftsleuten, die einfach vor Ort mit ihren Lewa eigene Parteien aus dem Boden stampfen, um umstandslos Kapitalkraft in politische Macht umzumünzen. Ganz offensichtlich wird es von diesen real existierenden Verhältnissen noch ein langer Weg sein, bis Besitzende die Verpflichtung fühlen, ihren Reichtum für das Wohl des Ganzen, also im Sinne von Solidarität mit den Nicht- oder Wenigbesitzenden einzusetzen.

Was für ein Widerspruch: Die größte Attraktivität der EU besteht gerade in ihrem Prinzip und ihrer Fähigkeit, über das Solidaritätsprinzip – oder materiell ausgedrückt: über ihre Struktur- und Ausgleichfonds – wenigstens annähernd vergleichbare Lebensstandards und Zukunftschancen bei allen 27 Mitgliedstaaten herbeizuführen. Aber nicht etwa nur in Bulgarien, sondern in praktisch allen neuen EU-Mitgliedstaaten, hat sich ein politisches und soziales System der Polarisierung und des Wettlaufs um die schnellste Eigenbereicherung etabliert, das diesen Solidarprinzipien geradezu ins Gesicht schlägt. Keine Frage, solche Betrachtungen irritieren die alten EU-Mitgliedstaaten und verstärken dort die zunehmend kritischer werdende Haltung zum gesamten europäischen Integrationsprozess.

Das gilt auch und sogar noch in verstärktem Maße für mein drittes Schlüsselwort, das ich den „Siegeszug des Populismus“ nennen möchte. Soeben hatte ich meine Anerkennung für die bulgarischen politischen Eliten zum Ausdruck gebracht, die sich mit hohem Eigenrisiko zu den Notwendigkeiten von Reform und Transformation bekannten und bereit waren, den politischen Preis dafür zu bezahlen. Aber seitdem der Beitritt Bulgariens zur EU gesichert war, haben wir eine Erosion dieser Disziplin beobachten müssen. Offenbar haben sich die linken und rechten Parteien, die sich zwischen 1989 und 2005 zwar immer wieder gegenseitig ablösten, aber Verantwortung für den beschwerlichen Weg Bulgariens in die EU übernahmen, letztlich verschlissen, was das Vertrauen der Wähler angeht. In diesem Vakuum wuchern nun neue Formationen wie ATAKA und GERB. Sie übernehmen keine Führungsverantwortung, sondern lauschen auf Stimmungen. Sie instrumentalisieren die noch nicht abgeschlossene Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Der Populismus von GERB richtet sich vor allem gegen das politische Establishment, gegen „die da oben“, der Populismus von ATAKA gegen Minderheiten wie Türken und Roma. Man ist auch geneigt, zur Erklärung dieser jüngsten Entwicklung eigene Lebenserfahrungen heranzuziehen. Jeder kennt das Gefühl der Leere und Ermattung, wenn ein lange angestrebtes Ziel plötzlich erreicht scheint. Kann es sein, dass Bulgarien wie ein lebendiger Organismus gerade eine solche Phase durchmacht und dabei von einer regelrechten Immunschwäche gegen die Lockrufe des Populismus heimgesucht wird?

Wenn es so wäre, befände sich das Land in bester Gesellschaft. Denn allenthalben reiben wir uns die Augen, wenn wir unsere Blicke durch die neuen EU-Mitgliedstaaten schweifen lassen und schauen, was da nach dem großen Beitrittsereignis so alles passiert. Blitzartig hat sich die Szene der Musterschüler von gestern verwandelt. In Polen schien die inzwischen abgewählte Kaczynski-Regierung mit ihren mehr als unseriösen Koalitionspartnern geradezu lustvoll dem EU-Abstimmungsprozess Steine in den Weg zu rollen. In Ungarn sieht sich die gewählte Regierung gewaltbereiten Attacken auf der Straße durch nationalistische und sogar antisemitische Kräfte ausgesetzt, ohne dass sich die konservative demokratische Opposition eindeutig von solchen Methoden distanziert. Die großrumänische Tudor-Partei erlaubt sich, offen Ghettos für die Roma-Minderheit zu fordern. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich mühelos fortsetzen. Gerade hat in Berlin eine internationale Konferenz, die ich selber eröffnen durfte, stattgefunden, die sich diesen Phänomenen des sogenannten „Post-Beitritts-Syndroms“ in quasi allen neuen EU-Mitgliedstaaten gewidmet hat.

Aber das ist keine akademische Fragestellung, sondern hier geht es um die künftige EU-Politik, und dabei übrigens auch um fundamentale Interessen Bulgariens. Ich denke, wir stimmen darin überein, dass eine Fortsetzung der EU-Erweiterung im Interesse Bulgariens liegt – egal, ob wir dabei an Serbien, Makedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro oder Albanien denken. Die öffentliche Meinung in der EU hat sich, was die Aufrechterhaltung der europäischen Integrationsperspektive für diese Westbalkan-Länder angeht, in letzter Zeit verändert. Man spricht sogar von der sogenannten „Enlargement Fatigue“, einem neuerlichen Überdruss an der EU-Erweiterung – und das nicht zuletzt wegen des unerwarteten „Post-Beitritts-Syndroms“ und des Siegeszugs des Populismus in den neuen Mitgliedstaaten. Mit anderen Worten, wir haben es erneut mit einem krassen Gegensatz zu tun: Während die für die neuen Mitgliedstaaten so wichtige Aufrechterhaltung der Erweiterungsstrategie der EU inzwischen Führungskraft und den Mut zur Unpopularität erfordert, breitet sich in diesen neuen Mitgliedstaaten selbst exakt das Gegenteil aus, nämlich ein politischer Populismus mit einer auffallenden Permissivität gegenüber nationalistischen, ausgrenzenden und minderheitenfeindlichen Tendenzen, die sich in der Vorbeitrittsphase wegen des Assimilierungsdrucks des „acquis communautaire“ noch außerhalb der political correctness befunden hatten.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Wenn Sie mir entlang dieser drei Schlüsselbegriffe „Beschleunigung“, „Entsolidarisierung“ und „Siegeszug des Populismus“ bis hierher gefolgt sind, werden sie vielleicht denken, einen kompletten Pessimisten vor sich zu haben. Das ist aber nicht der Fall. Mich haben immer die vier Verszeilen fasziniert, die der russische Poet Fedor Tjutschew 1866 seinem Vaterland gewidmet hat. Sie lauten:

„Mit dem Verstand lässt sich Russland nicht begreifen,

mit einem normalen Maßstab nicht ausmessen,

es ist aus einem besonderen Stoff,

an Russland kann man nur glauben.“

So geht es mir mit Bulgarien. Ich glaube an Bulgarien und an seine konstruktive Rolle im künftigen Europa. Die EU braucht Bulgarien als erwachsenen Partner. Bulgarien muss sich vielleicht mit denselben Post-Beitritts-Krankheiten rumschlagen, wie es die anderen neun ost- und südosteuropäischen Staaten tun, die im Mai 2004 bzw. im Januar 2007 der EU beigetreten sind. Aber Bulgarien hat Potenziale. Zum Beispiel durch seine kluge Nachbarschaftspolitik, die es in den vergangenen Jahren mit allen seinen Nachbarländern betrieben hat und die Bulgarien zu einem Stabilitätsanker in der ansonsten immer noch instabilen Balkanregion gemacht hat. Das kann sich sehr rasch als wichtig und wertvoll erweisen, so etwa, wenn es in den nächsten Wochen nicht gelingt, doch noch eine verhandelte Lösung für das Kosovo-Status-Problem zu finden.

Die EU braucht Bulgarien als erwachsenen Partner noch in einem anderen Kontext. Ich denke an das zuletzt stark gewachsene Interesse der EU an einer regionalen Zusammenarbeit in der Schwarzmeer-Region. Längst haben wir erkannt, wie wichtig politische Stabilität in der Schwarzmeer-Region für die EU ist, einer Region mit wachsender Bedeutung als Korridor für in Europa gebrauchte Energieressourcen, als Brücke nach Russland und nach Zentralasien. Was für eine Chance für die jungen EU-Anrainerstaaten Bulgarien und Rumänien, hier die längst definierte EU-Politik der intensivierten Nachbarschaft und der sogenannten „Black Sea Synergie“ konkret mit Leben zu füllen!

Bulgarien ist materiell kein gesegnetes Land und wird noch längere Zeit profitieren von den europäischen Ausgleichs-Mechanismen. Aber Bulgarien hat genug politisches Potenzial, um sich bei den genannten strategischen Interessen der EU unentbehrlich zu machen und Anerkennung zu finden.

Diesen Weg muss Bulgarien nicht alleine finden. Wozu hat man Freunde? Hier steht nur einer vor Ihnen, aber es gibt viele davon – in der EU und in Deutschland. Sie stehen bereit, gemeinsam die Weichen richtig zu stellen. Und sie kommen dabei ohne jeden gehobenen Zeigefinger aus, sie setzen auf eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe, aber auch auf den offenen Diskurs über die Probleme und über die Steine, die man dabei immer wieder aus dem Weg räumen muss.

Hier liegt die Zukunft, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen.

Ich danke Ihnen.

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