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Vom Licht und den langen Schatten der Vergangenheit

05.06.2015 - Interview

Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier für die Zeitschrift „Die Bundeswehr“ (06/2015).

Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier für die Zeitschrift „Die Bundeswehr“ (06/2015).

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„Das Geschütz schleudert weiterhin unablässig seine Blitze in die Stadt…. Was macht das jetzt noch aus? Die Kathedrale von Reims ist bloß noch eine Wunde.“ So hielt es der französische Schriftsteller Albert Londres im September 1914 fest.

Vor gut 100 Jahren nahm deutsche Artillerie in den ersten Wochen des Ersten Weltkriegs das architektonisch und geschichtlich so herausragende Gotteshaus in der französischen Stadt unter Beschuss. Die Zerstörungen waren groß, unter anderem zerbarsten die wertvollen mittelalterlichen Glasfenster.

Bis heute hat dieser Akt der nationalistischen Raserei an der Kathedrale von Reims seine Spuren hinterlassen. Albert Londres Verzweiflung – „…bloß noch eine Wunde“ – war wie ein Ruf hinein in viele dunkle Jahre die folgten. Seine Worte hallten auch hinüber zum 11. Mai dieses Jahres, als ich in der Kathedrale von Reims das Glück erleben durfte, mit unseren französischen Freunden ein besonderes Geschenk der Versöhnung zu feiern…

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Unzählige Städte haben in beiden Weltkriegen Zerstörung, Tod und Verderben erlitten. Die menschlichen und kulturellen Verluste aus zwei Weltkriegen sind vielen Menschen noch heute schmerzlich bewusst.

Und doch dürfen wir auch immer wieder dankbar feststellen, dass der lange Schatten der Geschichte nicht unendlich reicht. Wunden können vernarben und Narben nach und nach verblassen. Der erste Schritt dorthin ist es, Schuld klar zu benennen und Verantwortung zu übernehmen. Um von dort aber zu Versöhnung zu gelangen, brauchte es auch den Großmut unserer früheren Gegner: Sie haben uns die Hand gereicht mit der Aufforderung, gemeinsam ein besseres Europa zu gestalten. Seitdem erleben wir eine einmalige Zeit des Friedens und der Prosperität. Die Großzügigkeit, die am Anfang dieses Wunders der Wiedergeburt aus Ruinen stand, sollten wir bei all den aktuellen Diskussionen über die Zukunft Europas nicht vergessen.

Es gibt keinen moralischen Schlussstrich unter das letzte Jahrhundert. Selbst mit Blick auf Frankreich hat die Vergangenheit mitunter noch einen kalten, schneidenden Atem. Den Gefahren solcher Kälte und Entzweiung begegnen wir heute aber, indem wir uns noch dichter zusammenstellen.

Das haben wir 2014 erlebt, dem 100. Jahr nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Unsere internationalen Partner haben das Gedenkjahr zu einem engen Austausch mit uns darüber genutzt, wie aus dem Gedenken Versöhnung und Verantwortung für die Zukunft erwächst.

Mit Historikern, Publizisten und Politikern, darunter auch mein französischer Amtskollegen Laurent Fabius, habe ich im letzten Jahr viel diskutiert über das Versagen der Diplomatie 1914. Die wichtigste Antwort, die wir gefunden haben, lautet: Damals wurde der Krieg nicht genügend gefürchtet. Darum konnte es geschehen, dass Regierungen und Diplomaten am Ende einer rein militärischen Logik folgten. Man hatte es versäumt, Instrumente einer verantwortlichen Diplomatie zu entwickeln. Statt auf die Stärke des Rechts wurde auf das das Recht des Stärkeren gesetzt.

Wie wichtig es ist, sich heute diese Erfahrung zu vergegenwärtigen, zeigt die Krise in der Ukraine. Wir können es nicht zulassen, dass ein Bruch des Völkerrechts, wie ihn die russische Annexion der Krim darstellt, hingenommen wird. Denn dieser Schritt stellte die Grundlagen der europäischen Friedensordnung in Frage. Zugleich kann die Reaktion keine militärische sein, denn die Folgen eines Kriegs wären unabsehbar. Die Antwort – in all ihrer Entschlossenheit – kann sich nur politischer und diplomatischer Mittel bedienen. Sanktionen, Verhandlungen, vertrauensbildende Maßnahmen müssen mit allergrößter Beharrlichkeit eingesetzt und umgesetzt werden.

Und während die Krise in der Ukraine im vergangenen Frühjahr ihre Wucht entfaltete, als wir intensiv über den Ersten Weltkrieg nachdachten, finden die Anstrengungen um ihre friedliche Lösung in diesem Frühjahr vor dem Hintergrund des internationalen Gedenkens an den 70. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager und an das Ende des Zweiten Weltkriegs statt.

Richard von Weizsäcker sprach vor dreißig Jahren vom 8. Mai 1945 als dem Tag der Befreiung. Aber befreit wurde Deutschland nicht nur von etwas, sondern auch zu etwas: nämlich dazu, international Verantwortung für eine Ordnung zu übernehmen, die sich an friedlicher Entwicklung, an Menschenrechten und Versöhnung orientiert.

Am 07. Mai bin ich auch mit diesem Gedanken nach Wolgograd gereist, um die Opfer des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit den Bürgern der Stadt und mit dem russischen Außenminister Lawrow zu ehren. Denn gerade weil die politischen Beziehungen zu Russland derzeit so belastet sind, dürfen wir uns von der gemeinsamen Erinnerung an das Leid, das Deutschland dort verursacht hat, nicht abwenden. Wenn wir die Schatten der Vergangenheit zwischen uns treten lassen, mangelt es allzu rasch auch in der Gegenwart an dem Licht, um eine ausgestreckte Hand erkennen zu können.

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Zurück zur Kathedrale von Reims: Dort habe ich vor kurzem besonders eindrücklich erlebt, welche verbindende Kraft aus dem Willen wächst, gemeinsam die Zukunft zu wollen. Der Düsseldorfer Künstler Imi Knöbel hatte vor einigen Jahren die Initiative ergriffen, um die letzten nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs noch notverglasten Fenster im Chor der Kathedrale durch würdige Neuentwürfe zu ersetzen. Daraus entstand das Projekt, der Kathedrale von Reims diese Fenster gemeinsam durch den Künstler, das Auswärtige Amt und die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen zu schenken.

Als ich bei der Übergabezeremonie in der Kathedrale mit Frankreichs Außenminister Laurent Fabius die großen leuchtenden Fenster bewunderte, strahlten ihre Farben weder schwarz-rot-gold noch blau-weiß-rot. Vielmehr sind daraus viele neue, gemeinsame Farben geworden. Die deutsch-französische Freundschaft erschöpft sich nicht im Geben und Nehmen, im Suchen nach dem schieren Ausgleich. Sie hat die Kraft, aus den Unterschieden etwas Eigenes, Gemeinsames zu formen. Das ist die Kraft der Versöhnung, die im Herzen Europas steht.

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