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Festvortrag von Bundesaußenminister Frank–Walter Steinmeier „Calvinismus und Europa“

10.07.2009 - Rede

500 Jahre Calvin – Festakt der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Reformierten Bundes am 10.07.09, Berlin

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender, lieber Bischof Huber,
sehr geehrter Herr Pfarrer Bukowski,
meine Damen und Herren,
und vor allem:
liebe reformierte Freundinnen und Freunde!

Jeder weiß, welche Bedeutung der Laie im Calvinismus hat. Auch und gerade in meiner Heimat Ostwestfalen-Lippe, wo das Reformierte ja eher volkskirchlich daherkommt. Aber es ist schon Ausdruck reformierten Wagemuts, wenn einem Laien und Nichttheologen wie mir die Würdigung Johannes Calvins anvertraut wird. Ich danke meinem Gemeindepfarrer Bernd Krebs und meinem langjährigen Freund und Weggefährten Rudolf von Thadden, für die Gespräche, die wir in den letzten Monaten geführt haben. Sie haben mich in die Lage versetzt, festen Muts vor Sie zu treten. Nicht als Experte, aber überzeugt davon, dass Johannes Calvin und Europa nicht nur eine Vergangenheits-, sondern auch eine Zukunftsgeschichte ist.

Und: Welcher Ort wäre besser geeignet, an Johannes Calvin und seine bleibende Bedeutung zu erinnern als die Französische Friedrichstadtkirche?

Diese Kirche wurde von Flüchtlingen gebaut, die zu selbstbewussten Bürgern geworden sind. Sie steht für die Kraft des Glaubens – und den Glauben daran, dass neuer Anfang möglich ist. Wenn man gemeinsam handelt und Solidarität mit den Schwächeren übt!

In gemeinsamer Arbeit errichteten die Gemeindeglieder zwischen 1701 und 1705 diese Kirche. Wie zuvor schon ein Krankenhaus und Altersheim für die Armen: das „Französische Hospital“. Glaube und gelebte Solidarität gehörten untrennbar zusammen. Das ist gute reformierte Tradition. Ich komme darauf zurück.

Als Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg 1685 mit dem Edikt von Potsdam den aus Frankreich vertriebenen Anhängern Calvins sein Land öffnete, schlug er ein neues Kapitel in der Geschichte seines Landes auf. Zigtausende kamen. Als die Französische Friedrichstadtkirche im Jahr 1705 ihrer Bestimmung übergeben wurde, war fast jeder fünfte Berliner ein „réfugié“.

Die Flüchtlinge und Asylanten prägten dieses Land. Sie gaben Handel und Handwerk neue Impulse. Sie befruchteten Kultur und Wissenschaft. Sie wirkten in höchsten Ämtern bei Hofe und im Militär. Sie waren Brückenbauer zur französischen Geisteswelt. Was wäre die Geschichte Preußens, die Geschichte Deutschlands ohne Namen

wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, Friedrich de la Motte Fouqué, Peter Joseph Lenné, Philipp Reclam oder Theodor Fontane? Und selbst die kirchliche Diakonie, wie sie sich im
19. Jahrhundert in ganz Deutschland entwickelte, verdankt der vorbildlichen Armenfürsorge der reformierten Gemeinden wichtige Anstöße.

Der Flüchtling als Impulsgeber, Modernisierer, Übersetzer und Brückenbauer – dieses Motiv findet sich nicht erst bei den Hugenotten in Berlin. Es ist schon im Leben von Johannes Calvin selbst ein prägendes Element. Selten dürfte es in der Weltgeschichte einen Flüchtling gegeben haben, der die Stadt seiner Wahl - und nicht nur sie - so tiefgreifend verändert hat wie Johannes Calvin.

Calvin hatte seine Heimatstadt Noyon verlassen, er hatte Frankreich verlassen, verlassen müssen. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er im Exil. Als Flüchtling, als Exilant, als Wanderer zwischen den Welten hat Calvin der Reformation entscheidende Impulse verliehen – im Bereich der Lehre ebenso wie bei der Kirchenorganisation.

Er knüpfte an das an, was die Reformatoren der „ersten Generation“ - Martin Luther, Huldrych Zwingli oder Martin Bucer – begonnen haben. Aber er gab dem reformatorischen Denken einen zweiten Atem. Er übersetzte es in den französischen Sprachraum. Und er sorgte dafür, dass die Genfer Form der Reformation auch im angelsächsischen Raum tiefe Wurzeln schlug.

Ohne Calvin wäre die Reformation möglicherweise auf den mitteldeutschen Raum, auf das Baltikum und auf Teile Skandinaviens sowie auf einige Städte wie Straßburg, Basel oder Bern beschränkt geblieben. Mit Calvin aber greift der reformatorische Impuls auf ganz Europa aus.

Von Genf aus knüpft Calvin Verbindungen zu vielen europäischen Fürsten und Gelehrten. Im Westen öffnen sich große Teile der französischen Gesellschaft seiner Lehre. Er gewinnt Holland und Schottland für die Genfer Reformation. Im östlichen Teil Europas sind Ungarn und große Teile Polens sein erfolgreichstes Wirkungsgebiet.

Ohne Übertreibung kann man sagen: Calvin hat die Reformation zu einer gesamteuropäischen Bewegung gemacht. Die Auseinandersetzung zwischen reformierten Gemeinden und katholischer Gegenreformation wird bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zum bestimmenden europäischen Grundkonflikt.

Was ist das Rezept für diesen ungeheuren Erfolg? Woher bezieht der Calvinismus seine prägende Kraft?

Wieder stoßen wir auf den Flüchtling, den Dissenter, den Laien, die kleine, aber glaubensstarke Minderheit. Die Kraft des Calvinismus ist die Kraft von unten! Mit ihm wird die Selbstorganisation der Gemeinde – wohlgemerkt: noch nicht die Demokratie! - zu einer geschichtlich bestimmenden Macht.

Fast überall bilden Flüchtlings-, Untergrunds- und Minderheitskirchen den institutionellen und geistlichen Kern des Calvinismus. Heute würde man, modern, von einem Basis-Netzwerk sprechen.

Selbst da, wo sich einzelne Fürstenhäuser den Lehren Calvins anschlossen, blieben deren Einfluss und Ausstrahlung begrenzt.

Nicht Macht und etablierte Strukturen, sondern Verfolgung und Ausgrenzung bestimmten das Leben der Gemeindeglieder. Das prägte ihren Glauben. Das verlieh den Kirchenordnungen die besondere Ausprägung. Während im Luthertum die Durchführung der Reformation eher in die Hände der Territorialfürsten gelegt worden war, entwickelte sich im Calvinismus ein System der Kirchenleitung von unten. Das gab den Gemeinden eine Anpassungsfähigkeit, die sich vor allem unter Verfolgung herausgebildet und bewährt hat.

Und auch theologisch setzte der Calvinismus eher auf offene Netzwerke und Pluralität oder konnte es gar nicht anders tun! Es zählt zu den Merkmalen des reformierten Protestantismus, dass er über kein gemeinsames, alle Kirchen normierendes Bekenntnis verfügt. Selbst die als „typisch reformiert“ angesehene Lehre von der sogenannten „doppelten Prädestination“ spielt in vielen reformierten Kirchen keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Obwohl bekennender Reformierter, ist sie nach meiner Laienauffassung häufig zu unhistorisch, das heißt zu wenig aus der Entstehungszeit heraus interpretiert: Der Situation einer unter Verfolgungsdruck stehenden Gemeinde, die Trost und Grund für Zuversicht brauchte. Dafür werden Sie mich gleich rügen!

Die Kraft des Calvinismus, die Kraft gemeindlicher Selbstorganisation, veränderte Reichsverfassung und Rechtsdenken. Im Westfälischen Frieden von 1648 erhielten schließlich auch die Reformierten die reichsrechtliche Anerkennung. Ein Zurück zur Herrschaft einer Konfession sollte es danach im abendländischen Europa nicht wieder geben. 1625 hatte der niederländische reformierte Jurist und Völkerrechtler Hugo Grotius geschrieben: das Recht müsse gelten, selbst „wenn es keinen Gott gäbe“. Der Begründer des modernen Völkerrechts formulierte die für die Zeit revolutionäre Formel, dass das Völkerrecht - und später auch das innerstaatliche Recht - nicht theologisch, sondern nur auf der Grundlage von Vernunftgründen entwickelt werden kann.

Mit dem Westfälischen Frieden war der Grundstein gelegt für die Trennung von Religion und Staat, für eine europäische Kultur der Akzeptanz. Oder um es mit Worten des Berliner Historikers Heinz Schilling auszudrücken: „Auch wenn die gekrönten Häupter sich weiterhin als Christliche oder Allerchristlichste verstanden, lösten sich Europa und Christenheit voneinander, bis die Aufklärung den Zusammenhang dann auch grundsätzlich in Frage stellte.“

So wurde der Calvinismus zum Wegbereiter der Moderne. Er trug – gemeinsam mit dem Luthertum - dazu bei, die Monopolstellung der römisch-katholischen Konfession zu brechen. Es entwickelte sich auf unserem Kontinent ein System religiöser und weltanschaulicher Pluralität.

Europa ist heute durch eine Vielfalt der Kulturen, Lebensformen und Traditionen bestimmt. Jeder Versuch, zu einer – wie auch immer gearteten – Uniformität zurückkehren zu wollen, wäre zum Scheitern verurteilt.

Mit seiner versöhnten Verschiedenheit ist Europa ein Vorbild für viele andere Weltregionen geworden. Sie schauen auf uns. Und deshalb tragen wir, weit über unseren Kontinent hinaus, Verantwortung dafür, dass die europäische Integration, als Einheit in Vielfalt, weiter gehen kann.

So wichtig es ist, auf die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die Herausbildung des Toleranzgedankens hinzuweisen - wir alle haben Stefan Zweigs Buch „Castellio gegen Calvin“ und die darin literarisch aufgearbeiteten historischen Vorgänge in schmerzhafter Erinnerung.

Die Hinrichtung des spanischen Arztes Michael Servet bleibt ein dunkler Schatten auf der Vita Calvins. Ein Schatten, den gerade wir nicht verschweigen oder übergehen sollten. Der junge Calvin hatte sich noch entschieden gegen die Anwendung staatlicher Gewalt gegen Lehrabweichungen gewandt. Selbst in Verantwortung, ändert er seine Position. Und was immer man da an Gründen vorbringen mag – überzeugend sind sie für mich nie gewesen!

Unsere Sympathie gehört seinem Widersacher Sebastian Castellio, der Calvin das unsterbliche Wort entgegen schleuderte: „Einen Menschen verbrennen heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten.“

Die Gewissensfreiheit ist heute verfassungsmäßig garantiert. Und der Calvinismus hat zu dieser Entwicklung erheblich beigetragen – musste sich in diesem Prozess allerdings erheblich von seinem Gründungsvater emanzipieren.

Calvin war ein Türöffner, in manchem auch ein Mann des Übergangs. Er hat Wege gewiesen, die er selbst nicht mehr gegangen ist. Spätere Generationen haben seine Impulse aufgenommen. Sie haben sie weiterentwickelt und so unsere Gesellschaft entscheidend geprägt. Das gilt ganz besonders auch für das Verhältnis von Religion, Politik und Wirtschaft und die Bedeutung des Calvinismus für die Herausbildung der modernen Demokratie. Auf beide Fragen will ich etwas ausführlicher eingehen.

Sie alle kennen die berühmte These

Max Webers vom Calvinismus als Geburtshelfer des modernen Kapitalismus.

Die Belege für diese These findet Max Weber allerdings nicht bei Calvin selbst. Dass man sich um wirtschaftlichen Erfolg bemühen solle, in der Hoffnung, so den Beweis für die eigene Erwählung zu erhalten, hat Calvin nie gesagt und geschrieben.

Richtig ist, dass Calvin – wie schon vor ihm Martin Luther – dem weltlichen Beruf eine hohe Bedeutung beigemessen hat. Aber er forderte strikte Selbstdisziplin im Umgang mit Besitz. Besitz zu haben, sei ein „Privileg“, schrieb Calvin. Aus ihm ergebe sich eine soziale Verpflichtung. In seinen eigenen Worten: „Auch wenn wir nach menschlicher Weise sagen können: Das gehört mir! sollen wir auf Gott schauen, der uns in diese privilegierte Situation gesetzt hat“, schrieb er. Alles, was wir erhalten, „soll nicht in unseren Händen bleiben. Es muss verteilt werden – gemäß unseren Möglichkeiten wie gemäß der Not der Nächsten“.

Calvin hat damit einen Grundsatz formuliert, der heute Teil unserer Verfassungsordnung ist und gerade in diesen Tagen Konjunktur hat: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“.

Anders als Luther hat Calvin allerdings das Zinsnehmen nicht gänzlich abgelehnt. Calvin war Realist. Ohne eine funktionierende Geldwirtschaft hätte Genf sich wirtschaftlich nicht entwickeln können. Die Stadt war voller französischer Flüchtlinge. Sie zu befähigen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, war von eminenter Bedeutung für den sozialen Frieden.

Deshalb befürwortete Calvin die Vergabe von Kleinkrediten. Die Kredite aber sollten nur niedrig verzinst werden. Von den Armen dürfe man keine Zinsen fordern. Wenn jemand in eine Notlage geraten sei, müssten die Zinszahlungen ausgesetzt werden.

Hier beginnt eine theologische und ethische Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Geldwesens, die in ihren konkreten Aussagen natürlich überholt ist, die angesichts der jüngsten Exzesse im Banken- und Finanzsektor allerdings aktueller ist denn je. Wie sich Finanz- und Realwirtschaft zueinander verhalten, steht heute wieder neu auf der Tagesordnung. Und auch die Grundfrage, ob die Wirtschaft dem Menschen dient oder umgekehrt, stellt sich mit neuer Dringlichkeit.

Der Kirchenhistoriker Karl Holl, ein Zeitgenosse Max Webers, kommt deshalb zu einem ganz anderen Urteil über Calvin und den Calvinismus. Holl schreibt: Es hat keine Kirche gegeben, die so ernsthaft wie die calvinische bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts der Bergpredigt Jesu nachzuleben versuchte, keine, die unbarmherzigen Wettbewerb ohne Verantwortung und Vernunft nachdrücklich bekämpfte.

Erst später wurde der Calvinismus, so Karl Holl weiter, in England und Amerika auf geradezu tragische Weise „zum vornehmsten Träger des kapitalistischen Strebens“. Calvinsches Berufsethos, praktische Rationalität und Unternehmergeist verbanden sich zu jener Haltung, in der Max Weber den „Geist des Kapitalismus“ sah.

Aber der kritische Geist war nicht tot. Die kapitalismuskritischen Impulse des frühen Calvinismus wurden im Religiösen Sozialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen. Sein Zentrum lag damals in der Schweiz. Zu den Wortführern zählten Hermann Kutter, Leonhard Ragaz und der junge Karl Barth.

Ähnlich kompliziert ist die Wirkungsgeschichte Calvins bei der Herausbildung der modernen Demokratie.

Mit der Durchsetzung der vier Ämter – des Pfarrers, des Lektors, des Diakons und des Presbyter – hatte Calvin ein klug austariertes System der Leitung für die Genfer Kirche geschaffen. Die Verantwortung für die Gemeinde wurde auf verschiedene Personen verteilt. Keiner der Beauftragten stand über dem anderen. Die Verantwortung für das Ganze trugen alle gemeinsam.

Man hat das Genfer Modell oft als einen Ausgangspunkt der westlichen Demokratie bezeichnet. Insoweit ihm das Prinzip der Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle zu Grunde liegt, wird man das - mit Abstrichen – sagen können. Im übrigen geht mir die demokratietheoretische Deutung einzelner Autoren deutlich zu weit! Auch weil Calvins Grundhaltung - zeitgeschichtlich verständlich in eine noch deutlich andere Richtung weist! Was sie zeigt, ist ein zutiefst skeptischer Zug in Calvins Menschenbild. In seinem Hauptwerk, der „Institutio“, schreibt Calvin: Die Unvollkommenheit des Menschen bringe es mit sich, „dass es sicherer und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, so dass sie sich gegenseitig beistehen, belehren und ermahnen. Denn wenn sich einer über Gebühr erheben sollte, sind mehrere Aufseher und Meister da, um seine Willkür im Zaum zu halten“.

Calvins skeptische Haltung war gewiss auch von den Nachrichten bestimmt, die er aus Frankreich erhielt. Sie brachten ihn zu der Überzeugung, dass es geboten sein könne, tyrannischen Herrschern mit Gewalt Einhalt zu gebieten. Dieses Recht aber billigte Calvin nicht dem Volk zu. Erst spätere Generationen haben hier wirklich neue Wege beschritten und breiten Schichten der Bevölkerung die Teilhabe an der Ausübung der politischen Macht ermöglicht.

Es ist für unsere heutige Besinnung auf Calvin und seine Wirkungsgeschichte notwendig, dass wir uns in Erinnerung rufen: Europa hat die Überwindung der feudalen Traditionen nicht allein geschafft. Erst auf dem Umweg über die „neue Welt“ jenseits des Atlantiks, in die Tausende der in Europa Bedrängten und Verfolgten ausgewandert waren, setzte sich die Demokratie als Staats – und Gesellschaftsform auch bei uns in Europa auf breiter Front durch.

Calvin ist sicher nicht der Vater moderner Demokratie – aber ohne ihn sähe die Geschichte der Demokratie anders aus.

„Calvin und Europa“, so lautet das Thema. Und ich habe versucht, deutlich zu machen, welch große Fußspuren Calvin in Europa hinterlassen hat.

Er hat die Reformation zu einer europäischen Bewegung gemacht. Er hat die selbstorganisierte Gemeinde als dynamisches Prinzip in die europäische Geschichte eingeführt. Er hat damit wichtige Grundlagen für die Entwicklung der Demokratie gelegt. Und er hat den Grundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums formuliert. Sein Kampf in Genf war immer auch ein Kampf für Solidarität mit den Armen und den Flüchtlingen in der Stadt.

Ist damit seine Mission heute erfüllt? Können wir, 500 Jahre später, sagen: Vielen Dank, Johannes Calvin, im Großen und Ganzen können wir stolz auf uns sein?

Ich glaube, wenn Calvin heute käme, würde er sagen: Schluss mit der Selbstzufriedenheit und dem falschen Stolz! Schaut über eure Grenzen hinaus! Kümmert euch um die Flüchtlinge aus aller Welt! Sorgt dafür, dass euer Haus in Ordnung kommt! Geht gegen Ungerechtigkeit vor! Seid ein Vorbild! Und vor allem: Macht euch verständlich in der Welt! Übersetzt, baut Brücken! Denkt daran, dass die Freiheitsgeschichte Gottes nicht zu Ende ist!

Die evangelische Kirche hat vor wenigen Tagen ein Wort zur globalen Finanzkrise veröffentlicht. Sie ruft darin zu einer Umkehr auf, einem tiefgreifenden Wandel des Denkens und Handelns. Sie fordert eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft.

Und genau darum geht es in den nächsten Jahren!

Wird es uns gelingen, die Macht der Gewohnheit, aber auch die Macht etablierter Interessen zu überwinden, um zu einem wirklichen Neuanfang zu kommen? Oder triumphieren die, die schon wieder von der nächsten Runde im Casino träumen. Nach dem Motto: „Krise? War da was?“

Wird es uns gelingen, die einseitige Orientierung an Kapitalinteressen und schnellen Renditen zu überwinden?

Kommen wir zu einer robusten Regulierung der Weltfinanzmärkte und wirksamen Haftungsregeln für die Verantwortlichen?

Wer glaubt, ich zitiere hier aus dem SPD-Wahlprogramm, der irrt. Diese Fragen stellt die EKD an die Politik!

Und sie warnt vor der Gefahr, „in Denkmuster zurückzufallen, in denen wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung als Gegensätze begriffen wurden.“ Ende des Zitats.

Oder wie Sie es, lieber Bischof Huber, vor wenigen Tagen so schön gesagt haben: „Es geht um das ethische Fundament, das die Mauer trägt, um den Mörtel des Vertrauens, der die Steine zusammenhält.“

Ich bin als Außenminister in den letzten Jahren viel herumgekommen. Und ich sage Ihnen: Überall in der Welt schaut man auf uns. Ob das in Lateinamerika ist, in Asien oder in Afrika. Überall schaut man auf uns mit Hoffnung. Mit der Erwartung, dass es uns gelingt, Wohlstand, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu einer neuen Synthese zu bringen. Europa ist sicher nicht mehr der Nabel der Welt. Aber es könnte noch einmal Pionier und Wegbereiter einer besseren Welt sein.

Aber das wird nur gelingen, wenn wir in den nächsten Jahren anspruchsvoll sind. Wenn wir ernsthaft nach neuen Wegen suchen. Wenn wir die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft nicht nur in Sonntagsreden fordern, sondern engagiert durchsetzen.

„Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, so hieß Max Webers Werk. Warum schreiben wir nicht gemeinsam eine Fortsetzung dazu? Der Titel: „Die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft aus reformatorischem Geist“.

Und alle dürfen mitschreiben an diesem Werk. Die Katholiken, die in der jüngsten Enzyklika ganz ähnliche Wege gehen. Aber auch Juden, Moslems, wer immer guten Willens ist.

Ich bin mir sicher, Calvins Segen haben wir dafür!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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