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Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth anlässlich der Veranstaltung „Der ‚Generalplan Ost‘ der Nationalsozialisten –Vernichtung – Vertreibung – Besiedelung“

28.09.2017 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir kommen heute im Auswärtigen Amt zusammen, um einem Mann zu danken, der mit Zivil-Courage, unbeugsamer Haltung und einem klaren moralischen Kompass vor fast 50 Jahren den Finger in eine Wunde unserer deutschen Nachkriegsgeschichte gelegt hat: Reinhard Strecker. Ihm zu Ehren sind wir hier. Herzlich willkommen!

Reinhard Strecker organisierte zwischen 1959 und 1962 mit anderen Studierenden im Auftrag des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds die Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“. Diese Ausstellung rückte die Pervertierung des Rechts im Nazi-Staat in den Vordergrund. Sie konfrontierte die Öffentlichkeit mit einer Kontinuität der Schande: Etliche amtierende Richter und Staatsanwälte waren bereits während des Nazi-Regimes im Amt.

Damals, im Jahr 1960, nur 15 Jahre nach Kriegsende, war dies noch ein Tabubruch. Sie, lieber Herr Strecker, haben sich damals klar gegen den Strom der Zeit gestellt. Das muss sehr schwer gewesen sein und war nur gegen viel Widerstand möglich – aber Sie waren überzeugt von der Richtigkeit Ihres Handelns und haben sich nicht entmutigen lassen.

Damit haben Sie Mut und Zivilcourage bewiesen. Denn eigentlich wäre es eine Aufgabe der Nachkriegsjustiz gewesen, die Schuld und Verantwortung für den Nazi-Terror in den eigenen Reihen sichtbar zu machen, zu ermitteln und Anklage zu erheben. Aber das Klima der frühen Bundesrepublik – für uns heute schwer vorstellbar – war geprägt von Euphorie über das Wirtschaftswunder, dem süßen Gift der Vergesslichkeit, Pragmatismus und wenig Sensibilität gegenüber Opfern des Nationalsozialismus. Viel zu viele wollten die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur einfach nur verdrängen.

Unter den Juristen, gegen deren Verbleib im Amt Sie, sehr geehrter Herr Strecker, protestierten, war auch ein Mann namens Konrad Meyer. Er zählte zu den Protagonisten der Idee des sogenannten „Generalplans Ost“.

Dieser Konrad Meyer wurde 1956 Professor und Institutsdirektor an der Technischen Hochschule Hannover. Bis zu seinem regulären Ausscheiden 1968 hatte er eine Professur für Landesplanung und Raumforschung inne. Zwar verurteilten ihn die alliierten Gerichte im Jahr 1948 wegen seiner Mitgliedschaft in der SS. Aber er wurde rasch wieder frei gelassen und konnte seine Karriere ungehindert fortsetzen.

Was war seine Rolle? Was hatte er getan? Im Juni 1942 übersandte Konrad Meyer, damals Agrarwissenschaftler in Berlin, dem Reichsführer SS Heinrich Himmler eine Denkschrift, die unter dem Namen „Generalplan Ost“ bekannt geworden ist.

Diese auf den ersten Blick nüchterne Bezeichnung steht für den Größenwahn der Nationalsozialisten, den europäischen Osten in ihrem perversen Sinn neu zu ordnen. Sie steht für ein barbarisches Herrenmenschendenken und schließlich für die Ungeheuerlichkeit nationalsozialistischer Verbrechen.

Der „Generalplan Ost“ war Grundlage der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in Mittel- und Osteuropa. Er sah vor, dass dieser Raum hauptsächlich von Deutschen und Volksdeutschen – als der sogenannten „überlegenen Rasse“ – besiedelt werden sollte. Die Menschen, die in diesen Gebieten lebten, in erster Linie Slawen, Balten und Juden, sollten hingegen vertrieben und oftmals ermordet werden. Über 45 Millionen Menschen waren betroffen, darunter etwa sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens. Lebensraum sollte, so die perfide menschenverachtende Logik der Nationalsozialisten, durch die Vernichtung von Leben geschaffen werden - durch Verhungern, durch Erschießen, durch Vergasen.

Zur Umsetzung dieser Pläne machte Himmler eben jenen Agrarwissenschaftler Konrad Meyer 1939 zum Chef der Hauptabteilung „Planung und Boden“ im Reichskommissariat. Sie sollte ab 1942 den „Generalplan Ost“ umsetzen.

Ihr damaliges Handeln, lieber Herr Strecker, ist uns auch Richtschnur für die Bewährungsproben von heute. Denn von mutigen Menschen wie Ihnen lebt eine Demokratie. Demokratie ist auf eine wachsame und wehrhafte Zivilgesellschaft zwingend angewiesen. Einmischen statt Wegschauen, Flagge zeigen statt Wegducken, das brauchen wir. Nicht von Wenigen, sondern von Vielen. Damals wie heute. Abermals breiten sich nationalistische und populistische Strömungen in Deutschland und ganz Europa aus.

Wenn Politikerinnen und Politiker im Jahr 2017 wieder vom „Völkischen“, von „Mischvölkern“ und von der „Tapferkeit deutscher Soldaten“ im Zweiten Weltkrieg sprechen, wenn sie eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern, dann dürfen wir nicht schweigen. Hier sind wir alle gefordert.

Lassen Sie unsere Stimme gegen jegliche Form von Rassismus, Diskriminierung und Demokratieverachtung erheben.

Immer wieder müssen wir aufs Neue zeigen: Wir haben aus unserer wechselhaften Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen gelernt. Heute bekennt sich Deutschland ohne Einschränkung zu seiner politischen und moralischen Verantwortung für diese schrecklichen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Unsere Antwort darauf ist Europa. Nur in einem friedlichen und vereinten Europa werden unsere gemeinsamen Werte gesichert.

Ihr Lebensweg, sehr geehrter Herr Strecker, lehrt uns aber auch: Es braucht lange, bis eine Gesellschaft bereit ist, sich einer umfassenden, auch schmerzhaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu stellen. Ich wünsche mir, dass sich viele Menschen an Ihnen ein Beispiel nehmen. Dafür ist man niemals zu alt. Dafür ist es nie zu spät.

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